Autoritärer Wendepunkt
Mit der Annexion der Krim und dem weiteren Vorgehen in der Ukraine hat Russland ein neues Kapitel aufgeschlagen, nicht nur in seiner Außenpolitik, sondern noch grundlegender in seiner innenpolitischen Entwicklung. Dennoch markierte das Jahr 2011 den Wendepunkt, der die aktuelle Entwicklung bestimmte. Eine kleine Gruppe von Entscheidungsträgern hatte da eine strategische Wahl zur Natur der Führung Russlands getroffen. Durch den Verzicht auf eine Wiederwahl Medwedews verwarfen die Machthaber ein »evolutionäres« Szenario, das viele Merkmale des Putinschen Modells bewahrt, aber auch die Möglichkeit für eine kontrollierte und schrittweise Dezentralisierung der Macht zugunsten unterschiedlicher Gruppen innerhalb der Elite geboten hätte. Stattdessen entschied man sich für das »konservative« Szenario in Gestalt von Putins Rückkehr auf den Präsidentensessel. Diese Entscheidung hat dazu geführt, dass ein einziges Entscheidungszentrum formal wiederhergestellt wurde, eine Rezentralisierung der Macht auf föderaler wie auch regionaler Ebene erfolgte und eine Welle von Maßnahmen getroffen wurde, die Reformen zuwiderlaufen. Putins Rückkehr war mehr als nur ein Stühlerücken, bei dem die offensichtliche und unbestrittene Führungsfigur den angestammten Posten wieder übernimmt. Es war eine strategische Entscheidung der herrschenden Gruppe über die zukünftige Entwicklung Russlands.
Der Rest ist Geschichte, könnte man sagen: Mit der Entscheidung wurden die Maßnahmen zur Machterhaltung bestimmt. Der Kreml definierte die Ziele neu und machte sich an deren Umsetzung. Vordringlichstes Ziel war es, der Gefahr von Unruhe entgegenzuwirken, die bei den aktiven, städtischen Bevölkerungsgruppen und einigen der Eliten (bei einem Teil der staatlichen Bürokratie und bestimmten Unternehmerkreisen) zu Tage getreten war. Für diese war Putins Rückkehr ein Symbol für wirtschaftliche Stagnation, politische Restriktion, einen wachsenden Einfluss der Sicherheitsbehörden und eine Unsicherheit bei der Garantie von Eigentumsrechten, was sie dem Staat gegenüber weiterhin verwundbar machte. Putin begegnete den Anzeichen, dass man seiner Herrschaft müde war und Unzufriedenheit äußerte, mit einer Reihe von harschen politischen Maßnahmen sowie politischen und sozialen Restriktionen (die sich bis in den Bereich des Privatlebens und der Moralnormen erstrecken), mit einem antiwestlichen und konservativen Aufwall, und mit aggressiver Expansion bei der Verteidigung dessen, was Russland als seine Zone privilegierter Interessen definiert.
Putin 3.0 – besondere Merkmale
Putins gegenwärtiges Modell der Regierungsführung ist nicht gänzlich neu, und es ist weitgehend eine Fortsetzung des Systems, das er in den 2000er Jahren entwickelt hatte. Vor dem sich wandelnden politischen und sozialen Hintergrund sind einige neue Elemente entstanden. Die wichtigsten sind eine zunehmende Personalisierung der Kreml-Politik, eine Zuspitzung und Ausweitung der repressiven Maßnahmen und der Staat eines konservativen Ideologie-Projekts, das mit den moralischen Restriktionen und der vehementen antiwestlichen Ausrichtung korrespondiert.
Putins Regierungsmodell hat stets eine Personalisierung der Macht bevorzugt auf Kosten eines Aufbaus dauerhafter Institutionen. Der Grad der Personalisierung nimmt allerdings sichtlich zu. Was einst ein kollektiver Lenkungsstil a la »Putin und sein Politbüro« gewesen war, wird zunehmend zu einem »Putin gegen den Rest der Welt«. Putins Kreml tritt nun einem Teil der eigenen Unterstützerbasis entgegen, insbesondere jenen, die eine liberaler ausgerichtete Politik erwartet, und damit Putin in dessen Augen »verraten« hatten. Anstelle eines »erkauften Loyalität« wie in den 2000er Jahren ging Putin zu einer »erzwungenen Loyalität«. Er änderte die Mechanismen zur Lenkung der Eliten von Anreizen (Verteilung von Vermögen und Posten, Gewährung von Immunität) zu negativen Sanktionen (Machtdemonstration und selektive Strafen zur Verbesserung von Kontrolle und Disziplin). Er hat eine Politik begonnen, die mit »Nationalisierung der Eliten« betitelt wurde und zu einer strengeren Kontrolle von Vermögen im Ausland, das von Amtsträgern besessen wird sowie von deren Tätigkeit dort; das sollte deren Abhängigkeit vom Kreml erhöhen. Zu dieser Kampagne gehörten auch gegen einflussreiche Mitglieder der Staatsverwaltung gerichtete Korruptionsskandale sowie die Schaffung einer Datenbank von »kompromat« (kompromittierenden Materialien), die von Beratern des Präsidenten angelegt wurde und Auflistungen über den Besitz, den die Betroffenen in Russland und im Ausland haben. Putin betont auch gern seinen Status als wichtigster Entscheider, der willkürlich und oft unberechenbar handelt. Zu den jüngsten Beispielen willkürlicher Entscheidung gehören die gegen die Eliten gerichteten Regelungen, einige außenpolitische Entscheidungen, die eine Überraschung für das Außenministerium bedeuteten, und die plötzliche Freilassung von Michail Chodorkowskij.
Wegen des zunehmenden Misstrauens gegenüber seiner politischen Basis hat Putin Veränderung in seiner engsten Umgebung vorgenommen, wobei er Leute mit KGB-Hintergrund und willfährige Erfüllungsgehilfen für seine repressive Politik förderte. Solche Menschen hatten stets zu seiner Mannschaft gehört, aber auch einem Gegengewicht durch andere Gruppen mit liberaleren Haltungen gegenübergestanden. Derweil umfasst Putins engster und vertrautester Kreis überwiegend »falkenartige« Funktionäre und seine langjährigen Geschäftspartner, von denen die meisten einen KGB haben. Zu den einflussreichsten Genossen gehören die Spitzenvertreter der Präsidialadministration Sergej Iwanow, Wjatscheslaw Wolodin und Jewgenij Schkolow, der stellvertretende Ministerpräsident Dmitrij Rogosin, Rosneft-Chef Igor Setschin, der Vorsitzende des Strafverfolgungskomitees Alexander Bastrykin sowie die Chefs von Staatskorporationen bzw. –unternehmen Wladimir Jakunin (Russische Eisenbahnen) und Sergej Tschemesow (Rostech). Zu nennen sind auch Jurij Kowaltschuk, Gennadij Timtschenko und Arkadij Rotenberg, Privatunternehmer, die mit Putins Unterstützung ein Vermögen gemacht haben. Wenn auch einige dieser Personen kein staatliches Amt bekleiden, sind ihre Einflussmöglichkeiten auf Entscheidungen des Staates enorm. Ein Beispiel ist Schkolow, ein wenig bekannter Funktionär, dem die delikate Mission anvertraut wurde, das Vermögen und die Deals der Elite zu überwachen. Die »Tauben«, die einst Schlüsselfiguren in Putins Mannschaft waren, sind in die Defensive: Prominente wie Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin und der stellvertretende Ministerpräsident Dmitrij Kosak, der Chef der Sberbank German Gref und andere Unternehmer, Diplomaten und bestimmte Kabinettsmitglieder.
Konservative Stützen des politischen Modells
Eine weitere Neuerung während Putins dritter Amtszeit ist der Aufschwung konservativer Ideen in der Rhetorik Moskaus, die sowohl ins Inland wie auch ins Ausland gerichtet sind. Die Rhetorik ist nun reich an Referenzen an russische nationale Traditionen, den orthodoxen Glauben und eine moralische Bestimmung der »Russischen Welt« die den westlichen Gesellschaften gegenüber, denen wegen ihres »moralischen Verfalls« ein Niedergang attestiert wird, überlegen sei. Der Westen wird als Aggressor gesehen, der in Russlands Interessensphäre vordringt, und als Quelle alternativer politischer und bürgerlicher Werte. Wenn auch moralische Begrifflichkeiten in dieser Rhetorik überwiegen, besteht das Rückgrat in Wirklichkeit in einer Opposition zum westlichen Regierungsmodell und den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft dort.
Während in der Mentalität der herrschenden Gruppe in Russland (die noch aus deren KGB-Vergangenheit herrührt) antiwestliche Ansichten tief verwurzelt sind, sollten die konservativen Werte, die sie vertreten, nicht als Abbild ihrer echten Ansichten oder Grundideologie behandelt werden. Vielmehr ist der Konservatismus zu einem politischen Projekt geworden, das aktuellen Zielen dienen soll, also einer ideologischen Unterfütterung für Putins Herrschaftssystem. Es ist also mit anderen Worten das Ziel, ein (post)sowjetisches Herrschaftsmodell zu bewahren (»konservieren«), eines, das von oben nach unten ausgerichtet ist, mit einer klaren Grenze zwischen Herrschenden und Beherrschten und mit einer zentralisierten und personalisierten Macht, die der Gesellschaft gegenüber nicht verantwortlich ist. Die von Putin propagierte Vision ist weniger als »konservativ« zu bezeichnen, sondern eher »reaktionär« und »rückwärtsgewandt«. Die Maßnahmen, die unter dem Banner des Konservatismus laufen im Kern auf eine Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten hinaus. Die Gesetze, die das Parlament nach Absegnung durch den Kreml verabschiedet hat, stellen verschieden Formen politischer und sozialer Aktivität unter Strafe, schnüren den Griff des Staates um das Internet und die Meinungsfreiheit enger, verstärken die Kontrolle über Bürgerinitiativen (NGOs) und stellen »unmoralische Handlungen« und eine »Verletzung der Gefühle von Gläubigen« unter Strafe.
Der Einsatz von Ideologie zu politischen Zwecken ist in Russland nichts Neues; der Begriff der »souveränen Demokratie«, der von Wladislaw Surkow Mitte der 2000er ersonnen wurde, ist ein markantes Beispiel für solche Taktiken aus der Vergangenheit. Diesmal ist der antiwestliche Ton von wiederholten Referenzen an konservative Werte durchzogen. Die begannen ungefähr seit 2011 in Putins Reden aufzutauchen, vor seiner Rückkehr als Präsident und als Reaktion auf die sozialen Veränderungen, die Russland erschütterten. In dieser Zeit begannen Angehörige der urbanen Mittelschicht (auch einige Angestellte der staatlichen Verwaltung), das bestehende autoritäre Staatsmodell in Frage zu stellen. Die Unzufriedenheit erreichte während der massenhaften Straßenproteste um den Jahreswechsel 2011/2012 ihren Höhepunkt. Ein zentrales Element der repressiven Politik, die als Antwort verfolgt wurde, war konservative und antiwestliche Rhetorik mit dem Zweck, Andersdenkende zu stigmatisieren. In seinen öffentlichen Reden brandmarkt Putin seine Gegner als »fünfte Kolonne« des Westerns, »Nationalverräter« und »ausländische Agenten«, alles vor dem Hintergrund der »verfallenden Moral« des Westens. Putin trennte somit symbolhaft die »gesunde und konservative« Mehrheit der russischen Gesellschaft von einer entfremdeten »kosmopolitischen« Minderheit, die angeblich im Interesse des Westens handelt.
Was 2011/2012 als defensives, gegen den »liberalen Aufruhr« gerichtetes Projekt begann, entwickelte sich bis 2013/2014 zu einer offensives Unternehmen. Konservative Rhetorik wurde zum Instrument bei Moskaus diplomatischer Offensive, die das Vorgehen des Westens in Syrien und im postsowjetischen Raum zum Ziel hatte; insbesondere wurde gegen die Pläne der Ukraine, Moldaus und Georgiens vorgegangen, Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Überaus wertvolle Unterstützung bei der externen Propagierung von Putins konservativem Projekt leisteten das Fernsehen von Russia Today und Soft Power-Organisationen (»Russkij Mir«, »Rossotrudnitschestwo« und verschiedene orthodoxe Organisationen, etwa die St. Andreas-Stiftung). Putin präsentierte Russland (und sich selbst) als einzige Verteidiger »heiliger, konservativer« Werte, die durch den moralischen Verfall und die doppelten Standards des Westen gefährdet seien. Putins Rhetorik rief überraschenderweise in rechten Kreisen des Westens, darunter bei Pat Buchanan, der Anführerin der französischen Rechtsextremen, Marine LePen, der rechtsextremen NPD in Deutschland und sogar bei polnischen »Radikalliberalen« wie Janusz Korwin-Mikke Begeisterung hervor.
Die Krise als Verstärker: Der Fall der Krim
Die strategische Entscheidung, das System »einzufrieren« erhöhte die Gefahr einer Stagnation, da die Wirtschaft politisiert und ineffizient bleibt, und die aktivsten und innovativsten Bevölkerungsgruppen mit zehllosen Restriktionen überzieht. Obwohl Putin selbst eingeräumt hat, dass das rohstofforientierte Wirtschaftsmodell Russlands sich erschöpft hat, bot seine Politik keinerlei Alternative an. Durch das Verwerfen eines »Entwicklungs-Szenarios« musste der Kreml zu »Not-Szenarien« Zuflucht nehmen, um die Nation zu mobilisieren und sie um den Herrscher herum zu konsolidieren. Für Putin war das nicht die schlechteste Lösung. Über seine gesamte Regentschaft hinweg waren es »Notfälle« unterschiedlicher Art, die seine Popularität am stärksten hochschnellen ließen. Er hatte 1999, nach den Bombenanschlägen auf Wohngebäude in Moskau und Wolgodonsk und dem Militäreinsatz in Tschetschenien einen schnellen politischen Aufstieg erlebt. Seine Umfragewerte erreichten 2008 während des Krieges mit Georgien mit 88 % einen Höhepunkt, der 2014 nach der Annexion der Krim mit 86 % (Umfragen des Lewada-Zentrums) fast wieder erreicht wurde.
Die Annexion der Krim im März 2014 wurde zu einer der »meistgefeierten Erfolgsgeschichten« Russlands unter Putin. Die Annexion, die so plötzlich und unerwartet erfolgte, passte perfekt auf die neue Bühne der russischen Staatswerdung und der aggressiven Gewährleistung der Kontrolle über Russlands »privilegierte Interessenssphären«. Auf kurze Sicht bedeutete die Annexion der Krim einen mächtigen Schwung: Sie hat nicht nur Putins Umfragewerte befördert, sondern versorgte ihn mit einem Blankoscheck für einen weiteren autoritären Staatsaufbau. Diese Unterstützung durch eine »überwältigende« Mehrheit wird als ausreichende Begründung behandelt, die Schrauben fester anzuziehen. Oppositionsaktivisten sehen sich zusätzlichen Verfolgungen ausgesetzt (insbesondere Alexej Nawalnyj und seine Verbündeten), es werden eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die sich gegen Blogger und globale Internetunternehmen richten, bei mehrfacher Staatsbürgerschaft und Zahlung per Internet wird die Kontrolle verschärft, und Gesetze zu Extremismus und Gotteslästerung werden mit Blick auf politische Opponenten entworfen. Diese konzentrierte Unterdrückung hat Putins liberale Opponenten in Verwirrung gestürzt, sie wurden versprengt und zum Schweigen gebracht; viele wurden ihres Einkommens beraubt, da ihre Projekte und Medien geschlossen wurden. Viele prominente Figuren haben Russland verlassen, bekannte Journalisten, NGO-Ativisten, Geschäftsleute und Experten. Diese Emigration ist als »Emigration der Desillusionierten« bezeichnet worden, von denen die meisten in die Ukraine zogen und Kiew zur neuen Hauptstadt der russischen Opposition gemacht haben. Die russische Hauptstadt Moskau blieb zurück, um Zeuge von Putins scheinbarem Triumpf zu werden, den kaum jemand in Frage stellt.
Tönerne Füße?
Die Annexion der Krim und die Eindämmung der Unzufriedenheit haben die Unterstützung für die derzeitigen Machthaber steigen lassen und sie haben zu einer Stabilisierung ihrer Herrschaft beigetragen. Diese Maßnahmen werden aber die ungelösten und sich weiterhin akkumulierenden systemimmanenten Probleme der Wirtschaft nur vorübergehend verdecken können. Fossile Rohstoffe machen einen zunehmenden Anteil der Haushaltseinnahmen aus, ausländische Direktinvestitionen sind auf 40 Prozent des Niveaus von 2013 gefallen und die Kapitalflucht hat sich verdoppelt. Ein drastischer, schwieriger abzuschätzender Verlust ist die Emigration innovativster Personen, die treibende Kräfte einer Modernisierung hätten sein können, falls ihnen ausreichend Freiheit gegeben ist.
Die außenpolitischen Erfolge Russlands sind mehr als zweifelhaft. Die anfängliche Krim-Euphorie macht Befürchtungen und ersten Anzeichen von Unzufriedenheit mit der neuen strengen Realität Platz. Viele Bewohner der Krim haben ihre Einkommensgrundlage verloren, weil die Tourismusbranche mit den durch die Annexion verursachten Problemen zu kämpfen hat. Darüber hinaus bewirken die russischen Gesetze, die nun auf der Halbinsel gelten, dass Gesellschaft und Unternehmer sehr viel ungeschützter gegen staatlichen Raub sind, als noch unter den ukrainischen Gesetzen. Hinzu kommt, dass Russland den Propagandakrieg in der Ostukraine allmählich zu verlieren scheint: Die Stimmungen in Donetsk und Luhansk wenden sich so langsam gegen Putin, von dem gesagt wird er habe die Menschen dort alleingelassen und verraten. In Dnepropetrowsk und Odessa, Städten, die sich nie einer starken ukrainischen Identität rühmten, hat die militärische Aggression einen Aufschwung von proukrainischem Patriotismus und antirussischen Haltungen stimuliert. Die weitere Entwicklung in der Ukraine könnte sehr wohl für Russland Herausforderungen mit sich bringen, die dessen Krim-Sieg wettmachen würden.
Entwicklung oder Stabilität ?
Putins Herrschaftsmodell mag zwar der Entwicklung des Landes nicht dienlich sein, aber es fördert die Dauerhaftigkeit seines Regimes. Man könnte sogar sagen, dass die schnelle Wirtschaftsentwicklung Putin einen üblen Streich gespielt. Sie ließ soziale Gruppen aufsteigen, die nach der Befriedigung ihrer grundlegenden ökonomischen Bedürfnisse höhere, nicht ökonomische Erwartungen entwickelten, die nicht zum Putinschen Staatsmodell passten. Diese Gruppen waren dann für den Kreml die eigentlichen Unruhestifter, nicht die äremere Mehrheit, die Schwierigkeiten gewöhnt ist und geduldig abwartet, bis die harten Zeiten vorbei sind. Trotz Erklärungen, dass die Leute zu Protesten bereit sind, wenn sich die Lage verschlechtert, hat es keine Massendemonstrationen gegeben, die durch wirtschaftliche Schwierigkeiten getrieben waren, nicht einmal während der Krise von 2008/2009. Es scheint, als würden wirtschaftlich harte Zeiten als destabilisierender Faktor oft überschätzt. Proteste dieser Art könnten erfolgen, wenn der Ölpreis fällt, doch ist das seit Jahren nicht geschehen, trotz zahlreicher Vorhersagen, dass der Ölmarkt übersättigt sei.
Politische und wirtschaftliche Stagnation stehen auf Putins gegenwärtiger Agenda und werden als ein Weg betrachtet, auf dem die eigene Macht so lang wie möglich zu bewahren wäre. Wenn es auch rückwärts gerichtet sein mag –das System hat auch seine Sicherheitsvorteile: gesellschaftliche Trägheit, versprengte Opponenten und stabile Preise auf fossile Rohstoffe. Das System ist offensichtlich anfällig für Probleme und wird sich wohl vielen Herausforderungen gegenüber sehen, doch seine zunehmende Verschlossenheit und Geheimhaltung sowie die Unberechenbarkeit machen es schwierig, den entscheidenden Faktor zu diagnostizieren, der schließlich den Wandel bringt. Eines ist sicher: Wenn ihre Macht bedroht wird, werden die Entscheidungsträger an der Spitze jedes Mittel einsetzen, diese zu verteidigen. In ein paar Jahren könnte eine weitere »Krim« vonnöten sein. Was wird das dann sein?
Übersetzung: Hartmut Schröder