Die Krim nach dem Zerfall der Sowjetunion: Aufstieg und Niedergang der prorussischen Bewegung (1991–1995). Zur Vorgeschichte der Krim-Krise

Von Jan Zofka (Leipzig)

Zusammenfassung
Im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion entstand auf der Krim eine prorussische Bewegung. Deren Mobilisierung kulminierte im Wahlsieg des Wahlbündnisses »Block Russland« bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1994. Aufgrund ihrer internen Schwäche und einer nur begrenzten Unterstützung aus Moskau zerfiel die prorussische Bewegung aber kurz nach ihrer Machtübernahme weitgehend wieder. Nicht nur, weil einige Überreste von Organisationen und institutionelle Kontinuitäten bis in die heutige Zeit reichen, kann bei der Analyse der jetzigen Geschehnisse ein Blick zurück hilfreich sein. Damals waren die Konfliktlinien fragmentiert, und die Akteure vor Ort spielten eine bedeutende Rolle; auch diese zentralen Erkenntnisse können womöglich zu einer Differenzierung der Debatte über die aktuelle Situation beitragen.

Krim – der Blick zurück

So überraschend die blitzartige Besetzung der Krim durch Soldaten Russlands und die Regierungsübernahme durch prorussische Nationalisten im Februar 2014 auch gekommen sein mag – sie hat eine Vorgeschichte, die zwei Jahrzehnte zurückliegt. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine im August 1991 wandten sich viele Bewohner der Krim gegen die Zugehörigkeit der Halbinsel zu dem neuen Staat. Aktivisten gründeten autonomistische, prorussische oder separatistische Organisationen, hielten Kundgebungen ab und organisierten Unterschriftensammlungen. Im Frühjahr 1994 gewann das Wahlbündnis »Block Russland« mit großer Mehrheit die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf der Krim. In den Monaten nach der Machtübernahme auf der Halbinsel zerstritten sich die prorussischen Organisationen und Politiker aber so sehr, dass die ukrainische Regierung als Schlichter agieren und den Bestrebungen einer Annäherung an Russland die Spitze nehmen konnte. Über den Zerfall von 1995 hinaus blieben aber einige organisatorische Überreste der Bewegung und eine weit verbreitete (oft diffus-kulturelle) Russland-Orientierung erhalten.

Die Autonomie der Krim

Die Diskussion um den Status der Krim hatte bereits vor dem Zerfall der Sowjetunion begonnen. Die Reformen der Perestrojka hatten den überkommenen Modus der Machtverteilung in Frage gestellt und damit eine »Parade der Souveränitäten« ausgelöst. In vielen Verwaltungseinheiten versuchten die regionalen Eliten die Machtverteilung zu ihren Gunsten zu verändern und den Status »ihres« Gebiets zu verbessern. Diese gesamtsowjetische Entwicklung führte auf der Krim zu einem Autonomiereferendum. Über 90 % der Wählerinnen und Wähler stimmten im Januar 1991 für den neuen Status der Halbinsel. Im Laufe desselben Jahres wurde die Ukraine zum unabhängigen Staat. Bei dem ukraineweiten Referendum im Dezember stimmten auch auf der Krim 54 % der Wähler für die Unabhängigkeit. Der Autonomiestatus der Halbinsel, mit den zugehörigen Institutionen eines Parlaments und einer Regierung, blieb erhalten. Die Institutionen der Autonomie spielten auch bei der aktuellen Übernahme der Krim durch Russland eine wichtige Rolle: Das (von Bewaffneten besetzte) Parlament der Autonomen Republik ernannte im Februar 2014 den russischen Nationalisten Sergej Aksjonow zum Regierungschef der Krim, setzte im März ein Referendum über den Status der Krim an, und beschloss dann gleich selbst den Beitritt zur Russischen Föderation.

Die prorussische Bewegung 1991–1995

Zwanzig Jahre zuvor hatten schon einmal russische Nationalisten die Institutionen der Autonomie erobern können. Der »Block Russland« gewann die Parlamentswahl 1994 und sein Kandidat Jurij Meschkow errang mit deutlichen 72,9 % der Stimmen das Amt des Präsidenten der Krim. Unmittelbar danach begann aber ein hartes Ringen um Kompetenzen zwischen dem prorussisch dominierten Parlament und dem prorussischen Präsidenten der autonomen Republik. Wurde anfangs um Kompetenzen gerungen, sprachen sich die Vertreter beider Institutionen bald gegenseitig die Legitimität ab. Da die sich bekriegenden Fraktionen um Hilfe beim neugewählten (vergleichsweise Russland-orientierten) Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, nachsuchten, hatte dieser die Chance als lachender Dritter ein Machtwort zu sprechen. Per Dekret erklärte Kutschma im März 1995 das Parlament für aufgelöst und das Präsidentenamt auf der Krim für abgeschafft.

Die Auseinandersetzungen in der prorussischen Bewegung kamen nicht gänzlich aus heiterem Himmel: Die Bewegung hatte sich zuvor mehrfach gespalten und im »Block Russland« hatten die rivalisierenden Fraktionen nur zusammengefunden, um die Wahlen gewinnen zu können. Die Fragilität resultierte nicht zuletzt daraus, dass die Bewegung relativ arm an Ressourcen war, da die mächtigen alten Eliten aus Wirtschaft und der Kommunistischen Partei zum großen Teil vorsichtig auf Distanz geblieben waren. Den Kern der Aktivisten machten Akademiker, Kleinunternehmer und Veteranen des Afghanistankrieges aus, die sich in den sozialen Bewegungen der Perestroika politisiert hatten. Sie waren in den späten 1980er Jahren beispielsweise in der geschichtspolitischen, antistalinistischen Organisation Memorial, in der Umweltbewegung »Ökologie und Frieden« oder in einer der demokratisch-autonomistischen Gruppierungen der Krim aktiv gewesen, bevor sich ein Teil von ihnen 1991 in der »Republikanischen Bewegung der Krim« und weiteren prorussischen Organisationen zusammenschloss. Nach dem Verlust der Macht 1995 zerfielen die meisten dieser Organisationen wieder. Einzig die kulturpolitische »Russische Gemeinde der Krim« existiert bis heute. Ihre Führung beteiligte sich 2009 an der Gründung der »Russischen Einheit«, also jener Partei, die im März 2014 ohne parlamentarische Mehrheit und wohl nicht ohne Unterstützung aus Russland die Macht auf der Krim übernehmen konnte.

Unterstützung aus Russland

Unterstützung aus Russland erhielt auch schon die fragile prorussische Koalition der 1990er Jahre. Insbesondere politische Strukturen um das von Nationalisten dominierte Parlament Russlands arbeiteten mit der Bewegung auf der Krim zum Teil eng zusammen und gewährten finanzielle Hilfe. Insgesamt scheint die damalige Unterstützung aus Russland aber durchaus begrenzt gewesen zu sein: Die lokalen Akteure wandten sich an Politiker in Russland um finanzielle Hilfe – davon, dass »Moskau« die Organisationen selbst aufgebaut und dirigiert hätte, kann man nicht ausgehen. Öffentlich bekam der Krim-Separatismus Unterstützung von den nationalistischen Kräften in der Staatsduma, nicht im selben Maße aber durch die Präsidialadministration. So wies Jelzin beispielsweise eine Resolution des Parlaments, die Sewastopol zur russischen Stadt erklärte, deutlich zurück. Noch weniger gab es in den 1990er Jahren einen russischen Militäreinsatz zugunsten der prorussischen Separatisten. Die in Sewastopol stationierte Schwarzmeerflotte war unmittelbar nach dem Zerfall der UdSSR auch kaum einsatzfähig. Sie war zwischen der Ukraine und Russland umstritten und befand sich bis zum Abkommen von 1997 unter einem Doppelkommando beider Staaten. Die Schockwellen der politischen Auseinandersetzungen um die Flotte fanden ihren Durchschlag jeweils auch auf den Schiffen – ein Teil der Matrosen hisste die Andreas-Flagge, die Marineflagge der Russischen Föderation und zuvor des Russischen Reiches, während ein (kleinerer) Teil den Eid auf die Ukraine ablegte.

Sewastopol: rechtliche Sonderstellung und Kiews erfolgreiche Personalpolitik in der »Stadt des russischen Ruhms«

Der Stützpunkt der Schwarzmeerflotte, die Hafenstadt Sewastopol, hatte traditionell eine Sonderstellung, die auch heute weiterbesteht. Bei der feierlichen Zeremonie zum Beitritt der Krim zur Russischen Föderation am 18. März 2014 in Moskau, saß am Tisch der Unterzeichnenden neben Putin und den Vorsitzenden von Parlament und Regierung der Krim noch ein Mann im Pullover – der kurz zuvor zum »Volksbürgermeister« von Sewastopol ausgerufene Alexej Tschalyj. Neben der Autonomen Republik Krim trat nämlich auch die Hafenstadt Sewastopol der russischen Föderation bei; sie war rechtlich und institutionell kein Teil der Autonomie. Vielmehr befand und befindet sich die Hafenstadt unter direkter Kontrolle des Zentrums – vormals Moskaus, dann Kiews und nun wohl als »Stadt föderaler Bedeutung« wieder unter der Kontrolle Moskaus. 1948 hatte Moskau die von Rüstungsindustrie und der Schwarzmeerflotte geprägte Stadt aus dem damaligen Verwaltungsgebiet Krim ausgegliedert und dem Zentrum unterstellt. Den Sonderstatus behielt die Stadt auch, als die sowjetische Führung die Krim 1954 von der Russischen zur Ukrainischen Sowjetrepublik transferierte. Zudem beschränkte die sowjetische Regierung Möglichkeiten des Zuzugs und von Besuchsreisen nach Sewastopol: Die als strategisch wichtig angesehene Stadt wurde zu einer »geschlossenen Stadt«. Die Sonderstellung spiegelte sich auch auf der Ebene von Erinnerungskultur und Ideologie: Die »Stadt des russischen Ruhms« hatte den Status einer »Heldenstadt«. Die Höhepunkte des sowjetisch-russischen Geschichtsnarrativs über Sewastopol waren und sind die zwei »Verteidigungen« im Krim-Krieg und im Zweiten Weltkrieg.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion übernahm die neue, unabhängige Republik Ukraine das Regime der direkten zentralen Kontrolle über die Stadt. Sewastopol wurde weiterhin nicht von gewählten Volksvertretern, sondern von einem entsandten Präsidentenvertreter regiert. Bei der Besetzung der Posten setzte die ukrainische Regierung aber keineswegs auf ukrainische Nationalisten aus der West-Ukraine, wie das die prorussischen Organisationen im lokalen politischen Gefecht in Sewastopol gern behaupteten. Vielmehr betraute Kiew mit der Verwaltung der Hafenstadt Politiker, die im sowjetkonservativ-großrussisch-imperialen Mainstream der Stadt tief verankert waren. Gerade diese Art Politiker war imstande, vor Ort die Ambitionen der stellenweise durchaus mobilisierungsfähigen prorussischen Organisationen klein zu halten. Die Personalpolitik Kiews in Sewastopol ist nur ein Beispiel dafür, dass sich klare ideologische oder gar »ethnische« Konfliktlinien zwischen (pro)ukrainischen und (pro)russischen Eliten nur schwerlich ziehen lassen. Die meisten Mitglieder der Elite auf der Krim vertraten ihre Interessen in wechselnden Koalitionen und in Abhängigkeit von institutionellen Gegebenheiten, auch wenn eine vorpolitisch-kulturelle Russland-Orientierung weit verbreitet war.

Schlussfolgerungen

Was lässt sich aus den Geschehnissen Anfang der 1990er für heute als Erkenntnis ableiten – abgesehen von dem Wissen um personelle und institutionelle Kontinuitäten? Zum einen lässt sich für die damalige Situation sagen: local actors matter. Prorussische Mobilisierung und die Konflikte in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als eine Intrige des Kremls darzustellen, greift zu kurz. Will man sich einem Verständnis der postsowjetischen Territorialkonflikte annähern, müssen die Struktur lokaler und regionaler Allianzen ebenso wie die oft spannungsreichen Beziehungen zwischen prorussischen Bewegungen und politischen Kräften bzw. Staatsorganen in Russland betrachtet werden (einmal ganz abgesehen von Regierungspolitiken und nationalistischer Mobilisierung auf der »anderen« Seite). Ohne die institutionellen und politischen Strukturen vor Ort sind die Interventionen Moskaus in der gegeben Form nicht vorstellbar. Zum zweiten lässt sich sagen, dass Vorstellungen von klaren Konfliktlinien, vor allem von »ethnischen Konflikten« wenig zur Erhellung beitragen. Die Parteinahmen von (Eliten-)Akteuren folg(t)en in vielen Fällen institutionellen Kanälen oder ökonomischen Interessen, während die zugeschriebene Nationalität nicht ausschlaggebend war. Diesen Überlegungen folgend bleibt es für Forschung und journalistische Beobachtung auch in der heutigen Situation sinnvoll, die Akteure im Einzelnen in den Blick zu nehmen, mit ihren Ambitionen, Interessen und politischen Sozialisationen, anstatt die von den Handelnden meist selbst eingeführten Kategorien von historischen kollektiven Zugehörigkeiten zu übernehmen.

Lesetipps / Bibliographie

  • Drohobycky, Maria (Hg.): Crimea. Dynamics, challenges, and prospects, Lanham 1995.
  • Marples, David R., David F. Duke: Ukraine, Russia, and the Question of Crimea, in: Nationalities Papers 23.1995, Nr. 2, S. 261–289.
  • Sasse, Gwendolyn: Die Autonome Republik Krim zwischen Separatismus und Einheitsstaat, in: Gerhard Simon (Hg.): Die neue Ukraine. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (1991–2001), Köln 2002, S. 127–147.
  • Sasse, Gwendolyn: The Crimea Question. Identity, Transition and Conflict, Cambridge 2007.
  • Zofka, Jan: Zurück zum Mutterland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.4.2014; <http://www.faz.net/aktu ell/politik/die-gegenwart/ukraine-zurueck-zum-mutterland-12912445.html>.

Zum Weiterlesen

Analyse

Militärische Implikationen der Krim-Krise

Von Margarete Klein, Kristian Pester
Die Krim-Krise offenbart eine neue Qualität der russischen Außenpolitik. Rechtfertigte der Kreml den Einsatz seiner Soldaten im Georgienkrieg 2008 noch mit dem Angriff auf die GUS-Friedenstruppen, entsandte er die Streitkräfte diesmal vorsorglich zur Sicherung politischer Interessen in die von ihm beanspruchte Einflusszone. Die Aggressivität des russischen Militäreinsatzes steht dabei im Kontrast zur bisherigen Zurückhaltung der ukrainischen Seite. Zwar wurde die landesweite Mobilmachung verkündet; bislang versuchen die ukrainischen Soldaten aber nicht, sich gewaltsam aus den umstellten Kasernen zu befreien. Das wirft die Frage auf, in welchem Zustand sich die ukrainischen Streitkräfte befinden und welche Perspektiven sich daraus für den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ergeben.
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