Es gibt in jeder Sprache, in jeder Gesellschaft Begriffe, die, gesagt oder geschrieben, den Hörern und Lesern sofort ganze Welten öffnen. Ohne jede weitere Erklärung versteht man sich. Umgekehrt sagen solche Schlüsselbegriffe auch viel über die Gesellschaften aus, in denen sie so bedeutungsvoll (voll im direkten Wortsinn) entstanden sind und benutzt werden. Denn nur was gesellschaftlich ausreichend wichtig ist, also für die jeweilige Gesellschaft bedeutende Unterschiede und Phänomene erklärt, wird auf eine so kurze, aber aussagereiche Weise verkürzt und doch verstanden. So ein Begriff ist im Russischen das Substantiv »Gopniki«, das Personen mit einem ganz bestimmten Verhaltensmuster beschreibt.
Natürlich ist dieser Begriff eigentlich unübersetzbar. Jedenfalls wenn man nach etwas Adäquatem in einem Wort oder einer kleinen Wortgruppe sucht. Zur ersten Annäherung versuche ich das trotzdem, mit einem deutschen Neologismus: »Prekariat«. Ein anderer, englischer, besser US-amerikanischer und vielen in Deutschland auch verständlicher Begriff wäre wohl »white trash«. Aber das sind, wie gesagt, nur Annäherungen. Der erste und vielleicht wichtigste Unterschied zur Situation in Russland dürfte sein, dass Gopniki kein Randgruppenphänomen, sind und dass Menschen, die sich wie Gopniki verhalten, bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft zu finden sind, wenn sie auch am unteren Ende der Einkommens- und Sozialskala häufiger auftreten.
Das mag etwas mit der systematischen Zerstörung des Bürgerlichen in der Sowjetunion zu tun haben und auch mit der schnellen Stratifikation der russischen Gesellschaft nach deren Ende, so schnell, dass soziale Zugehörigkeit und soziales Verhalten in vielem noch nicht wieder wirklich zur Deckung gekommen sind. Manchmal und in den vergangenen Monaten nationaler Hysterie immer öfter neige ich zu der Annahme, dass Gopniki in Russland in der Mehrheit sind (da der Begriff nicht soziologisch oder sozioökonomisch abgegrenzt ist, ist das allerdings schwer zu quantifizieren).
Was macht nun einen Gopnik, so die Einzahl von Gopniki, aus? Ich habe mich in den Russlandanalysen schon vor einigen Jahren in einem Beitrag über »Politische Jugendorganisationen und Jugendbewegungen in Russland« an einer Beschreibung versucht: »Gopniki neigen zur offenen, zumindest aber latenten Ablehnung von Fremdem und Fremden. Oft pflegen sie anti-intellektuelle Vorurteile, die schnell in Intellektuellenfeindlichkeit umschlagen. Wichtig für Gopniki ist es dazu zu gehören und hinein zu passen. Gopniki sind per definitionem apolitisch oder antipolitisch« (<http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/Russlandanalysen083.pdf>).
Die deutsche Wikipedia erklärt den Begriff so: »Der abfällige Begriff Gopnik ([…] Plural: Gopniki, Gopota) ist im russischen Jargon eine Bezeichnung für die Vertreter der kriminellen Jugend oder der Jugend mit kriminellem Verhalten, die oft keine Ausbildung hat und zu schwachen sozialen Schichten der Gesellschaft oder zum Prekariat gehört.« (<http://de.wikipedia.org/wiki/Gopnik_(Subkultur)>). Richtig daran ist vor allem die Herkunft aus dem kriminellen Milieu, das in Russland bis heute, ähnlich wie vom Spätmittelalter bis in die frühe Neuzeit auch in Zentraleuropa, eine Gesellschaft in der Gesellschaft bildet, mit eigener Sprache und eigenen sozialen Regeln und, wenn man so will, »Instituten«, die hart über ihre Einhaltung wachen.
Die genaue Herkunft der Bezeichnung »Gopniki« ist letztlich ungeklärt, aber es wird vermutet, dass das russische Wort »gop«, Sprung oder Schlag Pate stand. Als »gop-stop« wird zudem im Verbrecherjargon ein Überfall auf der Straße bezeichnet (meist unbewaffnet, maximal mit einem Messer, niemals einer Schusswaffe). Dabei wird das Opfer physisch bedroht, vor allem aber eingeschüchtert. Die Einschüchterung der Opfer ist ein wichtiges, vielleicht das entscheidende Element. Dabei geht es dem Täter nicht nur, vielleicht nicht einmal in erster Linie darum, Gegenwehr zu vermeiden und schneller zum Ziel zu kommen. Vielmehr versucht er damit seine Überlegenheit zu zeigen und das eigene, eher schwach ausgebildete Selbstwertgefühl zu steigern.
Gopniki drangsalieren ihre Opfer also und versuchen sie zu erniedrigen, um sich selbst zu erhöhen. Oft geht es nicht (nur) um mögliche Beute, sondern (viel mehr) darum, Streit zu suchen, Anderen oder anders Aussehenden Angst zu machen und sich an der Angst zu weiden. Opfer können z. B. Angehörige von Subkulturen sein, vorzugsweise solcher, die nicht in die mehrheitsgesellschaftlichen, obrigkeitsstaatlichen und patriarchalischen Schemata von dem passen, wie sich ein »richtiger Mann« oder eine »wirkliche Frau« zu verhalten habe. Die in der russischen Gesellschaft weit verbreitete Homosexuellenfeindlichkeit spielt auch unter Gopniki eine herausragende Rolle. »Pedik« (das Diminutiv von »Päderast«, umgangssprachlich-pejorativ für »Homosexueller«) ist so ziemlich das vernichtendste Urteil, das ein Gopnik aussprechen kann. Interessanterweise gibt es keine weibliche Form des Begriffs. Frauen gehören zwar auch dazu, sind aber Beiwerk, nicht wirklich vollwertig in dieser noch nicht einmal kleinbürgerlichen Welt.
Was haben Gopniki nun aber mit der Politik im heutigen Russland, dem Konflikt um die und in der Ukraine und der immer stärkeren Ablehnung alles »Westlichen« zu tun? Zweierlei. Zum einen stützt sich Wladimir Putin in seiner Politik immer stärker auf eben dieses Reservoir an Urteilen und Vorurteilen, auf das Ressentiment weiter Bevölkerungsteile, das sich zu großen Teilen aus Minderwertigkeitsgefühlen speist und in Aggression nach außen und gegen »Andere« Bahn bricht. Gemessen am Resultat, der fast schon unerreichbar hohen Zustimmung für Putin, ist dieser Appell an niedere Instinkte, die offenbar nicht nur bei den Gopniki immer noch tief sitzen, überaus erfolgreich.
Zum anderen verhalten sich russische Politiker, also der Kreml (gegenüber der Ukraine, gegenüber dem Westen, gegenüber der Opposition im eigenen Land) als Gesamtsubjekt, ziemlich genau so wie Gopniki bei einem »gop-stop«, einem Überfall, ihren Opfern gegenüber: herausfordernd, hochfahrend, zynisch, unanständig grob. Gut bürgerlich könnte man das als respektlos und ohne Manieren zusammenfassen. Noch einmal: Mindestens ebenso wie um den Anlass (die Beute, was ja im Falle der Krim nicht nur im übertragenen Sinn stimmt), geht es dabei darum, als gefühlter Underdog zu zeigen, dass man doch gefälligst ernst genommen werden möchte. Das gleichzeitige Wissen darum, dass man den Maßstäben »zivilisierten« (ein weiteres wichtiges Wort in diesem Zusammenhang!) Verhaltens aber eben gerade nicht genügt, führt zu einer tiefen Kränkung, einer Schande, die, metaphorisch (manchmal aber auch ganz konkret) gesprochen, »nur mit Blut« abgewaschen werden kann.
Das entspricht alles der Haltung von jugendlichen Hooligans, die Streit mit einem zufällig Vorbeikommenden suchen, nicht nur um des Streits oder möglicher Beute willen, sondern wegen des erwarteten oder erhofften Gefühls danach, es diesen Lackaffen, diesen Weichlingen, diesen sich als etwas Besseres Fühlenden und Aufführenden endlich einmal gezeigt zu haben. Im Russischen gehört dazu unweigerlich die (eigentlich rhetorische) Frage: »Ty menja ne uwaschajesch?« (deutsch etwa, wenn auch nicht ganz genau: »Respektierst Du mich etwa nicht?«).
Die so angegangene Person kann darauf nur in einer Weise richtig reagieren: selbstbewusst, aber nicht herausfordernd. Das ist nicht einfach. Niemand möchte in solch einer Situation, in der sich die Rowdies meist in der Überzahl befinden oder zumindest das Überraschungsmoment auf ihrer Seite haben (und es eben deshalb überhaupt erst wagen), verprügelt werden oder noch Schlimmeres erfahren. Doch wer sich vor einem Gopnik oder gar vor einer ganzen Gruppe klein macht, macht alles nur noch schlimmer. Wer keine Selbstachtung zeigt (und sei sie auch nur Pose), genießt in der Gopnik-Welt auch keine Achtung. Wer sich nicht wehrt wird erniedrigt.
So ähnlich ist es mit den aus westlicher Sicht oft unverantwortlichen oder unnötig provozierenden Äußerungen russischer Politiker vom Typ des stellvertretenden Ministerpräsidenten Dmitrij Rogosin, der per Twitter Rumänien schon mal damit droht, »beim nächsten Mal« einen Atombomber vom Typ Tupolew Tu-160 zu schicken, weil seinem Flugzeug nach einem Besuch in dem von Moldawien abtrünnigen Transnistrien eine Überfluggenehmigung verweigert worden war (Rogosin steht auf den Sanktionslisten und darf weder in die EU noch in die USA einreisen). Von ähnlicher Qualität war auch die zur besten Fernsehzeit an einem Sonntagabend zwischen acht und neun vom Oberpropagandisten des Kreml Dmitrij Kisseljow ausgestoßene Drohung, Russland könne die USA »in radioaktive Asche« verwandeln.
Solche Äußerungen (vielleicht sollte man besser Ausfälligkeiten sagen) sind immer Test und Selbstvergewisserung zugleich. Sie testen, wie das jeweilige Gegenüber reagiert. Ängstlich? Zurückhaltend? Dann kann man nachlegen. Oder vielleicht standhaft? Dann ist es möglicherweise besser einen Gang zurück zu schalten. Das macht es so wichtig, auf russische Zumutungen zumindest mit einem festen »Halt, so nicht!« zu reagieren und nicht sofort nach Kompromissen zu suchen und gemeinsame Interessen zu betonen, wie viele in Deutschland das am liebsten machen. Hier in Russland macht man sich genau darüber lustig, über diese verweichlichten Deutschen, denen die Amerikaner das Kämpfen abgezüchtet hätten.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.