Feiertag für die Seele

Von Jens Siegert (Moskau)

Ich weiß nicht weiter. Wie so oft in heißen Konflikten, überwiegen in der Diskussion über Russland und die Ukraine, über Russland und den Westen, über Putin und über die 80 Prozent aller Menschen in Russland, die ihn angeblich oder tatsächlich unterstützen, die schwarzen und weißen Töne, geben diejenigen den Ton, die nicht nur eine entschiedene Meinung haben, sondern auch die Chuzpe oder die Schlichtheit, sie als die einzig richtige darzustellen. Das muss aber wohl so sein. Denn in Krisenzeiten muss gehandelt werden. Und Handeln heißt entscheiden. Zum Entscheiden aber brauchen die Entscheider klare Alternativen von ihren Ratgebern (ich weiß, es ist komplizierter, aber dazu fehlt hier der Platz).

Ich weiß aber auch nicht mehr weiter, weil es unmöglich zu wissen ist, was weiter geschehen wird. Es hängt viel, wenn nicht alles (darin sind sich die meisten Beobachter einig) von der Entscheidung eines einzelnen Menschen ab. Also wird mit Macht versucht, in Putin hineinzuraten. Ist er ein Kämpfer? Folgen seine Entscheidungen alten (oder besser: modernisierten) KGB-Logiken? Mit wem berät er sich? Berät er sich überhaupt noch? Oder ist er längst zum alternden, misstrauischen Diktator mutiert, getrieben vor allem von der Angst vor einem Coup d’Etat aus dem eigenen, engsten Umfeld?

Handelt Putin aus Stärke? Auch weil er die Schwäche(n) des Westens (insbesondere der EU und ihrer Mitgliedsländer) erkannt hat und virtuos auszunutzen versteht? Hat er dabei eine Grand Strategie? Oder ist er nur ein (dann aber zugegebenermaßen genialer) Taktiker, dem mit langem Atem und Standfestigkeit beizukommen wäre? Oder ist es Schwäche, die den russischen Präsidenten dazu brachte, die Krim-Verführung anzunehmen? Blufft er also nur? Zitternd in seiner Residenz in Nowo-Ogorjowo bei Moskau sitzend, nur mit Labradorhündin Koni an seiner Seite?

Wäre Putin, zögen wir heute Zwischenbilanz (einen Schlusspfiff wie beim Fußball gibt es ja im richtigen Leben glücklicherweise nicht), eher Sieger oder eher Verlierer? Hatte er nicht die ganze Ukraine im November vorigen Jahres bereits in seiner Tasche namens Zollunion? Und hat der Maidan sie (aus russisch-offizieller Sicht: wie ein Taschendieb!) sie nicht wieder rausgezogen? Nun bleiben ihm nur die Krim, das Kuddelmuddel in der Ostukraine, in die er sich nicht wirklich reintraut, und selbst Belarus und Kasachstan machen neuerdings Absetzbewegungen. Dann wirkten wohl die Sanktionen (wenn auch mehr ihre Ankündigung) und Putin wäre ein Verlierer.

Vielleicht wartet Putin, großer Taktiker der er ist, aber auch einfach nur ab? Schaut zu, wie die (westlich dominierte) Nach-1989-Weltordnung langsam durch den Krim-Pilz zersetzt wird, wie sich die Europäische Union Stück für Stück auflöst (angeblich orientiert sich Orbans Ungarn schon mehr Richtung Moskau als Richtung Brüssel), ihre bisherige modellhafte Attraktivität als Hort von Recht und Wohlstand (und Wohlstand durch Recht) verliert? Dann könnte er der Sieger sein.

Aber im wirklichen Leben ist das Spiel halt nie zu Ende. Es ist zu früh, Sieger und Verlierer auszurufen. Denn viel mehr als diese Fragen (einige weitere habe ich hier sicher vergessen) können wir nicht wissen. Was wir können und müssen, ist zu bewerten, was bereits passiert ist, was bereits getan wurde und von wem: die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland; das Zündeln in der Ostukraine; die große Propagandaschlacht der Kremltrolle; die einerseits durchaus deutlichen und solidarischen Reaktionen des Westens, wenn auch mit eher zögerlichen Sanktionen (wobei es eine sinnvolle Frage ist, welche Sanktionen helfen und wann sie das tun: wenn sie nur angedroht sind oder wenn sie verhängt werden); andererseits das seltsame Verständnis »für Russland« bei vielen Menschen im Westen und insbesondere in Deutschland (mit dem gleichzeitig der Ukraine die Existenz als unabhängiger Staat abgesprochen, die Leiden der Ukraine im Zweiten Weltkrieg negiert und große Teile des Völkerrechts auf Vor-Zweiter-Weltkriegsniveau zurückgedrängt werden). Und noch einiges mehr.

Weil aber, ich komme wieder zum Anfang zurück, was weiter passieren wird, im wesentlichen von den Entscheidungen einer weitgehend unkontrollierten Person abhängt (oder maximal von einer kleinen Gruppe, deren genaue Zusammensetzung wir nicht einmal kennen), und niemand wirklich weiß (und wissen kann), nach welchen Kriterien oder, darüber habe ich schon mehrfach hier geschrieben, nach welcher (oder wessen) Rationalität, sind alle Voraussagen spekulativ.

Kurzfristig gesehen weiß ich also nicht mehr weiter. Mittel- und langfristig gesehen dürfte die spannende Frage aber sein, wie nachhaltig die durch Propaganda gestützte antiwestliche und Putin stützende Haltung einer offenbar großen Mehrheit der Menschen in Russland ist, jener 80 Prozent, von denen Meinungsforschungsinstitute bis hin zum renommierten Lewada-Zentrum berichten.

Um auf diese Frage zu antworten, müssen auch diese 80 Prozent, ihre Meinungen, Ängste, Urteile und Vorurteile, ihre Erfahrungen und die Schlüsse, die sie daraus gezogen haben, ernst genommen werden (jedenfalls die meisten von ihnen). Die Unterstützung von Putin und seiner Politik ist zwar auch ein großes Verführungswerk, aber sie ist es nicht nur, nicht einmal in erster Linie. Und die meisten Menschen in Russland sind keine dummen Verführten (was dann aber auch dazu führt, dass sie (Mit-)Verantwortung für das Handeln ihrer Regierung haben).

Ein wenig erinnert mich die Stimmung im Land seit einiger Zeit – und in den vergangenen Monaten immer stärker – an eine Episode des Films »Kalina Krasnaja« von Wassilij Schukschin (die deutsche Version ist unter dem Titel »Schneeballstrauch im Herbst« erschienen, aber gegenwärtig nur antiquarisch erhältlich). Schukschin, ein Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur (in Venedig 1966 mit einem Goldenen Löwen für seinen Erstling »Schiwjot takoj paren« ausgezeichnet), der sich aus einem Dorf im Altaj in Südsibirien in die Moskauer Intellektuellenelite hochgearbeitet hat, erzählt in dem Film von 1974 die Geschichte des Berufsverbrechers Jegor Prokudin, der, zum wiederholten Mal aus dem Gefängnis entlassen, beschließt, mit der Räuberei aufzuhören und ein »normales« Leben zu beginnen.

In der erwähnten Episode sagt Prokudin: »Ich weiß nicht, vielleicht sollte ich meiner Seele Erholung schenken? Einen Feiertag braucht meine Seele, einen Feiertag. Ich warte schon lange auf ihn« (<http://vk.com/video-26782760_168300298>). Dann fasst er sich an den Hals, als ob das Leben ihn erstickt. Kurz darauf lässt er sich in einem schäbigen Hotel einer ungenannten Kleinstadt eine Feier ausrichten, zu der der Portier allerlei hergelaufene Leute von der Straße einlädt. Die Gäste besaufen sich, werden grob und unflätig. Die so sehr herbeigesehnte Feier, der Feiertag geht also gründlich schief. Weil es eben keine Freunde sind. Und weil sich Freunde und Feiern nicht einfach so organisieren lassen.

Der Versuch Prokudins, sich ein Leben jenseits der Verbrecherwelt aufzubauen, scheitert. Er scheitert ein wenig an ihm selbst, vor allem aber, weil ihn seine alten Verbrecherkumpane nicht gehen lassen wollen und ihn lieber ermorden als abtrünnig werden zu lassen. Die Vergangenheit ist sehr mächtig.

Ähnlich wie Prokudin scheint es heute vielen Menschen in Russland zu gehen, wenn sie an ihr Land denken, an ihr Leben in diesem Land und an das Verhältnis dieses Landes zu anderen Ländern und den Menschen dort (insbesondere natürlich den Ländern gleich in der Nachbarschaft, die früher Zwangsmitglieder in der Kommunalka, der Zwangswohngemeinschaft mit Namen Sowjetunion waren). Sie wollen ein normales Leben, normale Nachbarschaft. Aber sie sind ziemlich aus der Übung. Weshalb ihre Versuche oft so fürchterlich schief gehen.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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