Selbstgespräch in der Wagenburg

Von Hans-Henning Schröder (Bremen)

Russland in Europa

Russland ist historisch und kulturell ein europäisches Land. Seine Wirtschaftsleistung ist nicht gering – sie erreicht fast das Niveau der Bundesrepublik Deutschland. Russland verfügt über große Naturressourcen, doch ist das industrielle, wissenschaftliche und technologische Potential unzureichend entwickelt. Das Land exportiert im wesentlichen Energie und Rohstoffe, die verarbeitende Industrie ist international nicht konkurrenzfähig. Das im Lande verfügbare Kapital ist knapp, eine nachhaltige Entwicklung, die Russland an das internationale Niveau heranführt, bedarf ausländischer Investitionen. Der wichtigste Handelspartner ist die EU, auch das Gros der Investitionen stammt aus europäischen Ländern, oftmals russisches Kapital, das vorher nach Europa abgeflossen ist. Die russische Volkswirtschaft ist also eng mit der EU-Wirtschaft verflochten. Im Grunde ist das eine win-win-Situation: Russland verfügt über Rohstoffe und einen entwicklungsfähigen Markt für Konsumgüter und Industrieanlagen, es benötigt Knowhow und Kapital. Die EU kann beides anbieten und ist ihrerseits an russischen Energielieferungen interessiert. Diese Konstellation kann Grundlage einer stabilen Partnerschaft sein, die zu enger politischer Partnerschaft führen könnte, einer Partnerschaft, die auf gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Kultur und gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen basiert. In der Praxis haben sich die Beziehungen zwischen Russland und den übrigen europäischen Staaten in den letzten Jahren jedoch in entgegengesetzter Richtung entwickelt. Die russische Führung hat einen konfrontativen Weg gewählt. Sie hat einseitig Grenzen in Europa verändert, übt Druck auf Nachbarn aus – bis hin zum Einsatz von Militär wie auf der Krim und zur materiellen und personellen Unterstützung von Gewaltakteuren in Bürgerkriegsregionen wie der Ostukraine. Die russische Führung hat eine Reihe von internationalen Abmachungen gebrochen – vom Budapester Abkommen bis hin zu den Vereinbarungen von Minsk. Im Ergebnis ist die europäische Sicherheitsarchitektur weitgehend zerstört worden – und die heutige russische Administration trägt daran ein gerüttelt Maß an Verantwortung. Russland hat sich auch in einen Gegensatz zur Mehrheit der Mitgliedsstaaten der UNO, der OSZE und des Europarates gestellt.

Von außen erscheint diese Politik, die Russland international isoliert und die russische Wirtschaft beschädigt, als ausgesprochen irrational. Das Denken und Handeln der russischen Führung bedarf der Erklärung. Offenbar nehmen die Akteure in der dritten Putin-Administration die Welt anders wahr, als die europäischen Politiker. Mit dieser Perzeption gilt es sich auseinanderzusetzen.

Das Waldai-Konzept – Vorschlag für ein neues Jalta?

Russische Politiker haben in den letzten Wochen versucht, der Außenwelt ihre Sichtweise verständlich zu machen. Präsident Wladimir Putin hat ein Treffen mit dem »Waldai-Club« – einer Runde internationaler Experten, die alljährlich auf Einladung russischer Stellen zusammenkommen – genutzt, um seine Sicht der aktuellen Krise zu präsentieren. Die Rede wurde in der russischen Presse unmittelbar danach allgemein als »hart«, »offen«, »konzeptionell«, »inhaltsreich«, »analytisch«, »sorgsam durchdacht« und als eine Grundsatzrede über die Beziehungen zwischen Russland und »dem Westen« beschrieben. Offensichtlich war der Vortrag programmatisch gemeint und die Argumentation sorgfältig vorbereitet worden.

Das, was der Präsident vorgetragen hat, war nicht unbedingt neu, es war vielmehr die pointierte Zusammenfassung der Positionen, die russische Außenpolitiker in den letzten Jahren immer wieder formuliert hatten. Die Weltordnung, so Putin, wandele sich, dieser Wandel sei von Konflikten begleitet. Die Ordnungsinstrumente, die zum Teil noch aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg stammten, müsse man behutsam anpassen. Behindert werde die Neuordnung des internationalen Systems durch die USA, die Putin ins Zentrum seiner Kritik stellte: Washington, das sich als Sieger des »Kalten Krieges« fühle und gebärde, sei bestrebt, die Welt ihren Interessen unterzuordnen, sie zu dominieren. Die USA und ihre Verbündeten – Putin nannte sie »Satelliten« – versuchten, anderen Ländern ihre eigenen »Rezepte« aufzuzwingen – gewaltsam, durch wirtschaftlichen und propagandistischen Druck, Einmischung in innere Angelegenheiten, durch regime change mit oder ohne rechtliche Begründung. Der Präsident kritisierte diese Politik und wies auf die negativen Folgen amerikanischen Engagements im Irak, in Afghanistan und in Syrien hin. Das einseitige Diktat der USA, so Putin, beseitige die Konflikte nicht, es eskaliere sie vielmehr. Die USA setzten wieder auf eine Spaltung der Welt, wie seinerzeit im »Kalten Krieg«, grenzten Staaten aus, entwickelten Feindbilder und übten Druck aus:

»Allerdings ist die heutige globalen Wirtschaftzusammenarbeit einem beispiellosen Druck westlicher Regierungen ausgesetzt. Welche Art von Geschäft, welche wirtschaftliche Zweckmäßigkeit, welcher Pragmatismus kann bestehen, wenn die Losung ausgegeben wird: ›Das Vaterland ist in Gefahr, die freie Welt ist in Gefahr, die Demokratie ist in Gefahr!‹? Dann muss man mobilisieren. Das ist Mobilisierungspolitik.«

»Nationale Souveränität« sei für die meisten Staaten nur noch ein relativer Begriff. Je höher die Loyalität des jeweiligen Regimes zum »einzigen Zentrum« – den USA – sei, desto höher bewerten die USA deren Legitimität. Zugleich täten die USA und ihre Satelliten alles, um die internationale Zusammenarbeit zu sabotieren. Eine solche Haltung, so Putin, entspreche nicht mehr der Wirklichkeit einer vielgestaltigen, einer multipolaren Welt. Wirtschaftliche Zusammenarbeit sei nötig, und der Aufbau eines neuen internationalen Systems. Denn, so warnte er, die neue »polyzentrische Welt« sei nicht stabil, im Gegenteil: es drohe eine weltweite Anarchie, wenn man nicht ein System von Verträgen und gegenseitigen Verpflichtungen sowie einen Konfliktlösungsmechanismus schaffe. Eine Gefahr stelle insbesondere die innere Instabilität einiger Staaten dar, die Ukraine sei ein Beispiel dafür. Gefährlich sei auch die Tendenz, dass viele Staaten nur im Bau der Atombombe eine Garantie für die eigene Souveränität sähen. Schließlich nehme die Zahl der religiösen, interethnischen und sozialen Konflikte zu, also der Nährboden für Gesetzlosigkeit, Chaos und Terrorismus. In dieser Situation sei ein neuer globaler Konsensus »der verantwortlichen Kräfte« notwendig.

In diesem Zusammenhang hob Putin die Rolle von Regionalorganisationen hervor, die Regeln setzten und den Raum organisierten. Die Zusammenarbeit zwischen solchen »regionalen Zentren« werde die internationale Stabilität erheblich voranbringen. Alle diese Zentren und ihre Integrationsprojekte müssten aber – das betonte der Präsident – das gleiche Recht auf Entwicklung haben. Russland, so schloss er, habe eine integrative, positive, friedliche Agenda, es arbeite friedlich mit der Eurasischen Wirtschaftsunion, der Shanghai Organisation, den BRICS-Staaten und anderen Partner zusammen.

Polyzentrismus und das Feindbild USA

Die Idee einer Weltordnung, in der eine Reihe von »Zentren«, die als Integrationskerne für ihre jeweilige Nachbarschaft dienten, im Dialog Ordnung, Wirtschaftsentwicklung und Sicherheit garantierten, haben russische Politiker seit vielen Jahren propagiert. Dass die Welt »multipolar« oder »polyzentrisch« ist, dass neben den USA, China, Japan, der Europäischen Union, perspektivisch auch Indien, Brasilien und andere Staaten von Bedeutung sind, ist gewiss eine zutreffende Beobachtung. In dieser Welt beansprucht auch Russland eine eigene Rolle. Das Projekt einer eurasischen Integration, das Putin im Oktober 2011 in einem programmatischen Artikel in der »Iswestija« skizziert hatte, war darauf angelegt, Russland als ein »Zentrum« zu etablieren, das die Nachbarstaaten um sich sammeln will. Aus dieser Politik ist eben auch der Russland-Ukraine-Konflikt erwachsen, da die russische Führung auf die innere Entwicklung in der Ukraine, die einer solchen Integration entgegenstand, mit dem Einsatz von Militär auf der Krim und der militärischen Unterstützung für separatistischer Kräfte in der Ostukraine reagierte. Putins Rede vor dem Waldai-Club formulierte das Projekt der eurasischen Integration als Garant für Russlands Rolle als eines der globalen Zentren noch einmal in aller Deutlichkeit – obgleich er auf die Aufgaben Russlands in der neuen Weltordnung nicht explizit einging. Dennoch wurde klar, dass die Rede im Kern Russlands Anspruch artikulierte, »Zentrum« in einer polyzentrischen Welt zu sein.

Zugleich wurde auch deutlich, dass die russische Führung Russland von außen, durch die USA und »ihre Satelliten« bedroht sieht. Die hätten etwa versucht, die »farbigen Revolutionen« für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, doch sei nun der »Geist aus der Flasche« und das Chaos kaum noch steuerbar. Es seien also die USA, deren ungeschickte und egoistische Politik, die Weltordnung destabilisiert hat. Die Europäische Union figurierte in Putins Vortrag als Anhängsel amerikanischer Politik, die ihre eigenen Interessen vernachlässige, und deren Logik er nur schwer verstehen könne. Die Sanktionspolitik störe die internationale Zusammenarbeit, sie sei ganz allein politisch motiviert und dem Streben nach amerikanischer Einflussnahme geschuldet – »Wir verstehen, wie und unter wessen Druck diese Entscheidung gefällt wurde«. Russland seinerseits werde auf die Sanktionen weiter keine Aufmerksamkeit verschwenden: »Russland ist ein selbstgenügsames Land«. Selbstgenügsam und im guten Sinne konservativ, so beschrieb Putin die Rolle seines Landes, das wie der Bär der Taiga, niemanden um Erlaubnis fragen, seine Taiga aber auch niemandem überlassen werde.

Angesichts der Tatsache, dass der Vortrag immer wieder auf die Komplexität der Welt von heute hinwies, auf die vielfältigen Bedrohungen, die sozialen, ethnischen und religiösen Konflikte, auf das Versagen der Ordnungsmechanismen, erscheint es verblüffend, dass Putin allein die USA als Feind ausmacht. China spielt in seinem Weltbild keine besondere Rolle. Der EU spricht er ein eigenes Profil ab, er definiert die europäischen Staaten als »Satelliten«. Demokratisierung erscheint als Einmischung in innere Angelegenheiten, als Bedrohung. Farbige Revolutionen kann er sich nur als Intrige der USA vorstellen. So entsteht wieder das Bild einer zweigeteilten Welt: dort die USA und ihre Satelliten, hier der russische Bär. Das ist ein Konzept, das wenig Platz lässt für internationale Integration und für Auflösung der gerade neu entstehenden Blöcke. Im Kern ist es die Vorlage für ein neues Jalta, in dem allen Großmächten – von China über die USA und Europa bis hin zu Russland – ihre Einflusssphäre zugesprochen und Sicherheit vor der Einmischung anderer in das politische oder Wertesystem garantiert wird.

Patruschew: Sowjetnostalgie als außenpolitische Leitvorstellung

Vergleicht man Putins Vortrag mit den Äußerungen anderer russischer Politiker, dann erscheint er nüchtern und zurückhaltend. Nikolaj Patruschew, seines Zeichens Sekretär des nationalen Sicherheitsrates und ehemaliger Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB, entwickelte in einem Interview, das er neun Tage vor Putins Waldairede der »Rossijskaja gaseta« gab, eine Weltsicht, die völlig von der Zeit des »Kalten Krieges« geprägt war. Feind seien die USA, die über Jahrzehnte alles daran gesetzt hätten, die UdSSR zu zerschlagen und Russland zu schwächen. Patruschew unterstellte, dass die amerikanische Politik im Kern den Vorstellungen folge, die der amerikanische Politikwissenschaftler Zbigniew Brzezinski, in den siebziger Jahren Sicherheitsberater von Präsident Carter, formuliert hatte. Der habe seinerzeit empfohlen, die Schwachstellen der UdSSR anzugreifen. Als eine solche Schwachstelle habe der CIA die Wirtschaft ausgemacht und versucht, die UdSSR durch eine zweisträngige Strategie zu ruinieren, indem er einerseits die internationalen Ölpreise senkte und so die sowjetischen Einnahmen verringerte, andererseits über den Rüstungswettlauf die sowjetischen Ausgaben steigerte. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion habe die amerikanische Führung ihre Politik dann fortgesetzt, indem sie z. B. .den russischen Einfluss auf dem Balken beschränkte und die NATO dort etablierte. Auch sei die Aufstandsbewegung in Tschetschenien zeitweise unter Kontrolle des »Westens« gewesen. Durch massive Finanzspritzen hätten die USA auch ganz bewusst die Voraussetzungen für die farbigen Revolutionen im postsowjetischen Raum geschaffen. 2008 habe die georgische Führung mit direkter Unterstützung der USA versucht, Südossetien »zu vernichten« und russische Friedenstruppen angegriffen. In der Ukraine habe man eine ganze Generation mit Hass gegen Russland und dem Mythos der »europäischen Werte« vergiftet, um dann 2014 in Kiew – wieder mit direkter Unterstützung der USA – einen klassischen Staatsstreich durchzuführen, wie ihn die USA schon wiederholt in Lateinamerika, Afrika und dem Nahen Osten erprobt hätten. Die Ursache des amerikanischen Vorgehens habe seinerzeit Madeleine Albright verraten, als sie erklärte, das Territorium Russlands sei viel zu groß und zu reich – und Moskau nicht in der Lage, es zu regieren. Daher müsse man anderen Staaten »freien Zugang« ermöglichen. Die USA, so Patruschew, suchten sich angesichts der Verknappung von Energie der russischen Ressourcen zu bemächtigen. Die russische Führung müsse daher jederzeit die territoriale Einheit und Souveränität des Vaterlandes sichern und seine Reichtümer im Interesse des multiethnischen Volkes der Russischen Föderation einsetzen.

Patruschews Fixierung auf die USA und seine Interpretation der Weltgeschichte als eine fortgesetzte amerikanische Verschwörung machen es schwer, ihn ernst zu nehmen. Die Vorstellung, wechselnde amerikanische Administrationen mit wechselnden Sicherheitsberatern hätten – auch nach 1991 – vor allem ein Ziel verfolgt, nämlich Russland zu schwächen, ist für jemand, der beobachtet, wie amerikanische Politik mit ihren ganzen innenpolitischen Zwängen gestaltet wird, nicht wirklich glaubwürdig. Darüber hinaus hatte man – wenigstens in Europa – in den letzten Jahren eher den Eindruck, dass die USA an Europa wie an Russland das Interesse verloren und sich China und Ostasien zugewandt haben. Patruschew nimmt dies anders wahr – und er gehört gegenwärtig dem engeren Führungszirkel an, der auf russische Außen- und Sicherheitspolitik Einfluss nimmt.

Glasjew und die Weltdeutung des Rechtsradikalismus

Patruschews Weltsicht findet sich in radikalisierter Form auch bei Sergej Glasjew, dem Präsidentenberater für Fragen der regionalen Wirtschaftsintegration, einem ehemaligen Außenwirtschaftsminister, der 2003/2004 einer der Führer der rechtsnationalen Partei »Rodina« (»Heimat«) war. Diese Gruppierung hatte bei den Dumawahlen 2003 einen Überraschungserfolg erzielt. Dies wurde von der Präsidialverwaltung als Gefahr für das Regime interpretiert und man tat alles, um die Partei zu ruinieren. Ihren Führern machte man zugleich Integrationsangebote und zog Glasjew, ebenso wie seinem Stellvertreter, Dmitrij Rogosin, wieder zu Regierungsämtern heran. Seit 2012 gehören beide dem Führungszirkel der dritten Putin-Administration an und stehen für die Politik der rechtsradikalen Mobilisierung, Glasjew wird nachgesagt, dass er die russische Ukrainepolitik mitgestaltet hat. Auf einer Konferenz in Jalta erläuterte er nun, wer eigentlich hinter dem Konflikt in der Ukraine stecke: Es sind die USA.

Die Macht in Kiew sei in Händen von Oligarchen und Kapitalisten, die aus dem Krieg Gewinn zögen. Poroschenko, Jazenjuk und Turtschinow (die er als Inhaber der Macht in Kiew identifiziert) machten sich mit den »postchristlichen Werten« des heutigen Europas gemein. Diese seien, so Glasjew, durch die Geringschätzung der Familie, das Aufblühen von Homosexualität, die Missachtung der Meinung von Mehrheiten und die »Jugendjustiz« geprägt (aus schwer zu nachzuvollziehenden Gründen interpretiert die russische Rechte die Jugendgerichtsbarkeit als »Waffe gegen die Menschheit«). Poroschenko, so Glasjew, sei ein Faschist und werde von Europa nur unterstützt, weil dieses von den Amerikanern besetzt sei, die auf europäische Politiker Druck ausübten. Der faschistisch-ukrainische Staat entstehe unter direkter Führung der USA, genauer: ihrer Geheimdienste und Einflussagenten. Der wirkliche Präsident der Ukraine sei der amerikanische Botschafter. Mit den Händen der ukrainischen Faschisten entfesselten die Amerikaner, so Glasjew, einen Krieg in Europa. Der Krieg sei für die Amerikaner ein gutes Geschäft. Ihre Investitionen hätten sich jetzt schon amortisiert. In diesem Zusammenhang verweist Glasjew auf die ukrainischen Goldreserven und die ukrainischen Kunstschätze, die heute angeblich in Washington seien. Im Donbass befänden sich Ölschieferlagerstätten, daher vertreibe man da die Bevölkerung. Die USA bräuchten den Krieg, um die Schulden loszuwerden, Konkurrenten zu schwächen und die »russische Welt« zu zerstören. Die »russische Welt« aber müsse gerettet werden.

Kaum Hoffnung auf Bewegung in der Außenpolitik

Liest man solche Ergüsse, dann fragt man sich, ob man es mit Tollhäuslern zu tun hat, oder mit Kindern, die sich zu lange das unzerreißbare Bilderbuch für kleine Nazis angeschaut haben. Aber es handelt sich bei Glasjew und Patruschew um Politiker, die gegenwärtig dem engeren Umfeld der Putin-Administration zuzurechnen sind. Ihre Perzeption der internationalen Lage beeinflusst die russische öffentliche Meinung und bis zu einem gewissen Grade auch russische Außenpolitik. Gewiss unterscheiden sich die Argumentationen von Putin, Glasjew und Patruschew. Das Denken Patruschews ist zutiefst von der Erinnerung an die Ost-West-Konfrontation geprägt, als sich die Supermächte UdSSR und USA gegenüberstanden. Den Untergang der UdSSR kann sich der KGB-Mann Patruschew nur als amerikanische Intrige erklären. Und die Demonstrationen auf dem Majdan sind einfach die folgerichtige Fortsetzung dieser erfolgreichen US-Strategie. Glasjew nimmt die Welt anders wahr: Auch für ihn sind die Amerikaner schuld, die Druck auf Europa ausüben, die ukrainischen Ressourcen stehlen und den Dritten Weltkrieg anstreben, um ihre Schulden loszuwerden. Aber seine Argumentationsmuster gleichen eher denen der Rechtsradikalen in Deutschland, Frankreich und anderen europäischen Staaten. Sein Denken speist sich weniger aus der sowjetischen Vergangenheit als aus der rechtsradikalen Gegenwart. Putin argumentiert demgegenüber geradezu differenziert und sehr viel nüchterner. Für ihn geht es darum, Russland in der neuen Weltordnung einen angemessenen Platz zu verschaffen, eine Position auf Augenhöhe mit den USA. Und dazu muss Russland ein »Zentrum« darstellen, als Kern eines eurasischen Integrationsprozesses.

So unterschiedlich die drei Denkansätze sind, so haben sie doch einige Punkte gemein: alle drei stellen sich Russland als Großmacht vor, als Vormacht des eurasischen Raumes, als »russische Welt«. Alle drei identifizieren die USA als den eigentlichen Feind, der versucht, Russland zu schwächen und zurückzudrängen. Andere Faktoren spielen in diesem bipolaren Denken nur eine untergeordnete Rolle. Die Gegenüberstellung von Russland und den USA bestimmt die Wahrnehmung der internationalen Lage. Das ist offensichtlich ein nicht überwundenes Erbe aus der Zeit des »Kalten Krieges«. Man hat zwar die wachsende Bedeutung Chinas und anderer BRICS-Staaten wahrgenommen, wie auch die wichtige wirtschaftliche Rolle der EU, doch dies spielt im außen- und sicherheitspolitischen Denken keine Rolle.

Wichtige politische Akteure in Russland leben in der Vergangenheit und verweigern sich außen- und wirtschaftspolitischen Realitäten. Das ist eigentlich nur als Wagenburgdenken zu erklären. Mit dem Rücken zur Wand, von Feinden umgeben, versucht man sich selbst und der russischen Öffentlichkeit die Welt zu erklären. Eine solche Haltung hat nicht nur für die innere Entwicklung Russland negative Folgen, sie stellt auch für die deutsche und europäische Außenpolitik ein Problem dar. Denn welche Ansatzpunkte zur Krisenbewältigung kann es geben, wenn die Akteure in Russland die Welt in Freund-Feind-Schemata wahrnehmen. Man muss wohl davon ausgehen, dass der politische Bewegungsspielraum und die Kompromissfähigkeit auf russischer Seite gegenwärtig sehr gering sind.

Hoffnung auf eine gewisse Bewegung besteht dann, wenn der Einfluss professioneller Außen- und Wirtschaftspolitiker in Russland zunimmt. Personen wie der ehemalige Finanzminister Aleksej Kudrin oder German Gref, der ehemalige Wirtschaftsminister und Vorstandsvorsitzende der Sberbank, vertreten zwar auch offensiv russische Großmachtinteressen, doch haben sie eine Vorstellung von sozialen Zwängen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und sie sind nicht Gefangene rückwärtsgewandter Verschwörungstheorien. Präsident Wladimir Putin kann, das hat die Erfahrung gezeigt, mit Leuten wie Gref und Kudrin ebenso gut arbeiten, wie er heute mit rechtsradikalen Akteuren umgeht, die sich in einer ideologischen Wagenburg eingeigelt haben. Doch seit Mitte 2012 setzt die Präsidialadministration im Innern auf eine rechte Mobilisierungspolitik. Mit Erfolg – die Zustimmung zum Regime und zum Präsidenten ist gewachsen. Insofern sind Verschiebungen in der Spitze nicht so rasch zu erwarten.

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