Nawalnyj: Krim nasch!

Seit März 2014 steht Alexej Nawalnyj wegen des sogennanten »Yves-Rocher-Falls« unter Hausarrest. Dem oppositionellen Politiker wurde per Gerichtsbeschluss verboten, seine Wohnung zu verlassen sowie mit jeglichen Personen außer dem engen Familienkreis zu sprechen, Interviews zu geben und das Internet zu nutzen. Seitdem führt das Team der »Stiftung für die Korruptionsbekämpfung« (russ.: »FBK«) seinen Blog und seine Frau seinen Twitter-Account. Anfang Oktober milderte das Gericht des Moskauer Basmannyj-Rayons (Basmannyj-Gericht) überraschenderweise die Bedingungen des Hausarrests in Bezug auf Kontakte mit der Außenwelt, was nach mehreren Monaten Journalisten wieder einen Zugang zur Schlüsselfigur der russischen Protestbewegung ermöglichte.

Das Interview für Echo Moskwy vom 15. Oktober, in dem Nawalnyj sich unzweideutig zur Annexion der Krim äußerte, erregte in Russland überaus große Aufmerksamkeit. Wie im Nachhinein aus der Redaktion von Echo Moskwy verlautet, wollte Michail Lesen, Chef der Holding Gazprom-Media, die zwei Drittel der Aktien des Radiosenders besitzt, die Veröffentlichung dieses Interviews auf alle erdenkliche Weise verhindern; er habe der stellvertretenden Chefredakteurin Olesja Rjabzewa per Telefon mit großen Problemen gedroht, wie diese in ihrem Blog berichtet. Das Interview schlug in der liberalen Öffentlichkeit wie eine Bombe ein, da Nawalnyj die Rückgabe der Krim an die Ukraine eindeutig ausschloss. Auf die Frage des Chefredakteurs des Radiosenders Alexej Wenediktow »Krim nasch?« (Ist die Krim unser?) sagte der Oppositionelle Folgendes: »Ich finde, dass obwohl die Krim unter eklatanten Verstößen gegen alle völkerrechtlichen Normen erobert wurde, die Realien derart sind, dass die Krim jetzt ein Teil der Russischen Föderation ist. Machen wir uns doch nichts vor. Den Ukrainern rate ich ebenfalls ausdrücklich, sich nichts vorzumachen. Sie [die Krim, Anm. d. Red.] bleibt Teil Russlands und wird in absehbarer Zukunft kein Teil der Ukraine werden.« Diese Aussage löste auf Twitter einen massiven »Shitstorm« aus. Kurz nach dem Interview schloss sich auch Michail Chodorkowskij der Position Nawalnyjs an und sagte »Die Krim gebe ich nicht zurück« (<http://grani.ru/Pol itics/Russia/Parties/m.234009.html>). Im Zuge heftiger Debatten in den Blogs teilte sich die liberale Öffentlichkeit Russlands in Nawalnyj-Versteher und harsche Kritiker der Krim-Annexion; es meldeten sich unter anderem zu Wort: Grigorij Golosow, Professor an der Europäischen Universität St. Petersburg; Sergey Davidis, Bürgerrechtler und enger Verbündeter Nawalnyjs in der Protestbewegung; Alexander Osowzow, Projektdirektor der Stiftung von Michail Chodorkowskij »Offenes Russland«; Wladislaw Naganow, Mitglied der Nawalnyj-Partei »Partei des Fortschritts«, der Journalist und Publizist Alexander Sotnik; der russischsprachige Kiewer Journalist Mustafa Nayyem und der Kriegskorrespondent Arkadij Babtschenko.

Eine Situation ohne guten Ausweg

»Nawalnyj stellt alles richtig dar, zu vielen Fragen lässt sich derzeit kaum etwas Besseres sagen. Er ist ein begabter Mensch, ein geborener Politiker. Das Schlimme ist, dass Russland ihn unter Hausarrest hält. Alle gehen ihn hier an mit der Krim. Man muss aber dabei im Kopf behalten, dass es Putin war, der die ukrainischen Probleme für Russland geschaffen hat, und Nawalnyj nach einem guten Ausweg aus einer schlechten Lage zu fragen ist nicht besonders fair. Die Krim bedeutet eine Situation ohne guten Ausweg. Für den Besitz der Krim werden wir – alle zusammen oder jeder einzelne aus eigener Tasche ein Vielfaches von dem zahlen müssen, was es gekostet hätte, jeden Quadratmeter auf der Halbinsel zu kommerziellen Preisen als Eigentum zu erwerben und alle Bewohner, die dann nicht bleiben wollen, an die Côte d’Azur umzusiedeln. Putin hat das Geschäft bereits abgeschlossen. Selbst Nawalnyj kann es nicht stornieren.«

Grigorij Golosow via Snob.ru 16.10.2014 <http://slon.ru/russia/pochemu_navalnyy_prav-1172360.xhtml>

»Alle haben sich auf Nawalnyj gestürzt…«

»Ich habe in seinen Worten keinen Imperialismus erkennen können: er stimmt der Besetzung und Annexion der Krim nicht zu, weist im Gegenteil auf deren krasse Rechtswidrigkeit hin. Er hat gesagt, dass Krim jetzt de facto zu Russland gehört. […] Er sagt, dass man sie nicht wie ein Butterbrot zurückgeben kann, dass das die Bevölkerung entscheiden sollte; was gibt es da zu bestreiten? Selbst bei der Annexion gab es ein Schein-Referendum. Und wenn man nicht autoritär und rechtswidrig vorgeht, sondern fair und demokratisch, wer anders als die Bevölkerung sollte dann entscheiden? […]

Was ich in der Äußerungen Alexejs nicht gutheißen würde, ist der Stil. Man sollte jetzt auf Ratschläge für die Ukrainer lieber verzichten, insbesondere bei einer solchen Frage. Man sollte nicht davon reden, dass Krim ›in absehbarer Zukunft kein Teil der Ukraine werden‹ wird, auch wenn es scheint, als ob die Ergebnisse eines jeden Referendums vorhersehbar sind. Schließlich tragen wir alle, selbst diejenigen, die dagegen waren, zu einem gewissen Grad eine Verantwortung bei der Aggression des Kreml gegen die Ukraine; und trotz allem stehen wir in den Augen der Ukrainer vollkommen zurecht als Bürger eines Aggressorstaates da. Etwas mehr Rücksicht und Fairness wäre nicht verkehrt.«

Sergej Davidis auf Facebook, 15.10.2014 <https://www.facebook.com/sergei.davidis/posts/800840943304969>

»Der Drache gewinnt in jedem Fall«

»Bezüglich der Krim bin ich mit Nawalnyj kategorisch nicht einverstanden und finde, dass gerade Russland der Ukraine die annektierte Krim zurückgeben sollte, vor allem weil niemand, auch kein Land, ein normales Leben führen kann, ohne zu versuchen, die Folgen eines von ihm begangenen Verbrechens nach Möglichkeit zu korrigieren. Das wäre genauso, als wenn Alexejs ›Lieblingsfiguren‹ – Timtschenko, Jakunin, die Rotenbergs usw. – eines schönen Tages sagen würden: ›Wir klauen jetzt nicht mehr, wir sind jetzt ehrliche Leute. Aber was wir vorher zusammengeklaut haben, das gehört bereits uns und das behalten wir.‹ Eine solche Idee würde Nawalnyj kaum zufriedenstellen.

Die Diskussion um Nawalnyjs Position, die jetzt stattfindet, zeigt aber aus meiner Sicht sehr ernst zu nehmende moralische und ethische Probleme innerhalb eines Teils der russischer Opposition auf. Die einen, die gestern noch mit harten Worten die ›Krimnaschisten‹ beschimpft haben, und, so schien es, bereit waren, ›Watniki und Kolorady‹ in Stücke zu zerreißen, sind nun durch der ›Hetze der liberalen Presse gegen Nawalnyj‹ empört […].

Ich möchte denjenigen, für die jedweder Meinungsunterschied zu Nawalnyj ein Anschlag auf das Allerheiligste ist, Folgendes sagen: Beruhigt euch, versucht zu verstehen, dass es dumm und aussichtslos für das Land wäre, ›Putinoide‹ durch ›Nawalnoide‹ auszutauschen. So, wie in dem alten vietnamesischen Märchen über den Drachen und das Schwert aus grauem Stahl: Es gewinnt immer der Drache.«

Alexander Osowzow auf Facebook, 16.10.2014 <https://www.facebook.com/osovtsovaa/posts/1568393260047754>

»Man darf sie nicht hin und her zurückgeben«

»Alle, die Nawalnyj für seine Worte ›Ist die Krim etwa ein Wurstbrot, dass man es hin und her zurückgeben könnte?‹, kritisieren, möchte ich fragen: Wie stellt ihr das überhaupt vor?

Der Präsident Russlands unterschreibt einen Erlass über die Rückgabe der Krim und Sewastopols an die Ukraine? Über die Entziehung der russischen Staatsbürgerschaft bei allen Bewohnern der Krim und Sewastopols? Oder kann man den Menschen die russische Staatsbürgerschaft belassen, und nur das Territorium – mit ihnen – übergeben? Fragt irgendjemand die Menschen, was sie wollen, bevor man etwas mit ihnen macht? Oder werden die Einwohner der Krim und Sewastopols nicht für Menschen gehalten, sondern für Vieh, für eine Schafherde, die zwischen verschiedenen Staaten hin und her ›übergeben‹ werden kann? Der eine Präsident hatte Lust und nahm es sich, der andere hat sich anders überlegt und gibt es wieder zurückt? So etwa?

Sollte man nicht doch besser die Menschen fragen? Hat Nawalnyj das etwa nicht selbst gesagt, als er von einem ›normalen‹ Referendum auf der Krim sprach? Ich verstehe unter einem ›normalen‹ Referendum eines, das nicht nur 15–20 Tage vorbereitet wird, sondern mindestens drei Monate. Und bei dem es keine Einschränkungen für die Kampagne gibt: Die Anhänger einer Zugehörigkeit der Krim und Sewastopols zur Ukraine wollen hierfür agitieren, mit Plakaten, Flugblättern, Werbevideos, ukrainischen Fahnen – bitte schön! Ohne Einschränkungen! Und dass alle möglichen Wahlbeobachter zum Referendum kommen können, von der OSZE, von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, von der GUS, aus der Ukraine, der EU und den USA, von überall her. Und dass ein transparenter Ablauf der Stimmenzählung gewährleistet werde. Und wenn jemand von den Wahlbeobachtern ein Nachzählen der Stimmen per Hand verlangt – bitte schön, mehrmals, so oft wie gewünscht! Und überhaupt: Lasst so viele Wahlbeobachter in jedes Wahllokal, wie dort Platz ist. Und keinerlei bewaffnete Menschen mit Maschinenpistolen, in keinem einzigen Wahllokal oder dessen Umgebung.«

Wladislaw Naganow auf Livejournal, 16.10.2014 <http://naganoff.livejournal.com/142862.html>

Liebe »Nawalnisten«

»Also. Für die verehrten ›Nawalnisten‹, die sich wegen Alexej so aufregen…

Ja, eurer ›Führer‹ ist Imperier. Daraus hat er kein Geheimnis gemacht. Er ist bei der Krim-Frage ein absoluter Putin. Weil er, wenn er einer anderen Ansicht wäre, Wenediktow Folgendes gefragt hätte: ›Von welcher Krim reden Sie denn? Von der, die zur Ukraine gehört, womit Russland einverstanden war, als es das Budapester Abkommen unterschrieben hat? Sie fragen mich über die territoriale Integrität eines Staates, dem Russland Garantien gegeben hat, wonach die Ukraine zum atomwaffenfreien Land geworden ist? Hätte Russland seinerzeit diese Garantien nicht gegeben, hätte die Ukraine jetzt Atomraketen, und wir würden es niemals riskieren, uns dort einzumischen… Sie fragen also nach Quatsch, und zwar provokantem Quatsch.‹

Wenn er also auf diese Weise geantwortet hätte, dann ja. Dann wäre er als Politiker geboren worden. Er hat sich aber ausgenullt. Wie seinerzeit Udalzow.

Und noch etwa. Verehrte ›Nawalnisten‹, hört auf, euch Götzen zu schaffen. Viele von euch waren auf dem ›Friedensmarsch‹ zur Unterstützung der territorialen Integrität der Ukraine. Verliert das Gesicht nicht. Trefft eine Wahl ohne Bindung des Herzens. Und all die Argumente, ›er habe es nicht so gesagt, er habe etwas anderes gemeint‹, das ist im Stil von ›Putinisten‹, und zwar: ›Unser Führer hat alle ausgetrickst. Das eine gesagt, was anderes getan. Sie haben seinen Weisheiten schlecht zugehört.‹…

Seid keine Kinder. Werdet erwachsen.«

Alexander Sotnik auf Facebook, 15.10.2014 <https://www.facebook.com/sasha.sotnik/posts/646414272138108>

»Randfigur russischer Politik«

Da Alexej Nawalnyj recht offen seine Meinung zur Krim geäußert hat […], wäre es auch für den Oppositionellen selbst sinnvoll, das Geheimnis über seine Lage zu lüften. Ich finde, dass, abgesehen davon, dass die Rechte von Alexej Nawalnyj lange Jahre verletzt wurden und er nach himmelschreiender Verletzung aller Gesetzesnormen der Russischen Föderation verurteilt wurde, die Realität so aussieht, dass Herr Nawalnyj eine Randfigur der russischen Politik ist. Ich rate ihm und seinen Anhängern eindringlich, sich nichts vorzumachen – sie haben in absehbarer Zukunft keine Chance, bedeutende Figuren in der großen Politik zu werden. Das wäre ebenfalls ehrlich.

Mustafa Nayyem auf Facebook, 16.10.2014 <https://www.facebook.com/Mustafanayyem/posts/10203171638717866>

»Was wollen Sie, Pardon, zurückgeben?«

»Was für spannende Eskapaden nun zu dieser Krim… ›Die Krim ist kein Wurstbrot‹, meint Nawalnyj. ›Wenn ich Präsident werde, gebe ich Krim nicht zurück‹, schreibt Michail Chodorkowskij auf Twitter. […]

Russland hat einen Teil eines souveränen Staates okkupiert. Diese Okkupation ist von keinem anderen Staat in der Weltgemeinschaft anerkannt worden. In der ganzen Welt hat sich die ukrainische Grenze nicht um einen Zentimeter verändert. Die Welt kennt keinen anderen Staat ›Ukraine‹ außer diesen – mit der Krim. Die Welt kennt keinen anderen Staat ›Russland‹ außer diesen – ohne die Krim. Es hat keine Verträge zur Anerkennung und Bestätigung neuer Grenzen gegeben.

Was also wollen Sie, Verzeihen Sie die Frage, ›zurückgeben‹? […]

Und zweitens. Das wichtigste.

Wenn du Präsident wirst – eben Präsident – wäre in diesem Koordinatensystem schon eine solche Fragestellung ›abgeben oder nicht‹ per definitionem undenkbar. Denn der Präsident ist ein gewähltes Amt. Ein Amt, das im Rahmen fairer und freier Wahlen besetzt wird, die in einem demokratischen Land nach internationalen Regeln, Konventionen, Rechten und Gesetzen, die durch die Weltgemeinschaft als korrekt anerkannt werden. […] In dieser Situation würde sich die Frage ›zurückgeben oder besser nochmal überlegen‹ a priori nicht stellen. Weil nicht du es bist, der über zurückgeben oder nicht entscheidet. Du bist kein Lenker des Schicksals von Staaten, Ländern und Völkern. Du bist bloß Garant der Ausführung von Gesetzen. Einschließlich internationaler Gesetze. Für alle, die darüber anders dachten, ist die Möglichkeit geschaffen worden, über ihre Fehler nachzudenken – in den schönen Städten Nürnberg und Den Haag.«

Arkadij Babtschenko auf Facebook, 16.10.2014 <https://www.facebook.com/babchenkoa/posts/555934824506755?fref=nf>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS