Phantom des Imperiums

Die Ukraine-Krise wird immer häufiger zum Ausgangspunkt bei innerrussischen Debatten über Innenpolitik, den Wandel in der Gesellschaft und die Transformation des eigenen Wertesystems.

Welchen Anteil hat Russland an der Ukraine-Krise gehabt und welche Verantwortung für den Krieg im Osten der Ukraine trägt der Kreml? Welche Auswirkungen können Transformationsprozesse in der Ukraine auf die russische Gesellschaft haben? Inwieweit fördert das Regime die Verbreitung einer neosowjetischen Ideologie im Lande? Welche Werteorientierung haben russische Bürger 23 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion? Über diese Fragen diskutieren in ihren Blogs die Journalisten Andrej Archangelskij und Dmitrij Olschanskij, die Psychologin Ludmila Petranowskaja und der Schriftsteller Viktor Jerofejew.

Dmitrij Olschankij: Moralisches Verbrechen des Kreml

»Der Donbass ist ein riesiges moralisches Verbrechen unserer Regierung, das muss man ehrlich sagen. Da ging und geht es – trotz patriotischer Propaganda – nicht um irgendeinen ethnischen, rassistischen oder religiösen Genozid, nicht um so etwas wie die Vernichtung der Juden oder Indianer.[…] Da gab es schlicht ein Gefühl der Erbitterung, den Unwillen ein fremdes nationales und politisches Projekt zu leben, ein Gefühl der Ungerechtigkeit und einer aufgenötigten Zweitrangigkeit. Aber alle auszurotten und wegzujagen, die Russisch sprechen, das hat kein Ukrainer vorgehabt. […]

Was hat aber unsere Macht getan?

Sie gab ihnen durch die Krim-Geschichte Hoffnung, sie gab ihnen zum zweiten Mal die Hoffnung in Gestalt von Putin, der von einer ›Verteidigung der russischen Welt‹ und von einer ›roten Linie bei der Gewalt gegenüber den eigenen Bürgern‹ sprach, sie sendete noch viele Signale über das Fernsehen, über Politiker und Sicherheitskräfte, und sah dann weg, als ob sie hier nur Blümchen gießt und auf Timtschenkos Gelder aufpasst. Das wären also Andeutungen eines gerissenen Plan Putins, und die Streitkräfte, die kommen dann irgendwann später.

Die Menschen aber sind allein unter den Bomben geblieben. Sie haben gedacht: die ›Opoltschenzy‹, die Volksmilizen würden die Checkpoints übernehmen, ein Referendum würde stattfinden, und dann käme die Anerkennung durch Russland, die Armee, Zahlungen an diejenigen, die aus dem Haushalt entlohnt und versorgt werden. Sie hatten eine zweite Krim gebucht und nicht die ›Hütte im Flammen‹.

Putin hat aber anders entschieden. Aus diesem Grund kann ich Strelkow keinen Vorwurf machen. Ich habe aufmerksam gelesen, was er geschrieben hat, als er im März noch auf der Krim war. Strelkow hatte offensichtlich an eine Unterstützung durch Moskaus geglaubt. Hätte er gewusst, in welche Bedingungen er in Wirklichkeit geraten würde, hätte er niemanden reingeritten, umso mehr, als seine Mission ohne das Mitgefühl der Bevölkerung völlig sinnlos wäre.

Putin hat aber, das sei nochmal gesagt, anders entschieden. Die Entscheidung bedeutete: Blut und Albtraum für einen obskuren Deal mit den Europäern, für politischen Druck auf Kiew, und Gott weiß wofür noch einzusetzen; es bedeutete die Entscheidung, den Donbass nicht zu befreien, sondern es in einen Gazastreifen zu verwandeln, das ist ein Verbrechen.

Die Strafe wird noch kommen.«

Dmitrij Olschankij in Facebook, 5 Juli 2014 <https://www.facebook.com/spandaryan/posts/782661515088002>

Ljudmila Petranowskaja: Der Abschied des Imperiums als Verlust

»Es ist interessant zu beobachten, wie das imperiale Bewusstsein der Russen all jene Stadien durchlebt, die für Verlusterfahrungen beschrieben werden.

Als die Sowjetunion zerfiel, ›hat keiner was kapiert‹. Es gab ja genug andere Probleme. Das heißt, der Schock durch den Zusammenbruch des Imperiums war mit dem Schock durch den Zusammenbruch von so vielen anderen Dingen verbunden, dass es schwierig war, diesen als gesonderten Zusammenbruch zu begreifen.

Vermutlich deshalb blieb man im nächsten Stadium stecken, in dem der Verleugnung. 23 Jahre lang.

Verleugnung ist all das: ›ja, wir sind in Wahrheit ein Volk‹, ›wir sind doch Brüder, was sollen wir da trennen?‹, ›Grenzen, das sind nur Festlegungen, die sich Politiker ausgedacht haben‹, ›Ihr seid ja verrückt: UNSERE Ukraine ein anderer Staat – wie kann das denn sein, wir haben doch zusammen im Krieg gekämpft!‹, ›Wie denn, spricht man dort nicht Russisch? WAS DENN SONST?‹ und so weiter.

[…]

Der erste Weckruf, der einen Teil der Russländer aus der Verleugnung gerissen hat, das war der Maidan 2004, als die Ukrainer sich zum ersten Mal als eine Bürgernation gemeldet haben. ›Mann, diese Ukrainer, die sind ja verrückt!‹: das war die Reaktion aus dem Norden. Beispiele einer unfreundlichen Haltung zum ›älteren Bruder‹ und dessen Einmischung in das politische Leben des Landes wurden von einem besorgten und misstrauischen: ›Warum denn? Sind die etwa von den Westerlingen bearbeitet worden? Sind die von Amerika gekauft?‹ begleitet. Ganz wie Eltern, die festgestellt haben, dass sie ihren pubertierenden Nachwuchs nicht mehr kontrollieren können, und dann üblicherweise mit einer Version von ›schlechter Gesellschaft‹ und ›Einfluss des Internets‹ ansetzen. Damals hat sich übrigens alles ziemlich schnell wieder gelegt. […]

Die Verleugnungsphase endete plötzlich, und wie das so ist, mit dem Maidan. Die Schutzmechanismen bebten in allen Nähten und brachen unter dem Andrang der Ereignisse zusammen. Was auch immer das Fernsehen verkünden mochte, man kam nicht umhin, die Fotos von Kundgebungen mit einer halben Million Teilnehmern zu sehen. Es ist nun unmöglich geworden, die Tatsache aus dem Bewusstsein zu verdrängen, dass die Menschen in den Kugelhagel gingen, etwas riskierten und starben – und wofür? Es wurde unmöglich, die Stimmen der eigenen ukrainischen Bekannten und Freunde zu ignorieren, die sagen: Ja, das ist UNSERE Wahl, ja, das ist UNSER Land.

Und hier wird die Verneinung von dem abgelöst, was normalerweise folgt, nämlich von Zorn, Wut, Protest, Hysterie. ›Wie könnt ihr es wagen? Ihr, die Unternation, das Unterland, dieser Missverständnis-Staat. Wir haben euch genährt, wir haben euch geliebt, wir haben euch für die UNSRIGEN gehalten, und ihr habt uns ins Gesicht gespuckt, Verräter‹. Wie ein Mantra wiederholt sich der Vorwurf: ›Ihr habt euer Land zerstört, auf euch warten Chaos und Bürgerkrieg‹, was in Wirklichkeit heißt: ›Ihr habt UNSERE Welt zerstört, auf UNS warten Desorientierung und Identitätskrise (denn was bedeutet Bürgerkrieg, wenn nicht ein äußerst akutes Auftreten einer Identitätskrise, eines inneren Konflikts einer Nation?)‹.

In dieser Zorn-Phase sind Menschen wenig angenehm und kaum zurechnungsfähig. Davon konnte sich in den letzten Monaten jeder, der es wollte (oder auch nicht), überzeugen. Sie sind ungerecht, ungeduldig, grausam, sie sehen die Fakten selektiv, sie haben Schmerz – und sie schleudern diesen Schmerz in die Welt zurück, ohne nachzudenken, wohin, und bei wem er ankommt.

[…]

Die nächste Phase, folgt man der Wissenschaft, ist die Depressions-Phase.

Hier dürften wirtschaftliche Faktoren im Einklang stehen, so leid es mir tut. Eine Depression in der Wirtschaft kann sich mit der Depression in der Bevölkerung überlagern. Es gibt eine Wahrscheinlichkeit, dass viele von denen, die sich zuvor in erregtem Zustand befunden hatten, zu trinken anfangen oder aus dem Leben scheiden wollen, oder einfach ihre Gesundheit aufgeben.

[…]

Auch die Bürger der Ukraine erleben in einem gewissen Maße einen Verlust. Das bisherige Weltbild war immerhin auf eigene Art bequem: Was sind wir denn, wir sind ein ruhiges Land am Rande, wir leben für uns und lassen andere leben, wir haben Häuschen, Mohn und Teigtaschen. Es waren bei weitem nicht alle Nationalisten, die Kampftänze lernen. Der Mehrheit fiel es schwer, das Zähnefletschen des »Großen Bruders« zu erleben und zu verarbeiten, einen neuen »Sammelpunkt« zu finden und zu begreifen, dass niemand kommt und für uns entscheidet, sondern dass wir selbst Zähne zusammenbeißen müssen, und dass es nicht mehr so weitergehen wird, ein stilles Land zwischen zwei Welten zu sein.

[…]

So oder so, wenn wir auf Russland zurückkommen, wird auch das vorbeigehen, nach der Depressions-Phase folgt endlich die Akzeptanz des Verlustes, die Annahme einer neuer Identität, eines neuen Lebensplans, was subjektiv als Wiedergeburt empfunden wird, als Gesundung nach einer schweren Krankheit, als Rückkehr von Interesse, Freude, des Glaubens an sich selbst, nun aber eines neuen Selbst, unter neuen Bedingungen.

Dann gibt es die Chance, dass sich Russland endlich vom Phantom des Imperiums verabschiedet und seinen eigenen Weg eines normalen, starken, gesunden Landes einschlagen wird. Eines jungen Landes, eines ganz jungen Landes.[…]«

Ljudmila Petranowskaja in Livejournal, 7. Juli 2014 <http://ludmilapsyholog.livejournal.com/236689.html>

Viktor Jerofejew: »Wir sind aller-aller-aller-«

»Wir sind aller-aller-aller-. Und weil wir aller-aller-aller- sind, ist unser Volk das allerzerteilteste Volk auf der Erde. In der Neueren Geschichte haben wir zwei Werte-Katastrophen erlebt. Zwei Mal in den letzten hundert Jahren sind unsere Vorstellungen über das Gute und das Böse in alle Richtungen auseinander geflogen. Das erste Mal, das war im November 1917. Der revolutionäre Umsturz sprengte unsere traditionelle Axiologie in die Luft. Die war zwar nicht vollkommen gewesen, aber höchst organisch.

Siebzig Jahre lang wurde dann ein neues Wertesystem errichtet, 1991 ist auch das zusammengebrochen. Die einen hatten es nicht angenommen, die anderen konnten ohne es nicht leben; nachdem es aber auseinandergeflogen war, stellte sich heraus, dass wir in einem Eismeer der zerbrochenen Werte schwimmen.

Wir mussten dann irgendwie überleben. Jeder überlebte auf eigene Art und Weise. Jeder schnappte irgendwelche Werte auf, zufällige, aufgetragene, durchdachte oder sinnlose; bei jedem so, wie es gerade ging. Manche Werte wurden der Familie entnommen, manche den Büchern, andere von der Straße, aus der Gasse. Werte aus dem Gefängnis, aus der Schule, von überall her ein bisschen.

So kommt es, dass jeder von uns seinen Wertebeutel hat, und die Werte wie kunterbunte Murmeln in diesem Beutel stecken. Wir stehen da, halten diese Beutel in unseren Händen, und die Murmeln stimmen bei uns nicht überein. Die einen haben diese Sammlung von Werten, die anderen eine ähnliche, die aber doch anders ist, und andere wiederum eine Sammlung, wo aber auch gar nichts ähnelt.

Prozente. Wir bestehen aus Prozenten. Manche haben 70 % imperiale Murmeln, der Rest ist Gleichgültigkeit, andere haben 55 % demokratische Werte, um orthodoxe ergänzt; manche haben einen hohen Anteil stalinscher Werte, andere wiederum Werte der Westler, dann gibt es welche, da flattern alle möglichen Bändchen im Kopf und dazu noch allerlei Murmeln aus Patriotismus, Egoismus, Hedonismus, Ehrgeiz, heiliger Rache, gar eines gewissen Sadismus. Und es gibt da Murmeln der Aufopferung und wiederum der Gleichgültigkeit. […]«

Viktor Jerofejew bei snob.ru, 14. Juli 2014 <http://www.snob.ru/selected/entry/78535>

Andrej Archangelskij: Wärter des Toten

»Alles ist logisch. Wenn in 20 Jahren in Russland keine neue, offiziell anerkannte und geförderte, den neuen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen angepasste Ideologie entstanden ist, wie etwa ›verdiene dein Glück durch eigene Leistung‹ oder ›nicht lügen, nicht klauen‹, dann entsteht ein Vakuum. Wenn an diese Stelle (eben weil es ›da etwas geben muss‹) langsam, behutsam und dann ganz offen sowjetische Ideologie platziert wird, und das vor allem auf der ästhetischen und ethischen Ebene, nach dem Motto ›wir lieben die Vergangenheit, wir rühmen die Heldentaten unserer Väter‹. Niemand sagt euch direkt, ›wir kehren in die UdSSR zurück‹, es geschieht irgendwie indirekt und mittelbar… Dann ergibt sich in Wirklichkeit Folgendes: Wir leben in gestriger, toter Idee, einer düsteren, ineffektiven und nicht zu realisierenden Idee. Aber wir leben? Es gibt ja nichts anderes?… Und wenn dem so ist, werden entsprechende Phantome geboren. Erscheinen Adepten des Toten. Werden Hüter des Toten geboren. Gläubige des Toten. Junge Anhänger des Toten. Der Kult des Toten in unserer Patriotik hat genau hier seinen Ursprung. […]«

Andrej Archangelskij auf Facebook, 1. Juli 2014 <http://besttoday.ru/read/6727.html>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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