Die Russlandsanktionen. Ihre Konzeption, ihre Wirkung und ihre Funktion innerhalb der Russlandpolitik

Von Roland Götz (Wiltingen)

Zusammenfassung
Die Russlandsanktionen haben erneut demonstriert, dass Sanktionen auf das Verhalten autoritär geführter Staaten nur geringen Einfluss ausüben können. Jedoch erfüllten sie ihre Rolle, die Werte des Westens zu demonstrieren. Sie werden in Reaktion auf eine Kooperation Russlands in der Ukrainefrage schrittweise zurück genommen werden, verbleiben aber im Rahmen einer neu konzipierten Russlandpolitik als Reserve. Ihre Intensität ist durch Rücksichtnahme auf realpolitische Interessen begrenzt.

Das Konzept: Zielgerichtete statt umfassende Sanktionen

Ausgedehnte Handelssanktionen, wie sie bis Mitte der 1990er Jahre verhängt wurden, trafen in erster Linie die breite Bevölkerung des sanktionierten Landes, jedoch kaum die herrschende Schicht. Außerdem schadeten sie der Wirtschaft des »Senders« der Sanktionen erheblich, wenn zum »Empfänger« intensive Wirtschaftsbeziehungen bestanden. Daher suchte man nach Wegen, um Sanktionen gezielter und möglichst ohne unerwünschte Neben- und Rückwirkungen einsetzen zu können. Vor allem vor dem Hintergrund der desaströsen Folgen für die Bevölkerung der gegen den Irak 1990 als Antwort auf die Kuwait-Invasion verhängten Sanktionen begannen Abteilungen der Vereinten Nationen, Vertreter einzelner Regierungen sowie von NGOs Mitte der 1990er Jahre das Konzept der »intelligenten« oder »zielgerichteten« Sanktionen (smart sanctions, targeted sanctions) zu entwickeln.

Zielgerichtete Sanktionen umfassen drei Gruppen von Maßnahmen: Erstens diplomatische Sanktionen wie die Ausweisung von Diplomaten, den Ausschluss von Ländern aus internationalen Organisationen und die Begrenzung von zwischenstaatlichen Kontakten; zweitens individuelle Sanktionen wie Reisebeschränkungen und Sperrung von Bankkonten, die gegen einzelne Politiker eines Landes verhängt werden; Drittens selektive Wirtschaftssanktionen, die ausgewählte Sektoren des sanktionierten Landes betreffen – dazu gehören Embargos für bestimmte Erzeugnisse wie etwa Rüstungsgüter und Dual-Use-Produkte sowie Finanzsanktionen wie das Verbot von Investitionen im Zielland der Sanktionen oder die Beschlagnahme von Auslandsvermögen.

Die Sanktionspraxis

Die EU, die USA und andere westliche Länder haben gegen Russland zwischen März und September 2014 in mehreren Schritten derartige zielgerichtete Sanktionen (im EU-Sprachgebrauch »restriktive Maßnahmen«) verhängt, die das Spektrum der drei Sanktionsgruppen ausschöpften. Die selektiven Wirtschaftssanktionen betrafen neben dem Bankensektor Russlands nur Exportgüter westlicher Staaten (Waffen, Dual-Use-Güter, Ausrüstungen für die Ölförderung), während Importe aus Russland nicht beschränkt wurden.

Außerdem beendete die Ukraine im April 2014 auf Weisung von Präsident Poroschenko die Rüstungszusammenarbeit mit Russland, die sich auf die gegenseitige Belieferung mit Bauteilen für Raketen, Schiffe, Flugzeuge und Hubschrauber und die Wartung von Waffensystemen erstreckt hatte. Dies wirkt sich auf russischer Seite unmittelbar hemmend auf die Produktion und Wartung älterer Waffensysteme aus, während neue Versionen bereits ohne ukrainische Zulieferungen auskommen. Auf Anweisung Putins wurde ein Programm der Importsubstitution gestartet, das allerdings erst in Jahren vollen Ersatz erwarten lässt. Auf ukrainischer Seite entstehen entsprechende Exporteinbußen, die sich ebenfalls nicht kurzfristig durch ein Ausweichen auf andere Absatzmärkte ausgleichen lassen.

Bilanz der Wirkungen, Neben- und Rückwirkungen der Russlandsanktionen

Wie bei den umfassenden Handelssanktionen stellen sich auch bei den zielgerichteten Sanktionen ungewollte Nebeneffekte beim Sanktionsempfänger ein. Selektive Wirtschaftssanktionen strahlen in weitere Wirtschaftsbereiche aus und haben Folgen, die mit denen allgemeiner Handelssanktionen vergleichbar sind – auch sie haben Auswirkungen auf die breite Bevölkerung. Die Finanzsanktionen gegen staatsnahe Banken und Unternehmen führen zu Zinsanstieg und Kreditverteuerung, wovon vor allem Kleinunternehmen und Mittelständler betroffen werden (mit Ausnahme derjenigen, die durch Importsubstitution Geschäfte machen), während Großunternehmen mit guten Verbindungen zur politischen Führung auf staatliche Unterstützung hoffen können. Wenn die Sanktionen wie im Falle Russlands das allgemeine Geschäftsklima derart belasten, dass Projekte ausländischer Investoren auf Eis gelegt oder gänzlich aufgegeben werden, wird das wegen der Stagnation des Ölpreises ohnehin bereits geringe Wirtschaftswachstum zusätzlich gedämpft. Die staatlichen Investitionsausgaben sowie Bildungs- und Sozialaufwendungen gehen zurück, während die Rüstungsausgaben (auch dank des nationalistisch aufgeputschten innenpolitischen Klimas) weiter erhöht werden können. Faktoren, die für und gegen Russlands Verwundbarkeit durch Sanktionen sprechen, sind in Tabelle 1 (s. unten S. 5) zusammengestellt.

Die Gegenüberstellung macht deutlich, dass sich auf dem Gebiet der Wirtschaft die Faktoren, die Russlands Verwundbarkeit verringern und erhöhen, in etwa die Waage halten – auch wenn eine exakte quantitative Abwägung nicht möglich ist. Daraus folgt, dass Russlands Wirtschaft zumindest in einem gewissen Umfang für Wirtschaftssanktionen anfällig ist. Dagegen sprechen sämtliche Gesichtspunkte gegen eine politische Verwundbarkeit. Die Russlandsanktionen haben somit zwar merkliche ökonomische Auswirkungen, können jedoch die Bevölkerung – zumindest kurzfristig – nicht von einer Unterstützung des Regimes abbringen.

Russlands Gegensanktionen waren erstaunlich zurückhaltend und beschränkten sich auf ein Importverbot für Agrarerzeugnisse aus der EU, Norwegen, Kanada und Australien. Weil sich durch den Wegfall von Lebensmittelimporten aus westlichen Ländern die Absatzchancen für einheimische Erzeuger erhöhen, kann man diesen Sanktionsschritt gleichzeitig als Hilfe für die eigene Landwirtschaft verstehen. Spürbare Auswirkungen verzeichnen die Landwirte vor allem im Baltikum und in Polen, die auf den Export von Milcherzeugnissen und Obst nach Russland verzichten müssen, dabei allerdings auf Entschädigungen durch die EU hoffen dürfen.

Die vom Westen verhängten Verbote von Kooperation und Technologieexporten im Ölbereich wurden von Russland nicht durch eine Einschränkung seiner Energielieferungen beantwortet. Insbesondere wurde das im Westen befürchtete Gasembargo gegen Europa nicht verhängt. Dafür gibt es einleuchtende Gründe: Mit einem von ihr befohlenen Lieferstopp hätte Russlands Regierung »nur« das größte Unternehmen des Landes in den Ruin getrieben. Mit einem Ölembargo gegen den Westen würde Russland geradezu ökonomischen Selbstmord begehen, denn mit den Einnahmen aus dem Ölexport, der fast ausschließlich nach Europa geht, wird nahezu die Hälfte des Staatshaushalts bestritten. Mit Recht bemerkte daher Rosneft-Chef Igor Setschin im Spiegel 36/2014 zu derartigen Befürchtungen: »Nur Laien können auf so eine Idee kommen«. Umgekehrt aber wäre ein vom Westen gegenüber Russland verhängtes Ölembargo eine höchst wirksame Sanktion, die durch Einsatz der Ölreserven in der EU und in den USA und durch Nutzung der freien Förderkapazitäten Saudi-Arabiens viele Monate durchgehalten werden könnte, ohne dass ein Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt zu befürchten wäre. Doch der Westen scheut sich, dieses »finale« Instrument anzuwenden.

Die Sanktionsbereitschaft der Bevölkerung des »Senders« wird einerseits vom Anlass der Sanktionen bestimmt (und war nach dem Abschuss von MH17 besonders hoch), hängt aber auch vom Sanktionsgrad (der Schwere der Sanktionen) ab. Sie nimmt bei Verschärfung der Sanktionen zunächst zu, weil eine Reaktion auf das Verhalten des Sanktionsempfängers begrüßt wird. Ab einem gewissen Ausmaß des Sanktionsgrades, wenn Rückwirkungen und Gegensanktionen spürbar werden, nimmt die Sanktionsbereitschaft beim »Sender« wieder ab. Dazu kommt, dass scharfe Sanktionen im Falle Russlands deswegen abgelehnt werden, weil das Land vom Westen als weltpolitischer Partner gebraucht wird. Die maximale Zustimmung wird bei mittelstarken Sanktionen erreicht. Die Popularität der Führung des Sanktionsempfängers nimmt mit Verstärkung der Sanktionen oft ebenfalls zu (rally around the flag-Effekt) und erst bei sehr wirksamen Sanktionen wieder ab. Das »Sanktionsdilemma« gegenüber einem autoritär geführten Staat wie Russland besteht darin, dass die Sanktionen erst dann unmittelbare Wirksamkeit auf die politische Führung entfalten, wenn sie so intensiv sind, dass sie von der Bevölkerung des »Senders« wegen der unvermeidlichen negativen Rückwirkungen auf die eigene Wirtschaft kaum mehr toleriert werden (s. Grafik 1 auf S. 5). Von nur begrenzten Sanktionen, wie sie der Westen gegen Russland 2014 verhängte, kann aber zumindest kurzfristig keine Richtungsänderung der Politik Russlands erwartet werden. Dennoch sind sie nicht überflüssig, da sie als »Akte politischer Kommunikation« (Zweynert) Botschaften übermitteln, von denen zumindest langfristige Wirkungen ausgehen können.

Russlandsanktionen innerhalb der zukünftigen Ukraine- und Russlandpolitik

Sanktionen spielten in der Ukrainekrise nur eine überwiegend begleitende Rolle. Entscheidend für ihren Verlauf – die mit Russlands militärischer Macht vollzogene Abspaltung der Krim und von Teilen der Ostukraine – war die begrenzte Kampfkraft des ukrainischen Militärs sowie Russlands massive Unterstützung der Separatisten, die wiederum wegen der geringen politischen Verwundbarkeit des Landes kaum oder gar nicht durch Sanktionen beeinflusst werden konnte. Putin nimmt die erheblichen Kosten seiner Ukrainepolitik – neben den Sanktionsfolgen sind das die Kosten für die Umsiedlung der Flüchtlinge aus der Ostukraine sowie den Aufbau der zerstörten Infrastruktur im Osten – in Kauf, weil er sich in der Ukrainefrage als Sieger in der Auseinandersetzung mit dem Westen darstellen und bei den Präsidentschaftswahlen 2018 auf die Unterstützung der Nationalisten in Russland rechnen kann.

Der internationalen Diplomatie obliegt es nun, die Waffenstillstandslinie im Osten der Ukraine in eine faktische, einigermaßen befriedete Grenze umzuwandeln und hat mit den Minsker Vereinbarungen vom September 2014 über die Schaffung einer demilitarisierten Zone bereits damit begonnen. Die »Volksrepubliken« Luhansk und Donezk werden zu russlandhörigen Territorien nach dem Muster von Abchasien, Südossetien und Transnistrien. Die Ukraine gehört wie Georgien und Moldau in milder Form zu Russlands Einflusszone, weil ihr, wie diesen, der NATO-Beitritt verwehrt wird. Die Westukraine wird zum Aufbauprojekt der EU, während die Ostukraine und die Krim Russlands Staatshaushalt zur Last fallen. Für die Ukraine bietet sich, wie Matthias Dembinski, Hans-Joachim Schmidt und Hans-Joachim Spanger dargelegt haben, vor allen anderen Alternativen das Neutralitäts- oder Brückenmodell an. Es ermöglicht westliche Demokratie und Marktwirtschaft einschließlich einer fernen EU-Beitrittsperspektive, setzt aber militärische Bündnisfreiheit voraus. Allerdings gilt dies – anders als die Autoren bei Abfassung ihrer Studie noch meinten – heute nicht mehr für die abgespaltenen Teile der Ostukraine und die Krim, woran auch eine Verschärfung der Sanktionen nichts mehr ändern würde.

Parallel dazu wird nach einer neuen Russlandstrategie gesucht, die auch Rückwirkung auf die Handhabung der Russlandsanktionen hätte. Putins Vorgehen in der Ukraine untergräbt die vor allem in Deutschland gepflegten Hoffnungen auf »Annäherung durch Verflechtung« und »Modernisierungspartnerschaft«. Weder die gegenüber dem nachsowjetischen Russland praktizierte »kooperative Einbindung« (»engagement«), noch die von George F. Kennan gegenüber der Sowjetunion konzipierte und im Kalten Krieg realisierte Strategie der Eindämmung (»containment«) bieten sich in Reinform an. Eine Verbindung beider Strategien war von einem Team um Zalmay Khalilzad in einer RAND-Studie 1999 als US-Politik gegenüber China formuliert und als »congagement« bezeichnet worden. Dembinski, Schmidt und Spanger schlagen dieses Zwitterkonzept als künftige Russlandstrategie des Westens vor und prägen dafür den Begriff »Einhegung«. Gegenüber Russland sollen demnach einerseits die wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Kontakte verstärkt, andererseits soll die eigene militärische Position gefestigt und den NATO-Verbündeten unbedingter Beistand zugesichert werden. Die Strategie der Einhegung umfasst sowohl die Bereitschaft zum Dialog bis hin zur Wiederbelebung der strategischen Partnerschaft mit Russland, als auch die Verstärkung der eigenen Fähigkeit, auf Regelverletzungen Russlands angemessen reagieren zu können. Denselben Gedanken stellte Karsten D. Voigt in den Russlandanalysen 284/2014 unter das Motto: »Zusammenarbeit wo möglich, Risikovorsorge und Gefahrenabwehr, wo nötig«.

Die Russlandsanktionen des Jahres 2014 ermöglichten es den westlichen Staaten, ihren Protest gegen Russlands Verstöße gegen internationales Recht nachdrücklich zu signalisieren. Die Sanktionen werden nun, statt wie bislang isoliertes Instrument und Notlösung zu sein, einen Platz in der künftigen Russlandpolitik einnehmen müssen. Sie werden, wenn Russland dafür sorgt, dass sich die Separatisten an die Minsker Vereinbarungen vom September 2014 halten, voraussichtlich nicht über ihre auf ein Jahr (bis Mitte 2015) befristete Laufzeit hinaus verlängert werden. Sie werden allerdings reaktiviert und ausgeweitet werden müssen, sollte Russland in weiteren Teilen der Ukraine separatistische Bestrebungen unterstützen. Aber auch dann werden sie wohl nur Signalcharakter haben und Russlands Vorgehen nicht verhindern können. Höchst wirksame Sanktionen, wie einen Ausschluss der Banken Russlands vom SWIFT-System oder ein Ölembargo will man nicht ergreifen, weil man Russland nicht in eine vollständige Isolation vom Westen und außenpolitisch in die Arme Chinas treiben möchte. Die Russlandsanktionen signalisieren Werte, aber sie beugen sich den Interessen.

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