Ukrainische Wahlergebnisse in den Augen russischer Politiker und Experten

Am 25. Mai 2014 fanden Präsidentschaftswahlen in der Ukraine statt, die Petro Poroschenko im ersten Durchgang mit rund 54 % der Stimmen gewann. Die vor zwei Monaten freigelassene Julia Timoschenko errang nur 12 % und gestand noch am selben Abend ihre Niederlage ein. Die rechtsradikalen und russophoben Kandidaten Dmitro Jarosch und Oleg Tjagnibok, seit Monaten Lieblingsfiguren russischer Propaganda, erhielten jeweils rund 1 % der Stimmen. Der klare Sieg Poroschenkos könnte der Anfang einer Erholung der Ukraine nach der schwersten Krise in der Geschichte des Landes werden. Darauf hoffen die meisten Ukrainer, die Poroschenko ihre Stimme gegeben haben. Das meinen auch russische Experten, die die Abstimmung vor Ort beobachteten, etwa Ilja Ponomarjow von der Partei »Gerechtes Russland«. Alexej Nawalnyj und Andrej Illarionow sehen im Sieg Poroschenkos eine klare Niederlage der Ukraine-Politik des Kreml. Andere warnen nach den Wahlen in der Ukraine vor Jubel. Der russische Journalist und Dekan der Fakultät für Fernsehen der Moskauer Lomonossow-Universität Witalij Tretjakow verweist auf eine mangelnde Legitimität des neu gewählten Präsidenten. Ilja Wasjunin, Journalist des regimekritischen Fernsehsenders »Doschd«, zweifelt daran, dass Poroschenko in der Lage wäre, die Ukraine aus der Krise zu führen, und schreibt dem Nationalisten Jarosch trotz geringer Unterstützung bei den Wahlen eine entscheidende Rolle bei möglichen zukünftigen Straßenprotesten zu.

Ilja Ponomarjow: Ich war wieder in der Ukraine. Wieder in einem »Hotspot«. Ich erzähle…

»Im Großen und Ganzen gibt es an dem Sieg von Poroschenko keinen Zweifel. Es ist erstaunlich, wie ein langjähriger Abgeordneter, Regierungsmitglied sowohl unter Juschtschenko, als auch unter Janukowitsch und dazu noch einer der größten Unternehmer des Landes, in der offenen Sphäre ukrainischer Politik, in der Erneuerung und eine Befreiung von den Oligarchen die wichtigsten Forderungen darstellen, den Sieg davon trägt! Der Mann ohne Gesicht, der sogar sein Foto nicht in der Außenwerbung verwendete und in Interviews von sich in der dritten Person sprach, als ob er dort gar nicht existiere. Der Politiker ohne Programm und ohne Partei, der unverständlich allgemeine Worte spricht, besiegte gleich in der ersten Runde zwanzig Konkurrenten, was es seit 1991 in der Ukraine nicht gegeben hat.

Die Lösung steckt in einer für Poroschenko einmaligen Verkettung von Umständen. Er war praktisch ein Nichtpolitiker in einer wider Willen superpolitisierten Gesellschaft. Alle politischen Gruppen lehnten ihn ihr ganzes Leben lang ab, wie sehr er sich auch bemühte. Er war eine der aktiven Figuren der Orangenen Revolution, in der Hoffnung auf den Posten des Ministerpräsidenten, wurde aber sowohl von Juschtschenko, als auch von Timoschenko ausgebootet. Mit demselben Anliegen stellte er sich in die Dienste von Janukowytsch, der ihn aber zum Sündenbock im Wirtschaftsministerium machte und an den Rand des politischen Lebens schob. Selbst auf dem Maidan wurde er vom Trio Klitschko-Jazenjuk-Tjagnibok zur Seite gedrückt. Für einen Volksführer fehlte es ihm an Courage und Charisma. Und so wurde Poroschenko für sich selbst unerwartet zu einer sichtbaren, an allen möglichen Garstigkeiten aber unbeteiligten Person, die den Menschen dank ihrer Undeutlichkeit Kompromiss verhieß, also Frieden. Und genau das haben die Bürger der Ukraine beim Verlassen der Wahllokale gesagt: Wir haben für Poroschenko gestimmt, damit dieses Chaos endlich endet. […]«

Ilja Ponomarjow bei Livejournal.com, 28. Mai 2014, <http://ilya-ponomarev.livejournal.com/639405.html>

Alexej Nawalnyj: Wahlen in der Ukraine: Legitimität und hervorragende Chance

»Das wichtigste Ergebnis der gestrigen Wahlen in der Ukraine ist selbstverständlich das Entstehen einer legitimen politischen Führung. Dieser Gedanke mag einen nicht durch Tiefgang umwerfen (genau hierzu werden ja in normalen Ländern Wahlen abgehalten); das Volk in der Ukraine stand aber vor keiner trivialen Aufgabe. Die Wahlen mussten unter Bedingungen stattfinden, bei denen:

a) zwei Monaten zuvor ein Revolution stattgefunden hatte;

b) das Land eine große Region verloren hat;

c) in zwei anderen Regionen Bürgerkrieg herrscht (vielleicht in einer embryonalen Phase, aber mit realen Opfern);

d) das Nachbarland, das viel größer und fortgeschrittener ist, sich sehr bemüht, die Wahlen zum Scheitern zu bringen;

e) der entmachtete ehemalige korrupte Führer gemeinsam mit ähnlichen Korruptionären aus Russland Unruhen und Gewalt finanziert. […]

Unter diesen Umständen hat Poroschenko mit 54 % gewonnen. […]

Was bedeutet das für Russland?

Ich denke, dass sowohl die erfolgreichen Wahlen als auch die Legitimität der politischen Führung in der Ukraine, dass das alles für Russland sehr gut ist. Wir brauchen kein instabiles Land in unserer Nachbarschaft. Wir brauchen keinen Trash und keine Hölle an den Grenzen, Flüchtlinge, Militär, Bärtige mit MP, all das. […].

Das wahre strategische Interesse Russlands in der Ukraine lautet, dass jeder den anderen in Ruhe lassen möge und jedem die Möglichkeiten gegeben werde, den eigenen Wünschen gemäß zu leben. Damit sie problemlos unser Gas und andere Waren kaufen. Und unsere Exporte nicht behindern. Wer Russisch sprechen will, der soll es sprechen, wer es nicht will, der spricht es eben nicht. Dem einen gefällt Moskau, dem anderen Warschau. Manche essen gefüllten Fisch, die anderen [ukrainischen] Speck. Wer will, fährt zum Urlaub auf die Krim, wer nicht will, nach Odessa. Politiker debattierten mit einander und wenn es dann gilt festzustellen, wer der »coolere« ist, und eine Regierung zu bilden ist, ziehen alle in faire Wahlen. […]«

Alexej Nawalnyj, bei navalny.com, 26. Mai 2014, <http://navalny.com/blog/2014/05/26/post_3598.html>

Andrej Illarionov: Eine vernichtende Niederlage Wladimir Putins in der Ukraine

»Das wichtigste Ergebnis der Wahlen in der Ukraine ist nicht die Tatsache, dass Poroschenko zum Präsidenten gewählt wurde.

Und auch nicht, dass der ukrainische Präsident zum ersten Mal bereits im ersten Durchgang gewählt wurde. Und nicht einmal, dass Julia Timoschenko eine ernsthafte Niederlage einstecken musste, die daran zweifeln lässt, dass sie zukünftig am politischen Leben in der Ukraine in einer führenden Rolle teilnehmen wird.

Das wichtigste Ergebnis gestriger Präsidentschaftswahlen ist nämlich der faktische und juristische Tod des putinschen Mythos von einer sogenannten ›Spaltung‹ der Ukraine in die westlichen und zentralen sowie die südlichen und östlichen Landesteile, in Westerlinge und Russischsprachige, in ›Bandera-Regime‹ und ›Neurussland‹.

Es ist das Begräbnis von Putins Plan zur Aufteilung der Ukraine.

Es ist der endgültige Abschluss einer zwanzigjährigen Ära der ›Ukrainisierung‹, der wichtigen Etappe auf dem Weg zu einer Westorientierung und Europäisierung der Ukraine […].

Zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten wurde das Staatsoberhaupt der unabhängigen Ukraine nicht durch die Stimmen von Bewohnern der Ostukraine gegen die Stimmen aus der Westukraine gewählt, und auch nicht durch die Stimmen der Westukrainer gegen die aus dem Osten.

Zum ersten Mal wurde Präsident der Ukraine mit Stimmen der ganzen Ukraine, Stimmen der Bewohner aller großen ukrainischen Makroregionen gewählt. […]«

Andrej Illarionov bei livejournal.com, 26. Mai 2014, <http://aillarionov.livejournal.com/689068.html>

Witalij Tretjakow: Über die »Anerkennung der Wahlen« in der Ukraine seitens Russlands

»Kurz gesagt soll man einer einfachen Logik folgen: Höre, was der Westen von Russland verlangt, und tue genau das Gegenteil. Denn der Westen verlangt von Russland immer das, was er braucht, und zugleich das, was für Russland von Nachteil wäre. Außerdem beginnt nun die übliche ukrainische Erpressung: Wenn ihr unsere Wahlen anerkennt, bezahlen wir auch unsere Gasschulden. Natürlich werden sie uns über’s Ohr hauen und nicht zahlen. Sie werden die ›Rückgabe der Krim‹ etc. verlangen. Wovon Poroschenko praktisch schon gesprochen hat.

Juristisch gesehen wurden die vergangenen Wahlen in der Folge eines Staatsstreichs abgehalten, d. h. es gibt vollauf Gründe dafür, sie nicht anzuerkennen. Und Präsident Janukowytsch verfügt ja auch noch über seine juristischen Rechte und seinen Status.

›Präsident Poroschenko‹ hat anscheinend die Mehrheit der Stimmen bekommen, aber der Urnengang fand einerseits in einer völlig undemokratischen Situation bei aktiver Einmischung ausländischer Staaten in die inneren Angelegenheiten der Ukraine statt und stellt nicht die Meinung aller Wähler der Ukraine dar, und zweitens, wichtiger noch: Der ›Quasi-Präsident‹ hat einen Teil des Territoriums seines Landes nicht unter seiner Kontrolle; er kontrolliert weder die offizielle Sicherheits- und Sonderbehörden der Ukraine noch die organisierten, bewaffneten (Von wem? Auf welcher Rechtslage? Wem unterstellt? Von wem versorgt?) Formationen von Privatpersonen und unbekannten Organisationen; er hat (bis jetzt) die Strafaktionen sowie die politischen und physischen Repressionen gegen die Bevölkerung der östlichen Gebiete der Ukraine nicht beendet. Schon als ›Präsidenten‹kandidat ist er mehrfach mit groben Ausfällen und haltlosen Anschuldigungen gegenüber Russland aufgetreten. Vielmehr demonstrierte er insgesamt dieselbe Haltung wie die meisten anderen Kandidaten, das Bestreben einer fortgesetzten und verstärkten Ukrainisierungspolitik gegen russische Bürger der Ukraine sowie eines NATO-Beitritt der Ukraine. Russland hat die Ergebnisse der Referenden in den Gebieten Donezk und Luhansk nicht offiziell anerkannt. Symmetrisch gesehen gibt es keinen vernünftigen Grund, nun anders auf die Tatsache und die Ergebnisse der Abstimmung vom 25. Mai zu reagieren. […]«

Witalij Tretjakow bei livejournal.com, 26. Mai 2014, <http://v-tretyakov.livejournal.com/1215385.html>

Ilja Wasjunin: Immerhin steht Kandidat »für die Abschaffung der russischen Sprache« Ljaschko auf Platz Drei

»Da hat eine Reihe von Beobachtern nach den ukrainischen Wahlen aufs heftigste ›Putinsche Propaganda‹ enthüllt (<http://navalny.com/blog/2014/05/25/post_3597.html>), während andere vom ›Sieg des Antifaschismus in der Ukraine‹ schreiben (<https://www.facebook.com/avigdor.eskin/posts/10203020435024127>). Ich muss meinerseits zugeben, dass ich die Diskussionen um anderthalb Prozent für den Kandidaten Jarosch nicht wirklich nachvollziehen kann, da doch der Kandidat ›für die Abschaffung der russischen Sprache‹ Ljaschko immerhin auf Platz Drei kam.

Mag Poroschenko auch seine fünfzig Prozent bekommen haben; im Jahr 2010 hat Herr Janukowytsch bekanntlich in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen einen fairen Sieg errungen (wo ist er nun). Mit anderen Worten: Die fünfundfünfzig Prozent von Poroschenko können also in einem halben Jahr zu fünfzehn Prozent werden, und nach anderthalb Jahren wird wieder eine vorbestrafte junge Frau von ›Swoboda‹ auf dem Maidan ein Gedicht über ›Seife aus Juden‹ vortragen. Dies wurde wohl nicht bestraft und wird es auch jetzt nicht. Genauso wenig eine Strafe gibt es wegen des im Januar am Eingang des Büros der KPU zu Tode geprügelten Rentners (wenn ich da etwas verpasst habe, korrigieren Sie mich).

Das Wichtigste aber: Für einen Regimewechsel ist die Meinung dieser fünfundfünfzig Prozenten gar nicht nötig, entscheiden wird sowieso der Kandidat Jarosch.«

Ilja Wajunin, bei besttoday.ru, 26. Mai 2014, <http://besttoday.ru/subjects/1954.html#66005>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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