Briefwechsel über die Zukunft des »Petersburger Dialogs«

Schreiben von Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen an die Bundeskanzlerin und den Außenminister zum »Petersburger Dialog«, 2. Oktober 2014 [nachträglich veröffentlicht]

Berlin, 02. Oktober 2014

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Außenminister,

als Personen, die sich seit vielen Jahren intensiv im zivilgesellschaftlichen Dialog mit Russland engagieren, wenden wir uns mit diesem Schreiben an Sie, um zu erläutern, warum wir uns in diesem Jahr nicht am Petersburger Dialog beteiligen können. Zugleich möchten wir für eine Erneuerung des Petersburger Dialogs werben.

In Reaktion auf die politische Wende in der Ukraine, die durch eine breite gesellschaftliche Protestbewegung hervorgerufen wurde, hat die russische Führung völkerrechtswidrig die Krim annektiert und einen unerklärten Krieg neuen Typs im Osten der Ukraine begonnen. Zugleich betreibt die Regierung unter Präsident Putin die systematische Ausschaltung der letzten unabhängigen Medien in Russland, die Kriminalisierung aller Formen politischer Opposition und die Diskreditierung unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen als »ausländische Agenten«. Mittlerweile wurden 12 russische Nichtregierungsorganisationen vom russischen Justizministerium zwangsweise auf die Liste »ausländischer Agenten« gesetzt und sind daher zukünftig verpflichtet, sich bei jeder öffentlichen Äußerung wahrheitswidrig selbst als solche zu bezichtigen. Zehn dieser Organisationen spielen in der deutschrussischen zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit seit Jahren eine wichtige Rolle, einige von ihnen haben mehrfach am Petersburger Dialog teilgenommen. Gegen einige von ihnen sind bereits existenzbedrohende Strafgelder wegen Verstoßes gegen das sog. Agentengesetz verhängt worden. Es drohen Organisationsschließungen und die Kriminalisierung der Vorstände. Unter diesen inneren und äußeren Bedingungen können wir uns nicht an einer Neuauflage des Petersburger Dialogs in der bisherigen Form beteiligen.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Außenminister,

der seinerzeit von Bundeskanzler Schröder und Präsident Putin initiierte Petersburger Dialog konnte die ihm zugedachte Aufgabe, zu einer Vertiefung und Verbreiterung der gesellschaftlichen Verbindungen zwischen Deutschland und Russland beizutragen, auch in den vergangenen Jahren nur sehr bedingt erfüllen. Dies lag vor allem an der starken Nähe des Führungspersonals auf der russischen Seite zum politischen Machtzentrum im Kreml, die von Beginn an den Eindruck einer »von oben« inszenierten und kontrollierten Veranstaltung nährte. Doch auch auf deutscher Seite wird der Petersburger Dialog bis heute von Personen dominiert, die aus politischer und ökonomischer Opportunität dazu neigen, Kritik am Kurs der russischen Führung als Störung der »deutsch-russischen Freundschaft« zu betrachten. Zeitweise kam es zu der paradoxen Situation, dass kritische Äußerungen zu Menschenrechtsverletzungen in Russland oder zum Vorgehen des Kremls gegenüber Georgien aus den Reihen der deutschen Delegation als »Kalte-Kriegs-Rhetorik« verteufelt wurden. Nüchtern betrachtet, waren die kritischen Stimmen aus der russischen und deutschen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren nur eine geduldete Minderheit, die dem Petersburger Dialog den Anschein von Pluralismus und offener Diskussion verschaffte. Ungeachtet dieser Kritik haben wir uns in der Vergangenheit am Petersburger Dialog beteiligt, da wir grundsätzlich jedes Dialogpotenzial nutzen wollen und uns von der gemeinsamen Beteiligung mit unseren Partnern aus der russischen Zivilgesellschaft eine politische Absicherung dieser Zusammenarbeit erhofften.

Diese ohnehin schwachen Hoffnungen wurden durch die Entwicklungen in diesem Jahr zerstört. Vertreter unabhängiger zivilgesellschaftlicher Organisationen, die auf der russischen Seite zum Petersburger Dialog eingeladen werden, sind angesichts der politischen und juristischen Bedrohung, der sie ausgesetzt sind, in ihrer Entscheidung über ihre Teilnahme nicht mehr frei. Wenn sie der Einladung nicht folgen, müssen sie weitere Repressalien befürchten. Uns, denen die Freiheit der Entscheidung gegeben ist, ist es nicht möglich, durch Teilnahme am Petersburger Dialog in Sotschi an der Aufstellung einer Potemkinschen Fassade namens »Dialog der Zivilgesellschaften« mitzuwirken, während die kritischen zivilgesellschaftlichen Gruppen in Russland als »Agenten« diskreditiert und vielfach drangsaliert werden.

Zugleich möchten wir unsere Bereitschaft unterstreichen, an einer Reform des Petersburger Dialogs in organisatorischer, inhaltlicher und personeller Hinsicht mitzuwirken. Eine solche Reform sollte darauf ausgerichtet sein, über die Auswahl der Formate, Themen und Teilnehmer die tatsächliche Lage der russischen Zivilgesellschaft in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken und einen offenen Dialog zu ermöglichen. Wir sind ganz damit einverstanden, dass gerade in kritischen Zeiten die Zusammenarbeit zwischen der russischen und deutschen Zivilgesellschaft gestärkt werden muss. Sofern der Petersburger Dialog in Zukunft dafür ein Forum bietet, werden wir uns gern daran beteiligen.

[Unterzeichner nicht veröffentlicht]

Quelle: Website der Böll-Stiftung <http://www.boell.de/de/2014/10/13/reform-petersburger-dialog-ueberfaellig>

Offener Brief an den Vorsitzenden des Petersburger Dialogs, Lothar de Maizière, vom 10. Oktober 2014

- Offener Brief -

Herrn

Dr. h.c. Lothar de Maizière

Vorsitzender des Vorstands

Petersburger Dialog e.V.

Schillerstraße 59

10627 Berlin

Berlin, 10. Oktober 2014

Petersburger Dialog 2014 in Sotschi

Sehr geehrter Herr de Maizière,

als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutscher zivilgesellschaftlicher Organisationen, die seit der Gründung des Petersburger Dialogs 2001 über viele Jahre hinweg an dieser Veranstaltung teilgenommen haben, möchten wir Ihnen gegenüber folgende Erklärung abgeben:

Wir haben uns entschieden, am 14. Petersburger Dialog in Sotschi nicht teilzunehmen, der für den 29.–31. Oktober angekündigt worden ist. Für diese Entscheidung, die wir sorgfältig diskutiert und abgewogen haben, möchten wir drei Gründe anführen:

Der Petersburger Dialog in seiner jetzigen Form steckt in einer Krise. Von Jahr zu Jahr wird er seinem eigenem Anspruch weniger gerecht. Die Veranstaltung soll dem zivilgesellschaftlichen Dialog dienen. Tatsächlich sind Struktur, Nominierungsverfahren und Programm des Petersburger Dialogs maßgeblich von Akteuren aus Staat, Politik und Wirtschaft dominiert. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt der Petersburger Dialog leider nicht sein in seiner Satzung formuliertes Ziel, ein »offenes Diskussionsforum« zu sein, das die »Verständigung zwischen den Zivilgesellschaften beider Länder« fördert. Der Petersburger Dialog bedarf dringend einer grundlegenden Reform, wie sie auch CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag von 2013 eingefordert haben. Gerne würden wir uns aktiv an einem Prozess zur Reformierung des Petersburger Dialogs beteiligen, der auf eine pluralistische Zusammensetzung beider Lenkungsausschüsse und eine deutlich stärkere Ausrichtung auf unabhängige zivilgesellschaftliche Akteure zielt, ohne den interdisziplinären Ansatz der Veranstaltung aufzugeben.Die Situation, in der sich Teile der Zivilgesellschaft in Russland befinden, erfüllt uns mit großer Sorge. Das betrifft auch Partnerorganisationen und Personen, mit denen wir seit vielen Jahren zusammenarbeiten. Diese Organisationen üben für Russland und darüber hinaus wichtige gesellschaftliche Funktionen aus. Die Behinderung ihrer Arbeit durch bürokratische Hürden, aber auch durch willkürliche rechtliche Restriktionen und politische Diffamierung sind inakzeptabel. Darüber können wir nicht zur Tagesordnung übergehen. Wir wollen nicht zu Kronzeugen für einen vorgeblich freien Austausch werden, während zugleich die kritische Zivilgesellschaft in Russland massiv und systematisch unter Druck gesetzt wird.In Teilen der Ukraine herrscht ein Kriegszustand, für den die russische Führung eine maßgebliche Verantwortung trägt. Wichtige Vertreter dieser Führung spielen eine Schlüsselrolle im Petersburger Dialog, einschließlich des früheren Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten und Aufsichtsratsvorsitzenden von Gazprom, Wiktor Subkow, der der Vorsitzende des russischen Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs ist. Vor diesem Hintergrund möchten wir nicht durch unsere Teilnahme dazu beitragen, dass eine Normalität in den deutsch-russischen Beziehungen simuliert wird, die es derzeit wegen des Angriffs auf die politische Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine nicht geben kann.

Wir waren und sind weiter sehr an einem offenen Dialog über deutsch-russische Belange in einem gesamteuropäischen Kontext interessiert und halten ihn für eine Bedingung guter Nachbarschaft und Kooperation. Ein solcher Dialog muss aber auch von beiden Seiten gewollt und ermöglicht werden. Er darf zugleich nicht zum Nachteil Dritter geführt werden. Angesichts der aktuellen Lage und der bereits bekannt gewordenen Programmvorschläge für Sotschi sehen wir auch diese Voraussetzung gefährdet.

Dessen ungeachtet werden wir jede Möglichkeit nutzen, unsere Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und anderen Akteuren in Russland zu vertiefen und dieses Potential in einen bilateralen und europäischen Dialog einzubringen.

Mit freundlichen Grüßen

Ralf Fücks, Vorstand Heinrich Böll-Stiftung

Stefan Melle, Geschäftsführer Deutsch-Russischer Austausch e.V.

Stefanie Schiffer, Geschäftsführerin Europäischer Austausch

Tobias Münchmeyer, Stv. Leiter Politik Greenpeace e.V.

Quelle: <http://www.austausch.org/aktuelle-meldungen/newsdetail/article/1/offener-brie-1.html?no_cache=1&cHash=0428c5bffd>

Offener Brief des Vorsitzenden des Petersburger Dialogs vom 13. Oktober 2014

An

Ralf Fücks, Vorstand, Heinrich-Böll-Stiftung

Stefan Melle, Geschäftsführer, Deutsch-Russischer Austausch e.V.

Stefanie Schiffer, Geschäftsführerin, Europäischer Austausch

Tobias Münchmeyer, Stv. Leiter der Politischen Vertretung von Greenpeace e.V.

Berlin, 13. Oktober 2014

Ihr Schreiben vom 10. Oktober 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ihren offenen Brief habe ich erhalten. Dass Sie einen Brief ähnlichen Inhalts zunächst als nicht offenen Brief an die Bundeskanzlerin sowie den Außenminister verschickt haben, verwundert mich. Sie geben damit für die zivilgesellschaftliche Organisation des Petersburger Dialogs der Politik jene besondere Betonung, die Sie für die russische Seite in Ihrem Brief besonders kritisieren.

Ihre Nichtbeteiligung am Petersburger Dialog bedaure ich. Denn es entspricht der Überzeugung der meisten Mitglieder des Vorstandes und des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs, dass gerade angesichts zweifellos vorhandener Probleme für die Zivilgesellschaft, die Sie teilweise benennen, die offensive Auseinandersetzung zu solchen Themen gesucht werden muss. Indem man sich solchen Gesprächen entzieht, schadet man den Interessen der Betroffenen.

Sie schreiben, der Petersburger Dialog sei im Inneren zu reformieren, da er von Vertretern aus Staat, Politik und Wirtschaft dominiert sei. Diese Feststellung ist falsch, und Sie wissen das. Das auch in der Satzung des Petersburger Dialogs beschriebene Konzept des Dialogs beruht auf einem breiten Gedankenaustausch aller gesellschaftlichen Kräfte. Dazu gehören die Bereiche Kultur, Medien, Bildung, Wissenschaft und Kirchen genauso wie zahlreiche im Bereich der politischen sowie der sozialen Menschenrechte engagierte Einrichtungen, die in ihrer Gesamtheit das deutsch-russische Verhältnis beleben.

Sie versuchen in Ihrem Brief, den Petersburger Dialog auf das enge Feld einiger Vertreter der Zivilgesellschaft zu reduzieren, die jenseits der korporierten Zivilgesellschaft angesiedelt sind und deren Interessenspektrum nur einen Teil des gesamten zivilgesellschaftlichen Engagements abdeckt.

Ich verkenne nicht die – auch, aber nicht nur – in Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt zu Tage getretenen Probleme sowie die unterschiedlichen Folgen, die sich aus einer »gelenkten Demokratie«, die in vielem nicht westlichen Standards entspricht, ergeben. Dennoch: Gemessen an weiten Bereichen der russischen Geschichte ist die Entwicklung seit 1991 ein Fortschritt. Das daraus resultierende, wenn auch im letzten Jahr stark eingetrübte Vertrauenspotential muss für die auf vielen Ebenen notwendigen Gesprächsforen genutzt und ausgebaut werden.

Derartige Gespräche bedingen genauso Realismus wie intellektuelle Disziplin, wozu auch gehört zu verstehen, wie Russland die Probleme versteht. Dies – und nicht Gesprächsverweigerung – ist die Voraussetzung, um auf allen demokratischen gesellschaftlichen Ebenen – vom politischen Machtzentrum bis in die Randgruppen hinein – problemorientierte Gespräche führen zu können. Dabei darf keine Seite für sich in Anspruch nehmen, legitimere Interessen zu vertreten als die andere.

Das heißt: Ein Gespräch »auf Augenhöhe«, nicht von oben herab, nicht moralisch belehrend, aber mit klaren und ehrlichen Argumenten. Dabei dürfen wir nicht verschweigen, welche gesetzgeberischen, aber auch politisch-moralischen Standards wir für eine demokratische Gesellschaft im europäischen Kontext für unabdingbar halten.

Der Petersburger Dialog wurde aus guten Gründen als deutsch-russische Gemeinschaftseinrichtung konzipiert. Da ist eine – oft mühsame – Kompromissfindung unausweichlich. Dies ist Teil des Wertes, auch der Tiefe, aber auch der moralischen Qualität des Dialogs. Das Ringen um kompromissfähige Konzepte muss unser Anliegen bleiben, nicht Vorverurteilung und Gesprächsablehnung.

Mit freundlichem Gruß

Dr. h.c. Lothar de Maizière

Vorsitzender des Vorstands, Petersburger Dialog e. V.

Quelle: Website des Petersburger Dialogs <http://www.petersburger-dialog.com/offener-brief-vom-13-oktober-2014>

Offener Brief des Deutsch-russischen Sozialforums vom 20. Oktober 2014

Frau

Bundeskanzlerin

Dr. Angela Merkel

Willy-Brandt-Straße 1

10557 Berlin

Herrn

Bundesaußenminister

Dr. Frank-Walter Steinmeier

Auswärtiges Amt

11013 Berlin

Zukunft des Petersburger Dialogs

Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin,

sehr geehrter Herr Bundesaußenminister,

mit großer Bestürzung entnehmen wir der deutschen Presse, dass der Petersburger Dialog in Sotschi auf Betreiben von fünf deutschen Vereinen vorläufig abgesagt wurde und seine weitere Existenz in Frage steht. Wie kann es in einer Demokratie wie in Deutschland passieren, dass sich eine kleine Minderheit ohne Mandat und Rücksprache mit den Kollegen zu Alleinvertretern der Zivilgesellschaft im deutsch-russischen Kontext erklärt und einer Veranstaltung mit mehreren hundert Teilnehmern ihre Sichtweise aufzwingt? Wie kann das offizielle Berlin sie dabei unterstützen, ohne die übrigen zivilgesellschaftlichen Akteure des Petersburger Dialogs zu Wort kommen zu lassen? Durch die vorläufige Absage des Petersburger Dialogs in Sotschi und insbesondere seine mögliche Auflösung droht eine für uns essentielle Plattform der deutsch-russischen Zusammenarbeit und ein unverzichtbares Instrument bei der Schaffung einer konstruktiven Gesprächsebene zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft und staatlichen Organen in Russland zerstört zu werden!

Wir, die Unterzeichner, sind deutsche und russische nichtstaatliche und staatliche Organisationen, die im sozialen Bereich tätig sind und die sich seit vielen Jahren im Petersburger Dialog und/oder dem auf seine Initiative hin gegründeten Sozialforum zivilgesellschaftlich engagieren. Ziel unserer Arbeit ist die Verbesserung und der Ausbau der sozialen Infrastruktur, die Unterstützung des sozialen Bürgerengagements, der Aufbau moderner gesetzlicher Rahmenbedingungen für die Sozialarbeit und nicht zuletzt die Integration aller Bürger ohne Ausnahme. Grundlage unserer Arbeit ist ein vielfältiger deutsch-russischer Fachaustausch.

Für unsere Arbeit war und ist der Petersburger Dialog in vielfacher Hinsicht eine große Hilfe. In der Arbeitsgruppe Zivilgesellschaft finden wir interessierte Gesprächspartner aus dem zivilgesellschaftlichen Sektor, aber auch, was sehr wichtig ist, Vertreter aus der Politik, denen wir unsere Aktivitäten und Probleme nahe bringen können. Keinem uns bekannten deutsch-russischen Gremium gelingt es, auf dieser Ebene Persönlichkeiten und Organisationen aus der Zivilgesellschaft und aus Politik und Regierung miteinander ins Gespräch zu bringen. Diese Kontakte sind lebensnotwendig für unsere Arbeit! Die Begegnungen und Diskussionen in den Arbeitsgruppen, Panels und Plena gelingen in der Breite und Vielfalt auf anderen Konferenzen nur selten. Der Dialog öffnet Türen und neue Wege der Zusammenarbeit. Hier seien die vielen Gespräche mit Vertretern bekannter und einflussreicher nichtstaatlicher Organisationen wie »Memorial«, »Agora« und »Grazhdanskoe sodejstvie« sowie die zahlreichen sozialen Aktivitäten im Rahmen deutsch-russischer Städtepartnerschaften erwähnt. Selbst russische Teilnehmer mit ausgesprochen kritischer Grundhaltung versichern uns immer wieder nachdrücklich (so auch jüngst bei einem Treffen von über 50 sozial engagierten zivilgesellschaftlichen Akteuren am 8. Oktober in der Deutschen Botschaft in Moskau), der Dialog sei bedeutsam und solle auf jeden Fall aufrecht erhalten werden, weil er immer wieder einzigartige Möglichkeiten für konstruktive Gespräche zwischen den Vertretern des offiziellen Russlands und der Bürgergesellschaft schaffe.

In Russland genießt der Petersburger Dialog, weil Deutschland das Partnerland ist, ein außerordentlich hohes politisches und gesellschaftliches Ansehen. Dies ist wohl vor allem auf die tiefe Sehnsucht nach geordneten, gerechten und menschlichen Verhältnissen »wie in Deutschland« zurückzuführen. Zur hohen Reputation des Petersburger Dialogs trägt ausschlaggebend die Mitwirkung der Regierungschefs beider Länder bei, wofür wir uns bei Ihnen, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ganz besonders bedanken möchten! Viele Projekte und Themen, denen sich der Petersburger Dialog widmet, erhalten in Russland zusätzliches Gewicht und positive Aufmerksamkeit. Soziale NGOs, die bei Schwierigkeiten mit russischen staatlichen Stellen darauf hinweisen können, dass sie Teilnehmer des Sozialforums im Rahmen des Petersburger Dialogs sind, stellen immer wieder fest, dass ihre Anliegen plötzlich wohlwollend geprüft werden. In der Folge entsteht oft ein konstruktiver Dialog mit Vertretern des Staates, der eine Vertrauensbasis schafft. So können mit Hilfe des hohen Ansehens des Petersburger Dialogs langfristig die Ängste staatlicher Strukturen vor einer aktiven Bürgergesellschaft abgebaut werden. Permanente Kritik und Konfrontation, wie sie von den fünf genannten Vereinen geübt werden, blockieren dagegen eine solche Entwicklung. Für soziale NGOs in Russland ist der Petersburger Dialog deshalb ein unverzichtbares Arbeitsinstrument zur Herstellung einer weiterführenden Gesprächsebene zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Ein sichtbares Beispiel dafür ist das völlig neue Standing, das zivilgesellschaftliche Einrichtungen der Behindertenarbeit im ganzen Gebiet Sverdlovsk nach dem Kongress für Behinderte mit über 500 Teilnehmern 2012 in Jekaterinburg plötzlich bei staatlichen Stellen hatten (<www.socialforum-dialog.org/Kongress_Jekaterinburg.html>).

Durch die jährlich zunehmenden massiven öffentlichen Angriffe auf den Petersburger Dialog seitens einiger selbsternannter deutscher Verteidiger eines kleinen Teils der russischen Zivilgesellschaft, die andere Stimmen nicht gelten lassen, läuft das hohe Ansehen des Petersburger Dialogs in Russland Gefahr, so stark beschädigt zu werden, dass uns dieses äußerst hilfreiche Arbeitsinstrument für den langen Prozess gesellschaftlicher Veränderungen in Russland bald nicht mehr zur Verfügung stehen könnte. Hunderte von sozialen russischen Nichtregierungsorganisationen, die ebenso wie die exponierten Menschenrechtsorganisationen im Zusammenhang mit dem Agentengesetz unter »Generalverdacht« stehen, die aber über keine aktive Lobby aus westlichen Politikern und Medien verfügen, wären unmittelbar davon betroffen.

Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, in der jetzigen Situation, in der der neue Konflikt zwischen Ost und West in vielfältiger Weise auch die Bürger beider Länder erfasst hat, wiegen unsere Argumente schwerer als je zuvor. Die Mitwirkung der Zivilgesellschaften Deutschlands und Russlands am notwendigen Friedensprozess ist unverzichtbar. Auch dafür wird der Petersburger Dialog dringend als neutrale Gesprächsplattform gebraucht. Im Namen der unzähligen russischen nichtstaatlichen Organisationen, denen an einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Russland und Westeuropa gelegen ist, möchten wir Sie bitten: Lassen Sie nicht zu, dass der Petersburger Dialog für immer zum Schweigen gezwungen oder von einer kleinen Minderheit ausschließlich zur Bühne für immer neue Anprangerungen der russischen Staatsmacht »reformiert« wird. Geben Sie uns die Chance, diese bewährte Brücke zwischen Deutschen und Russen als Bürger zu nutzen, um friedlich und paritätisch Lösungsansätze zu erarbeiten!

Mit freundlichen Grüßen

Anne Hofinga

Verantwortliche Sekretärin und Initiatorin Deutsch-Russisches Sozialforum im Rahmen des Petersburger Dialogs Vorsitzende der Vorstände Zentrum für soziale Entwicklung und Selbsthilfe »Perspektiva«, Moskau Perspektive Russland e.V. (vormals Rußlandhilfe e.V.), Frankfurt am Main

(und 29 weitere Unerschriften)

Kommentare zum Inhalt des Schreibens:

»Ich setze meine Unterschrift unter diesen Appell als Mensch, der sowohl von ganzem Herzen als auch kraft seines Amtes schon lange mit der Entwicklung der Institute der Zivilgesellschaft beschäftigt ist. Ich bin aufrichtig überzeugt davon, dass zwischen den zivilgesellschaftlichen Instituten keine Hindernisse aufgebaut werden dürfen.«

Tatjana Margolina, Perm, Bevollmächtigte für Menschenrechte des Gebietes Perm

»Die Bestrebung, den »Petersburger Dialog« zu schließen (aufzugeben) ist eine klarer Beweis für die Stärkung der Position der »Falken« auf BEIDEN Seiten der Front der aktuellen Konflikte in Europa. Der Dialog ist so notwendig wie die Luft zum Atmen – vor allem für die Gesellschaft, um die schnelle und gefährliche Wiederbelebung der Gespenster und Konfrontationen des Kalten Krieges zu verhindern.«

Dr. Ida Kuklina, Moskau, Bund der Komitees der Soldatenmütter Russlands, Alternativer Nobelpreis 1996 (Right Livelihood Foundation)

»Es kann nicht angehen, dass die Heinrich Böll Stiftung mit Herrn Fücks und Frau Beck und selbst der DeutschRussische Austausch sich in den Medien als selbsternannte Sprecher der Zivilgesellschaft präsentieren. Wir, als Stiftung West-Östliche Begegnungen, sehen uns jedenfalls durch sie nicht vertreten.«

Dr. Helmut Domke, Berlin, Vorsitzender des Vorstands der Stiftung »West-Östliche Begegnungen«

»Danke, Sie tun eine große Tat, indem Sie den Frieden zwischen den Menschen und Offenheit im Austausch schützen. Feindschaft braucht jetzt niemand, insbesondere Völker, die einander in Leid und Freude so nahe sind, wie Deutschland und Russland.«

Prof. Dr. Ilja Evtushenko, Moskau, Dekan der sonderpädagogischen Fakultät der Moskauer Humanwissenschaftlichen Scholochov-Universität

»Als Initiator des im Brief erwähnten Kongresses für Menschen mit Behinderungen in 2012 möchte ich anmerken: Aufgrund der überaus guten Erfahren [sic] wird zur Zeit daran gearbeitet, 2017 in Jekaterinburg den ersten Weltkongress für Menschen mit Behinderungen zu realisieren. Dafür werden eine gute Kooperation zwischen Deutschland und Russland und damit der Petersburger Dialog und sein Sozialforum benötigt.«

Thomas Kraus, Berlin, Initiator weltweiter Kongresse für Menschen mit Behinderungen »In der Begegnung leben«

Quelle: <http://www.facebook.com/socialforum.dialog>, <http://www.socialforum-dialog.org>

Pressemitteilung

Russische und deutsche Teilnehmer des Petersburger Dialogs und des Deutsch-Russischen Sozialforums im Rahmen des Petersburger Dialogs, darunter Vertreter namhafter zivilgesellschaftlicher russischer und deutscher Organisationen, wendeten sich am letzten Montag mit einem Brief an die deutsche Bundeskanzlerin und den deutschen Außenminister, um entschieden gegen die vorläufige Absage des Petersburger Dialogs in Sotschi zu protestieren. Eine essentielle Plattform der deutsch-russischen Zusammenarbeit und ein unverzichtbares Instrument bei der Schaffung einer konstruktiven Gesprächsebene zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft und staatlichen Organen in Russland steht damit in einer Situation nicht zur Verfügung, in der nur Gespräche helfen können, die neuen Spannungen zwischen Ost und West wieder abzubauen.

Die Unterzeichner fragen, wie es in einer gestandenen Demokratie wie in Deutschland passieren konnte, dass die Boykott-Erklärung von lediglich fünf Teilnehmern, die sich ohne Mandat zu Alleinvertretern der Zivilgesellschaft im Petersburger Dialog erklärten, auf Seiten des offiziellen Berlin zu einer einseitigen Absage des Petersburger Dialogs führte, ohne dass die übrigen mehreren Hundert Teilnehmer zu Wort kommen konnten.

Viele Projekte und Themen, denen sich der Petersburger Dialog widmet, erhalten in Russland zusätzliches Gewicht und positive Aufmerksamkeit. Soziale NGOs, die bei Schwierigkeiten mit russischen staatlichen Stellen darauf hinweisen können, dass sie Teilnehmer des Sozialforums im Rahmen des Petersburger Dialogs sind, stellen immer wieder fest, dass ihre Anliegen plötzlich wohlwollend geprüft werden. In der Folge entsteht oft ein konstruktiver Dialog mit Vertretern des Staates, der eine Vertrauensbasis schafft. So können mit Hilfe des hohen Ansehens des Petersburger Dialogs langfristig die Ängste staatlicher Strukturen vor einer aktiven Bürgergesellschaft abgebaut werden.

Durch die jährlich zunehmenden massiven öffentlichen Angriffe auf den Petersburger Dialog seitens einiger selbsternannter deutscher Verteidiger eines kleinen Teils der russischen Zivilgesellschaft, die andere Stimmen nicht gelten lassen, läuft das hohe Ansehen des Petersburger Dialogs in Russland Gefahr, so stark beschädigt zu werden, dass dieses äußerst hilfreiche Arbeitsinstrument für den langen Prozess gesellschaftlicher Veränderungen in Russland bald nicht mehr zur Verfügung stehen könnte. Hunderte von sozialen russischen Nichtregierungsorganisationen, die ebenso wie die exponierten Menschenrechtsorganisationen im Zusammenhang mit dem Agentengesetz unter »Generalverdacht« stehen, wären unmittelbar davon betroffen.

Der neue Konflikt zwischen Ost und West hat in vielfältiger Weise auch die Bürger beider Länder erfasst. Die Mitwirkung der Zivilgesellschaften Deutschlands und Russlands am notwendigen Friedensprozess ist unverzichtbar. Auch dafür wird der Petersburger Dialog dringend als neutrale Gesprächsplattform gebraucht, um friedlich und paritätisch Lösungsansätze zu erarbeiten.

Anlage: Brief an die Bundeskanzlerin und den Bundesaußenminister

Weitere Hintergrundinformationen: <www.facebook.com/A.Hofinga>

Moskau, den 23. Oktober 2014

Anne Hofinga

Quelle: <http://www.facebook.com/socialforum.dialog>, <http://www.socialforum-dialog.org>


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