… die Größe Russlands wiederherstellen
Die Bereitschaft der russischen Führung, im Umgang mit dem Nachbarn Ukraine auch militärische Mittel einzusetzen, die Konfrontation mit dem wichtigsten Handelspartner Russlands, der EU, in Kauf zu nehmen und den Gegensatz mit dem Sicherheits- und Abrüstungspartner USA zu vertiefen, hat Politiker in Berlin und Brüssel überrascht. Das Verhalten der Putin-Administration erscheint angesichts der ökonomischen Lage Russlands und seiner Abhängigkeit vom Weltmarkt wenig rational. Die angebliche Bemerkung von Angela Merkel in einem Telefongespräch mit Präsident Obama, Putin habe den Kontakt zur Realität verloren, bringt diesen Eindruck auf den Punkt.
Dennoch wird das Handeln des russischen Präsidenten in der russischen Öffentlichkeit als energisch, klug und erfolgreich wahrgenommen – nimmt man die Stimmen in der Wirtschaftspresse, die auf die finanziellen Lasten und den Rückgang der Investitionen hinweisen, einmal aus. Eine Mehrheit der Bevölkerung begrüßt das offensive Vorgehen der Führung im postsowjetischen Raum, die Umfragewerte von Präsident Wladimir Putin, die seit 2011 Jahre nachgaben, haben sich wieder erholt – die Vertrauenskurve zeigt steil nach oben.
Offenbar wird die Politik der Putin-Administration im Ausland und im Innern ganz unterschiedlich wahrgenommen. Daher lohnt es sich, noch einmal einen Blick auf die Vorgänge zu werfen und diese auch in den Kontext der innerrussischen Debatte zu stellen.
Die Ausstattung einer Großmacht
Russland ist gewiss ein großes Land – mit 17,075 Mio. km2 das flächengrößte der Erde. Die Ausdehnung der Staatsgebiete von Kanada, der USA und Chinas beträgt jeweils nur knapp 60 % der Fläche Russlands. Doch die Wirtschaftsleistung liegt weit unter der der USA und Chinas. Mit 3,260 Mrd. US-Dollar ist Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) etwas geringer als das Deutschlands, und macht etwa ein Viertel des BIP Chinas oder des Euro-Raums aus, bzw. ein Fünftel des US-amerikanischen. Betrachtet man die Wirtschaftsleistung pro Kopf, liegt Russland noch hinter Griechenland, Portugal, der Slowakei und Litauen. Der Export entspricht dem eines Drittweltlandes: 2011 machten Roh- und Brennstoffe fast 80 % des Exportes aus, Maschinen und Ausrüstungen erschienen in der Exportstatistik mit gerade einmal 4,5 %. In den Bereichen Technologie und Innovation liegt die russische Volkswirtschaft international nicht in der Spitzengruppe. Auch demographisch verfügt Russland mit 140 Mio. Einwohnern (China: 1,351 Mio., Indien 1,237 Mio., USA 314 Mio., Euro-Raum 334 Mio.) nicht über endlose Ressourcen. All das erscheint als Basis für eine moderne Großmacht eher dürftig.
Andererseits hat die Russländische Föderation aus dem Erbe der Sowjetunion einen Sitz im Sicherheitsrat inne, es verfügt über ein umfangreiches Arsenal strategischer Nuklearwaffen, dem allein das Atomwaffenpotential der USA gewachsen ist und es hat eine konventionelle Streitmacht, die trotz Kürzungen und jahrelanger Vernachlässigung nach den jüngsten Reformen durchaus in der Lage ist, die kleinen und mittleren Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft zu überrennen. Dazu verfügt es über große Reserven an fossilen Brennstoffen – in der heutigen Welt durchaus ein Faktor von Gewicht.
Insofern stellt sich das heutige Russland als Zwitter dar. Einerseits ist es – ähnlich wie die Türkei oder der Iran – eine Regionalmacht, die in ihrer Nachbarschaft erheblichen Einfluss ausüben kann, andererseits verfügt sie noch über die Insignien einer Weltmacht, auch wenn ihr das wirtschaftliche und technologische Potential fehlt, diesem Anspruch weltweit Geltung zu verschaffen. Die russischen außen- und sicherheitspolitischen Eliten sind es aber noch gewohnt, in traditionellen Weltmachtkategorien zu denken. Damit geraten sie jedoch in ein Dilemma: Im Vergleich mit den USA, der EU und China ist Russland wirtschaftlich eine Macht zweiter Ordnung, dem eigenen Anspruch nach aber eine Großmacht, die auf Augenhöhe mit China und den USA agiert. Kann die russische Führung im postsowjetischen Raum noch gestalten, so reichen Kräfte und Einfluss jenseits der eigenen Nachbarschaft oft nur dazu, als Störer zu wirken. Diese Situation ist für die russischen Außenpolitiker zweifellos unbefriedigend.
Die Eurasische Union als letzte Option russischer Außenpolitik?
Am 4. Oktober 2011 veröffentlichte Wladimir Putin, noch Ministerpräsident, aber schon erklärter Kandidat für das Präsidentenamt, in der Iswestija einen programmatischen Artikel, in dem er die Idee einer Eurasischen Union propagierte, die für die Länder des postsowjetischen Raums offen wäre, und sich als Partner der EU etablieren wolle. Kern dieser Initiative war die Zollunion, die zu diesem Zeitpunkt Russland, Belarus und Kasachstan umfasste. Zwei weitere Regionalorganisationen, die Eurasische Wirtschaftsunion (Russland, Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Tadshikistan mit Armenien und Ukraine im Beobachterstatus) und die Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit (OVKS) (Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Russland, Tadshikistan, Usbekistan), stellten sich als Bausteine einer umfassenden Integration des postsowjetischen Raumes dar, die die russische Führung der EU in partnerschaftlicher Zusammenarbeit gegenüberstellen wollte. Präsident Putin wollte dies nicht als konfrontativen Schritt verstanden sehen, er betonte noch im Dezember in seiner Botschaft an die Föderalversammlung, dass es bei dem Integrationsprojekt um Gleichberechtigung und reale Wirtschaftsinteressen gehe, nicht darum, jemandem etwas aufzuzwingen oder eine regionale Hegemonie zu erreichen. Mit der EU – »jenem entwickelten Integrationsprojekt« – wolle man weiter zusammenarbeiten.
Die Begründung für ein solches Vorgehen findet sich in der außenpolitischen Konzeption Russlands, die im Februar 2013 verabschiedet worden ist. Dort heißt es, dass unter den Bedingungen einer Dezentralisierung des globalen Systems und des Entstehens neuer Wachstums- und Einflusszentren regionale Organisationen eine neue Bedeutung gewönnen. Regionale Integration sei ein wirksames Instrument zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit, stärke die Sicherheit und stabilisiere Finanzen und Wirtschaft. Das kann man auch auf das Eurasische Integrationsprojekt beziehen: eingeklemmt zwischen der wirtschaftlich übermächtigen Europäischen Union und einem sich rasch entwickelnden China sucht Russland Unterstützung, indem es die Nachbarstaaten in einer umfassenden Regionalstruktur organisiert und zusammenfasst. Dass in einer Organisation, in der Russland sich mit Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien, Tadshikistan, Usbekistan und idealerweise auch der Ukraine und Moldau verbindet, das wirtschaftliche, politische und militärische Übergewicht von vornherein auf der Seite Russlands ist, liegt auf der Hand. Insofern ist im Falle der Eurasischen Integration trotz aller Beteuerungen im Kern eine russische Hegemonie angelegt. Hier liegt auch ein Problem des Projekts – die nationalen Eliten der Nachbarstaaten haben an einer solchen Unterordnung kein wirkliches Interesse. Es bedürfte auf russischer Seite großer Behutsamkeit, um solche Ängste nicht weiter zu schüren. Das russische Vorgehen auf der Krim und in der Ostukraine ist nicht geeignet, die Skepsis in den postsowjetischen Staaten zu vermindern.
Dennoch sieht die russische Führung in der Eurasischen Integration, also praktisch in der Organisierung der Nachbarstaaten zu einer russischen Interessensphäre, einen wichtigen Schritt, um Russland zukünftig in einer multipolaren Welt fest als Machtfaktor zu etablieren. Statt die Partnerschaft mit der EU zu suchen, wie es die Handelsdaten nahe legen würden, oder die sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den USA, setzt die Putin-Administration spätestens seit 2011 auf eine Sonderrolle Russlands im eurasischen Kontext.
Dieser Rückzug nach Eurasien hat seine Gründe in der Frustration der russischen außen- und sicherheitspolitischen Elite, die sich von den europäischen Nachbarn und den USA nicht ernstgenommen fühlt. Diese Wahrnehmung, die sich seit den neunziger Jahren aufgebaut hat und insbesondere durch die Ausdehnung der NATO und die Erweiterung der EU bestärkt wurde, ist am deutlichsten in Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahre 2007 zum Ausdruck gekommen. Seine Äußerungen waren nicht so sehr die Einleitung einer antiwestlichen Politik, wie es in der europäischen und amerikanischen Öffentlichkeit aufgefasst wurde – der russische Präsident machte der Frustration der russischen politischen Klasse Luft, die sich immer wieder übergangen und ignoriert sah. Die Erweiterung der NATO, die Nichtratifizierung des modifizierten KSE-Abkommens, die Belehrungen über richtiges demokratisches Verhalten, das Vorgehen der USA im Irak und bei der Frage des iranischen Atomprogramms, die Frage der Raketenabwehr – in allen diesen Fällen sah der russische Präsident russische Interessen übergangen.
Nachdem auch der Vorstoß, den Präsidenten Medwedew im Sommer 2008 unternahm, um die Gespräche über eine europäisches Sicherheitssystem wieder in Gang zu bringen, keine Ergebnisse brachten, erschien der Rückzug auf die Region Eurasien und ihr Ausbau zur russischen Interessensphäre dem Kreis um Putin offenbar als einzige realistische Option, um Russlands internationale Position zu sichern. In dieser Regionalstruktur war die Ukraine mit ihrer Lage am Schwarzen Meer, ihrer Bevölkerung von 45 Mio. Menschen, ihrer leistungsfähigen Rüstungsindustrie und den Durchgangsrouten für russisches und zentralasiatisches Erdgas trotz ihrer akuten wirtschaftlichen Schwäche ein wichtiges Glied. Das war der Grund, warum sich die russische Führung intensiv um Janukowytsch bemühte. Die Massendemonstrationen gegen ihn und sein Sturz stellten im Grunde Russlands Eurasisches Projekt in Frage. Einer russischen Führung, die das Integrationsvorhaben als letzten Ausweg sah, musste der Ausfall der Ukraine als unmittelbare Bedrohung der internationalen Stellung Russlands erscheinen.
Nationale Mobilisierung als Innenpolitik
Das Verhalten der russischen Führung hat aber auch eine innenpolitische Dimension. Die politische Krise des Winters 2011/2012, als es in Moskau zu Massendemonstrationen gegen Wahlfälschungen gekommen war, war nicht aus dem Nichts entstanden. Die Finanzkrise 2008, die sich bei einer Mehrheit der Bevölkerung mit einem Rückgang der Einkommen auswirkte, hatte die Erwartung der Putin-Jahre 2000–2008, es werde nun kontinuierlich besser werden, enttäuscht. Nachdem auch das Modernisierungsprojekt, das Medwedew im Herbst 2009 initiierte, bald ins Leere lief, nahm das Misstrauen gegenüber der Führung und »Einiges Russland«, der »Partei der Macht«, sprunghaft zu. Angesichts der fehlenden Zustimmung für »Einiges Russland« griffen die Regionaladministrationen, von denen ein gutes Ergebnis für die »Putin-Partei« erwartet wurde, landesweit zu dem Mittel direkter Fälschung der Wahlergebnisse, die dann in der Hauptstadt einen Massenprotest auslöste. Zwar konnte sich Wladimir Putin im März 2012 bei den Präsidentenwahlen ungefährdet durchsetzen, doch seine Umfragewerte stiegen nicht. Zudem blieb das erwartete Wirtschaftswachstum aus, und die versprochene Besserung der Einkünfte trieb die Inflation nach oben.
In dieser Situation setzte sich im Umfeld des Präsidenten eine Gruppe durch, die durch Mobilisierung rechtsnationaler Sentiments Unterstützung für die Führung organisieren wollte. Demonstranten wurden als Gewalttäter und Unruhestifter, Nichtregierungsorganisationen als ausländische Agenten, Homosexuelle als Kinderschänder und Migranten als Kriminelle markiert. Die USA erschienen als die Macht, die Russland systematisch niederdrücken wollte. Diese Feindbilder knüpften an latente Ängste und Stimmungen und gewannen breite Unterstützung. Die Propaganda hatte aber ambivalente Resultate: In Saratow und Birjuljowo, einem Moskauer Vorort, kam es zu Pogromen, die sich gegen Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien richteten. Zugleich wandten sich die nationalen Propagandisten, die von der Präsidialverwaltung gefördert worden waren, bald auch gegen Korruption und Privatgeschäfte in Behörden und Politik. Die rechte Mobilisierung gewann Eigendynamik.
Das ist wohl der Grund, dass im Herbst 2013 einige Politiker, die Medien nannten sie die »politischen Strategen«, sich für eine Änderung der Politik einsetzten. Der Schwenk wurde im Kontext der Regionalwahlen Anfang September erkennbar. Das Verfahren gegen den Oppositionspolitiker Nawalnyj endete zwar mit einer Verurteilung, doch ging er nicht in Haft und durfte an den Moskauer Bürgermeisterwahlen teilnehmen, wo er einen Achtungserfolg erzielte. In mehreren anderen Städten durften sich Oppositionspolitiker bei Lokal- und Regionalwahlen durchsetzen. Der Präsident zog in seiner alljährlichen Botschaft an die Nationalversammlung eine nüchterne und kritische Bilanz. Die patriotische Rhetorik des Vorjahrs fehlte in der Rede weitgehend. Eine Abkehr von der Propagierung rechter Feindbilder deutete sich an. Allerdings setzte der Leiter der Präsidialadministration, Sergej Iwanow, den man mit der Politik der rechten Mobilisierung in Zusammenhang brachte, durch, dass der Auslandsfernsehsender »Russia Today« und die Nachrichtenagentur »RIA Nowosti« unter seinem Kandidaten Dmitrij Kiseljow zusammengefasst wurden.
Die Versachlichung russischer Innenpolitik endete jedoch im Februar, als die wachsenden, und teilweise gewalttätigen Proteste in Kiew zum Sturz von Janukowytsch führten. Nachdem die Mission der drei europäischen Außenminister nicht zu einer Lösung der politischen Krise in der Ukraine geführt hatte, setzten sich in der russischen Führung wieder die Vertreter einer Politik nationaler Stärke durch, die von nun an den außen- und den innenpolitischen Kurs bestimmten. Dabei spielte die Angst vor dem Beispiel erfolgreicher Massenproteste wahrscheinlich ebenso eine Rolle, wie der Ärger über das drohende Scheitern des Eurasischen Projekts.
Der zögernde Präsident
Die russische Ukraine-Politik wird also von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Strategisches Ziel war und ist es, die Ukraine in das Netz von Regionalorganisationen zu integrieren, das die russischen Interessensphäre konstituiert, idealerweise durch Mitgliedschaft in die Zollunion, die den Kern der künftigen Eurasischen Union bildet. Als Instrument nutzte Russland die Wirtschafts- und Energiepolitik, nahm aber auch durch Emissäre Einfluss auf den innenpolitischen Diskurs in der Ukraine und benutzte punktuell Warenboykotts, die mit gesundheitspolitischen Bedenken begründet wurden, als Drohgebärde. Zu den Personen, die Einfluss auf die Formulierung der Ukrainepolitik hatten, kann der russische Botschafter in Kiew gezählt werden, der frühere Gesundheitsminister Michail Surabow, der über gute Kontakte zu Janukowytsch verfügte. In der Präsidialverwaltung fiel die Ukraine in den Verantwortungsbereich von Wladimir Tschernow, der über viele Jahre Büroleiter von Sergej Iwanow war. Die politische Richtung wurde im wesentlichen von Sergej Glasjew bestimmt, unter Jelzin kurz Außenwirtschaftsminister, später einer der Führer der rechtsnationalen Partei »Rodina« (»Heimat«) und jetzt Berater des Präsidenten und Mitglied des »Isborskij klub«, eines Zusammenschlusses rechtsradikaler Intellektueller. Ein gewisses Gegengewicht stellte Wladislaw Surkow dar, der in der Präsidialverwaltung lange Zeit Parteien und Parlament gelenkt hatte, ehe er nach kurzer Pause Gehilfe des Präsidenten für Südossetien und Abchasien wurde, allerdings auch mehrfach in der Ukraine gesehen wurde. Man kann davon ausgehen, dass auch die Energieunternehmen, die einschlägigen Dienste und das Militär vielfältige Beziehungen in die Ukraine unterhielten. Das Geflecht zwischen den Hauptstädten Kiew und Moskau war zweifellos sehr eng gewoben.
Der Präsident war allerdings nicht immer auf der Höhe der Ereignisse. In wenigstens zwei Fällen traf er Aussagen, die er in der Folge korrigieren musste. So erklärte Putin während des EU-Russland-Gipfels am 28.1.2014 in Brüssel, die Kredite, die Russland der Ukraine zugesagt habe, seien dem ukrainischen Volk zugesagt, nicht der Regierung, sie würden auf jeden Fall gewährt. Am nächsten Tag musste er sich korrigieren – seine Regierung hatte ihm vorgehalten, dass dies unrealistisch sei. Ein ähnlicher Vorfall ereignete sich mit der Einrichtung einer Kontaktgruppe, die Angela Merkel im Gespräch mit Putin vorgeschlagen hatte. In einem Interview am 4. März erklärte er, vorbereitende Gespräche dazu seien möglich, und er betonte, man sei bereit mit allen »außer den offensichtlichen Verbrechern« Kontakt aufzunehmen. Putins Außenminister lehnte allerdings in der Woche nach dem Interview die Bildung einer Kontaktgruppe und Verhandlungen mit der provisorischen ukrainischen Regierung ab. Ob der Präsident einfach schlecht informiert war, oder ob es unter seinen Beratern Dissens gab, so dass auch der Präsident schwankte, bleibt unklar. Gewiss ist nur, dass Putin nicht an gemachten Aussagen festhielt, und dass sie binnen kurzer Zeit umgestoßen werden konnten. Einen ambivalenten Eindruck machte auch das Verhalten Russlands zu der Mission der drei europäischen Außenminister, Steinmeier, Sikorski und Fabius, die am 20. und 21. Februar in Kiew versuchten, zwischen den Parteien zu vermitteln, die Gewalt zu beenden und einen Weg zur Lösung der politischen Krise auszuhandeln. Der russische Präsident entsandte seinen ehemaligen Menschenrechtsbeauftragten Wladimir Lukin, einen erfahrenen Diplomaten und integren Politiker, um an den Gesprächen teilzunehmen. Bei aller Reserve gegen die europäische Initiative war die russische Führung in dieser Situation bereit, eine Lösung mitzutragen.
Als es den drei europäischen Außenministern zwar gelang, die Parteien dazu zu bringen, die Gewalt zu beenden, der vorgeschlagene Plan für eine politische Lösung mit Neuwahlen aber am Widerstand der ukrainischen Opposition scheiterte, da erst fiel auf russischer Seite die Entscheidung für ein offensives Vorgehen, bei dem auch das militärische Instrument eingesetzt werden sollte. Am 1. März holte Putin verfassungsgemäß die Zustimmung des Föderationsrats für den Einsatz von Streitkräften im Ausland ein; am 3. März zeigte er sich ostentativ als Gast bei Übungen des Westlichen Wehrbezirks. Zwei Wochen später, am 17. 3., unterzeichnete der Präsident den Erlass zur Anerkennung der Republik Krim und am Folgetag wurden die Republik Krim und die Stadt Sewastopol in die Russische Föderation aufgenommen.
Der Schwenk der Politik wurde ganz deutlich in der Rede, die Putin anlässlich der Aufnahme der Krim vor der Föderalversammlung hielt. Er entwarf ein nationales Narrativ, das die Krim als »heilig«, als Symbol russischen »militärischen Ruhms« und »Heldentums ohnegleichen« darstellte, die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine historisch in Frage stellte und die Aufnahme in den russischen Staatsverband als Schutz ethnischer Russen vor Repressionen und Strafmaßnahmen der nicht legitimierten Regierung in Kiew und dem »rechten Sektor« erklärte.
Putin übernahm auch – und das macht seine Rede in hohem Maße problematisch – direkt Versatzstücke russischer rechtsradikaler Rhetorik. Er erklärte wörtlich: »Mit einem Wort, wir haben allen Grund zu der Annahme, dass die berüchtigte Politik der Eindämmung Russlands, die im 18., 19. und 20. Jahrhundert betrieben wurde, auch heute noch fortgesetzt wird.« Die Vorstellung, dass »der Westen« im Siebenjährigen Krieg, als Russland zunächst mit Österreich und dann mit Preußen verbündet war, bei der Aufteilung Polens, in den napoleonischen Feldzügen, als es mit Preußen, Großbritannien und dem Habsburger Reich gegen Frankreich kämpfte, während der »Heiligen Allianz«, in der Russland, Preußen und das Habsburger Reich als Garanten einer konservativen Ordnung auftraten, oder in der »Triple Entente«, die Frankreich, Großbritannien und Russland verband, eine Politik der Eindämmung Russlands betrieben hat, ist bizarr, gehört aber zu den Verschwörungstheorien, die russische Rechtsradikale gern verbreiten. Dass dieses Argument in der Rede des russischen Präsidenten auftaucht, zeigt, wieweit die russische Führung inzwischen Gefangene der rechtsnationalistischen Mobilisierung ist, die sie seit 2012 und dann wieder seit Februar 2014 vorantreibt.
Das macht auch deutlich, dass eine Annäherung zwischen Russland und der EU in den nächsten Monaten oder Jahren nicht einfach sein wird. Russland hat gegenwärtig keine vorwärts gewandte Strategie, es lebt von einem rückwärtsgewandten, verzerrten Narrativ. Wenn sich in der russischen Führung nicht jene Gruppen durchsetzen, die eine rationale Wirtschaftspolitik und eine integrative Lösung der innenpolitischen Probleme betreiben wollen – die Gruppe der »politischen Strategen«, die im Herbst 2013 eine Rolle spielten –, dann werden Gespräche mit Russland nicht rasch zum Erfolg führen. Auch Sanktionen werden keinen Eindruck machen, da die »rechten Mobilisierer« nicht in wirtschaftsrationalen Kategorien denken. Auf die Gruppenprozesse innerhalb der russischen Führung haben die USA und die EU allerdings keinen Einfluss. Das können sie nur von außen beobachten.
Dass man trotzdem jetzt das Gespräch suchen muss, um auf eine politische Lösung der ukrainischen Krise hinzuwirken, und dass man Russland dabei einbeziehen muss, daran kann es nichtsdestoweniger keinen Zweifel geben. Dass man – trotz des derzeitigen Hurrapatriotismus in der russischen Bevölkerung – das Gespräch zwischen den Gesellschaften nicht abreißen lassen darf, liegt ebenfalls auf der Hand. Langfristig geht es dann darum, die europäische Sicherheitsarchitektur wieder aufzubauen, die durch die Ukraine-Krise schwer beschädigt worden ist. Dabei ist auch eine gewisse Gelassenheit angezeigt. Es geht ja nicht wie im »Kalten Krieg« um die Konfrontation zweier Blöcke, sondern um die Frage, wie eine Regionalmacht von begrenztem wirtschaftlichen Gewicht, deren Führung in der Vergangenheit lebt, einen Platz in Europa und der Welt finden kann.