Russlands Ferner Osten – Bevölkerung und Geographie
In der modernen Welt sind die Wohnortwechsel, die traditionell mit dem Begriff »Migration« bezeichnet werden, komplexer und vielfältiger geworden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges sind Bürger Russlands aktiv an den grenzüberschreitenden Wanderungsprozessen beteiligt. Migration ist über viele Jahre ein aktuelles Thema des gesellschaftlichen Diskurses geblieben. Einer Umfrage des »Allrussischen Meinungsforschungsinstituts« (WZIOM) vom Juli 2014 zufolge halten 19 % der Bürger Russlands Migration und die interethnischen Beziehung für die wichtigsten Probleme des Landes.
Der Ferne Osten gehörte traditionell zu den am wenigsten besiedelten Teilen Russlands. Bei einer Gesamtfläche der neun Föderationssubjekte von 6, 169 Millionen Quadratkilometern, die über 35 % der Landesfläche ausmacht, erreichte die Bevölkerungszahl der Fernen Ostens in den letzten Jahren der Sowjetunion mit etwas über acht Millionen ihren Höhepunkt. Das war die Folge massiver (und nicht immer freiwilliger) Umsiedlungsmaßnahmen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt worden waren. Zur indigenen Bevölkerung dieser riesigen Gebiete gehört vor allem die Kategorie der sogenannten »kleinen Völker«. Eine Ausnahme bilden die Jakuten, eine recht zahlenstarke Ethnie, die vorwiegend (zu 97 %) in der Republik Sacha (Jakutien) leben und dort die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachen. Die Republik ist das einzige Föderationssubjekt im Föderalbezirk Fernost, in denen ethnische Russen nicht die dominierende Volksgruppe darstellen.
Ungeachtet der geographischen Lage der Region neigen deren Bewohner kulturell Europa zu, und nicht Asien. Die Art und Weise, in der die Gebiete des Ostrusslands erschlossen wurden, legt nahe, dass ein großer Teil der Bevölkerung durch Umsiedler und deren Nachfahren gebildet wird. Dadurch ist im historischen Gedächtnis der Menschen im Fernen Osten immer das attraktive Bild einer »kleinen fernen Heimat« präsent gewesen, die während des Besuchs bei Verwandten, die in den »Ausgangssiedlungen« leben, reale Züge annimmt.
Der Anfang der 1990er Jahre erfolgte wirtschaftliche und politische Wandel in Staat und Gesellschaft hatte katastrophale Folgen auf die demographische Lage der Region. Die demographische Kennziffern des Fernen Osten haben – selbst vor dem Hintergrund der ungünstigen demographischen Entwicklung Gesamtrusslands – tragische Züge angenommen.
Bevölkerungsbewegungen im Fernen Osten
Die Bevölkerungszahl des Föderalbezirks Fernost (russ.: »DFO«) betrug zum 1. Januar 2014 6,227 Millionen oder 4,34 % der Gesamtbevölkerung Russlands. Viele ausländische (vor allem US-amerikanische und westeuropäische) Wissenschaftler sind in ihren Arbeiten, in denen sie die Situation aus Sicht einer Suche nach wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven betrachten, der Ansicht, dass es angesichts der ungünstigen Klimabedingungen keinen Sinn hat, die Bevölkerungszahl anwachsen zu lassen, da deren Versorgung bei Einhaltung der grundlegenden sozialen Vorgaben verlustreich und nicht zweckmäßig wäre.
Es ist übrigens für Behördenvertreter aller Ebenen und Bereiche zum guten Ton geworden, die politische und wirtschaftliche Bedeutung der Region hervorzuheben. Angesichts der weiteren Zuspitzung der Beziehungen Russlands zur EU und den USA sowie in Folge der gegen Russland verhängten Sanktionen hat sich die propagandistische Rhetorik über eine Änderung der Prioritäten verstärkt. Eine Ausrichtung nach Osten wird als die wirtschaftlich aussichtsreichste und politisch stabilste dargestellt. Offensichtlich soll in nächster Zeit der »goldene Regen« des Wohlstands auf die Menschen des Fernen Ostens niedergehen.
Konsequenterweise handelt ein beträchtlicher Bevölkerungsteil der Region nicht im Einklang mit den Aufrufen der Regierung, sondern ausgehend vom eigenen Verständnis ökonomischer Zweckmäßigkeit. Die konkurrenzfähigsten Bewohner des Fernen Ostens ziehen auf der Suche nach einem besseren Leben und beruflicher Selbstverwirklichung in den europäischen Teil der Russischen Föderation oder ins Ausland; zur typischsten Zielregion in Russland ist in den letzten Jahren die Region Krasnodar geworden, wo ein umfangreiches Netz freiwilliger und professioneller Umzugshilfen geschaffen wurde. Vor allem gebildete und relativ wohlhabende Menschen verlassen den Fernen Osten. Migrationsstimmungen sind auch für junge Menschen kennzeichnend, bei denen die psychologische Hemmschwelle niedrig ist.
Migrationspolitik und Einstellungen zu Migranten
Die Regierung der Russischen Föderation hat zwei aktuelle Initiativen vorgelegt, die die Migrationsbewegung in den Fernen Osten lenken sollen.
Die erste steht im Zusammenhang mit dem Vorschlag, 2015 ein »Gebiet beschleunigter Entwicklung« (russ.: »TOR«) einzurichten, auf dem unter anderem die Migrationsbestimmungen gelockert werden sollen. Dem Gesetzentwurf zufolge, der am 15. Oktober 2014 von Alexander Galuschka, dem Minister für die Entwicklung des Fernen Ostens; in die Staatsduma eingebracht wurde, sollen Arbeitgeber ausländische Arbeitnehmer ohne Genehmigung des Föderalen Dienstes für Migrationsfragen eingestellt und beschäftigt werden können; stattdessen sollen den Migranten die Einladungen und Arbeitserlaubnisse für Russland ungeachtet der von der Regierung aufgestellten Quoten erteilt werden.
Unmittelbar danach wurde eiligst eine Abstimmung im Internet veranstaltet, mit der die Haltung zu diesem Vorschlag der Regierung ermittelt werden sollte. An der Abstimmung nahmen 2624 Menschen teil, von denen 88 % aus Angst vor steigender Kriminalität und sinkenden Löhnen eine ablehnende Haltung gegenüber Migranten zeigten.
Viele Bürger Russlands kommen mit der Arbeit von Migranten in Berührung und weigern sich gleichwohl, deren »Nützlichkeit« zu sehen. In Gesprächen mit Studenten verschiedener Fachrichtungen stößt man oft auf den Unwillen der Sprecher, das Recht der Arbeitsmigranten anzuerkennen, als Träger ihrer Kultur zu gelten, einer Kultur, die oft tiefer wurzelt, als die eklektische Weltsicht von Absolventen einer Hochschule im Fernen Osten.
In den über zwanzig Jahren seit dem Zerfall der UdSSR werden Einwohner der einstigen Sowjetrepubliken von den Bürgern Russlands nicht mehr als Mitbürger betrachtet. Einer Umfrage zufolge, die 2013 in drei Föderationssubjekten der Region durchgeführt wurde, zeichnen sich junge Einwohner des Fernen Ostens nicht durch eine tolerante Haltung gegenüber Zuwanderern aus eine fremden Kultur aus. Zuwanderer aus den zentralasiatischen GUS-Staaten werden im Schnitt von 50,9 % der Befragten negativ beurteilt. Ähnlich ist übrigens die Haltung gegenüber Zuwanderung aus der Volksrepublik China (hierzu äußerten sich in den drei Föderationssubjekten 52,2 % der Befragten negativ), aus Aserbaidschan, Armenien und Georgien (51,9 % negative Antworten), noch negativer die gegenüber zugewanderten Angehörigen der Ethnien im Nordkaukasus (62,7 % Ablehnung). Dabei ist die missachtende Haltung der Migranten gegenüber der lokalen Bevölkerung sowie den Gesetzen und Traditionen der Hauptgrund für die negative Einstellung unter den jungen Einwohnern des Fernen Ostens gegenüber Zugewanderten.
Flüchtlinge aus der Ost- und Südukraine
Bis in die jüngste Zeit sind die wenigen Europäer und zugewanderten »slawischen Brüder« aus den postsowjetischen Staaten sowie die in ihrer Mentalität nahestehenden Ukrainer und Belorussen mit großem Interesse wahrgenommen worden. Diese Situation änderte sich mit der intensiveren Zuwanderung aus dem Südosten der Ukraine. Angesichts der massiven Aktionen zur Sammlung von Hilfsgütern für Flüchtlinge steigt gleichzeitig eine latente Unzufriedenheit in Bezug auf deren Ansprüche (Wohnung, Lebensmittel, medizinische Versorgung, überzogene Vorstellungen vom Lohnniveau). Der Ferne Osten soll einer offiziellen Quote gemäß bis Ende des Jahres 9060 Flüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen. Darüber hinaus gibt es eine beträchtliche Zahl Flüchtlinge, die auf eigene Faust zuwandern, weswegen eine Überschreitung der festgelegten Quote prognostiziert wird. In der Region Chabarowsk, auf die der stärkste Flüchtlingsstrom entfällt, wurde im September der Notstand ausgerufen, unter deren Bestimmungen alle materiellen Ressourcen der regionalen Reserve zur Unterbringung und Arbeitsvermittlung von Flüchtlingen eingesetzt werden können. Neben dem verhaltenen Murren der Bevölkerung brachte Alexander Lewintal, der für Wirtschaftsfragen und die Koordination der Flüchtlingsarbeit zuständige erste stellvertretende Gouverneur der Region Chabarowsk, an Panik grenzenden Missmut zum Ausdruck.
Der Vorschlag, den Migranten juristische und soziale Hilfe zu leisten, hat auch Proteste ausgelöst, da die Menschen im Fernen Osten eine ständige Vernachlässigung und fehlende Aufmerksamkeit ihnen gegenüber, den Problemen von Bürgern Russlands am Rande des Staatsgebietes gegenüber empfunden; das Bemühen der Behörden zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Migranten wird oft als ungerechten Einsatz der Ressourcen betrachtet, bisweilen auch als Verrat nationaler Interessen.
Anreize für russische Fachleute
Die zweite Initiative der Regierung zielt auf Fachkräfte aus Russland im Alter bis 35 Jahre, denen ein Zuschuss von 800.000 Rubeln für deren Bereitschaft geboten wird, in den Osten des Landes umzuziehen. Es ist geplant, zu diesen Zwecken im Falle einer Umsetzung des Programmes »Neue Maßnahmen im Beschäftigungsbereich 2014–2016« 130 Milliarden Rubel aufzuwenden. Bereits einfache Kalkulationen zeigen, dass diese Entscheidung für 162.500 Menschen berechnet war, was der Bevölkerungszahl einer mittelgroßen Stadt im Fernen Osten entspricht, zwischen der von Nachodka (Region Primorje – rund 155.000 Einwohner) und Petropawlowsk-Kamtschatskij (rund 180.000). Die Diskussion in den sozialen Netzwerken zu dieser Initiative zeigt große Zweifel an deren Erfolg, und zwar sowohl bei potentiellen Umsiedlern, als auch insbesondere bei Einwohnern des Fernen Ostens. Die ersteren sprechen von unzureichenden materiellen Anreizen: Die angebotene Summe würde nicht die Kosten für eine neue Wohnung, die Unannehmlichkeiten durch den Abschied von der gewohnten Umgebung, das geringe Lohnniveau im Kontrast zu erheblich höheren Verbraucherausgaben wegen erhöhter Preise und der notwendigen Anschaffung warmer Kleidung usw. Die Zeiten sind vorbei, da man in den Fernen Osten fuhr, um »dem Geruch der Taiga zu folgen«, wobei auch früher die Motive der Romantiker mit Maßnahmen zur Schaffung materieller Anreize vermischt waren. Bewohnern des europäischen Teils von Russland erscheint es heute nicht mehr attraktiv, sich zum Geldverdienen in den Fernen Osten aufzumachen. Es liegt näher, ist bequemer und vor allem einträglicher, nach Europa mit dessen entwickelter Verkehrs- und Sozialstruktur zu gehen.
Noch pessimistischer in Bezug auf das neue Umsiedlungsprogramm sind jene gestimmt, die bislang noch im Osten Russlands leben. Zu den Kritikern gehört auch der Abgeordnete der Duma der Region Chabarowsk Sergej Jaschtschuk, der auf die Notwendigkeit verweist, seine jungen Kader in der Region zu halten. Es sei ungerechtfertigt, den Umzug von Fachkräften aus den westlichen Landesteilen zu finanzieren, die sich sehr wohl den lokalen Besonderheiten nicht gewachsen zeigen und nach ein paar Jahren Arbeit wieder zurückgehen könnten. Wenn der Bevölkerungsabzug nicht gestoppt werde, sei es sinnlos, Mittel für den Zuzug von Neubürgern des Fernen Ostens aufzuwenden.
Emigrationsabsichten
Die jungen Menschen der Region folgen der gesamtrussischen Tendenz zur verstärkten Migration ins Ausland. Bei einer Umfrage des Lewada-Zentrums vom 23.–27. Mai 2013 erklärten von den Russen unter 25 Jahren 39 % den Wunsch nach Auswanderung, von denen zwischen 25 und 40 Jahren waren es 32 %.
Als wichtigste Faktoren, die an eine Emigration denken lassen, werden bessere Lebensbedingungen im Ausland genannt (49 %), der Wunsch nach einer anständigen Zukunft für die Kinder (31 %) und die wirtschaftliche Instabilität in Russland (32 %).
Andererseits haben nur ein Prozent der Befragten ihre »feste« Absicht zur Auswanderung bekundet; die Papiere dafür besorgen sich weniger als ein Prozent. Auch sollte das von Richard T. LaPiere beschriebene Paradoxon nicht vergessen werden, dem zufolge, grob gesagt, »wollen« nicht auch »auswandern« bedeutet. Selbst diese Ziffern sind übrigens nach russischen Maßstäben beträchtlich, ihnen mit Ironie zu begegnen, wäre kurzsichtig.
Bei dem Versuch diese Prozesse zu analysieren entstammt die erste Schwierigkeit, mit der sich der Forscher konfrontiert sieht, dem Bereich der Statistik: Bei der Menge an Umfragen, an Feststellungs- und Ordnungsverfahren, die den Grenzübertritt regeln, kann eine belegbare Zahl der Bürger Russlands, die in diversen Regionen der Erde sich als Ausländer aufhalten, nicht benannt werden. Den 2011 erlassenen Vorschriften zur Erfassung von Bürgern Russlands im Ausland zufolge ist zum Beispiel das Verfahren zur Aufnahme ins Konsularregister durch und durch freiwilliger Natur und weniger dazu geeignet, der Kontrolle durch das Heimatland zu dienen, als dem Wohlbefinden und der Sicherheit der im Ausland lebenden Bürger. Durch diesen Ansatz haben die Mitarbeiter der Konsulate kein vollständiges Bild von der Anzahl der Auslandsrussen und den Zielen ihres Aufenthalts dort.
Auch der Anteil der Menschen aus dem Fernen Osten, die für einen längeren Wohnaufenthalt ins Ausland ziehen, lässt sich offiziell nicht feststellen. Bei denen, die erklärtermaßen aus dem Fernen Osten wegziehen wollen, haben 20,1 % der Hochschulabsolventen in der Region Chabarowsk, 16,6 % der Berufseinsteiger im Jüdischen Autonomen Gebiet und 14 % der Absolventen in der Region Kamtschatka eine Auswanderungsabsicht geäußert.
Die Motive für einen Umzug sind im Großen und Ganzen ein Abbild jener Probleme, die junge Bürger Russlands bewegen. Der Anteil der Hochschulabsolventen, die für sich keine Karriereperspektiven sehen, wenn sie in der Region bleiben, ist recht hoch
»Expats«
Eine gewisse Vorstellung von der Zahl der Bürger, die Russland verlassen, gibt das »Demographische Jahrbuch Russlands 2013« (<http://www.gks.ru/wps/wcm/connect/rosstat_main/rosstat/ru/statistics/publications/catalog/doc_1137674209312>). Diesem zufolge haben von 2006 bis 2012 insgesamt 221.810 Bürger die Russische Föderation verlassen, wobei die festgestellten Abgangszahlen Schwankungen unterworfen sind: Es erfolgte ein Rückgang von 51.791 (2006) auf 29.467 im Jahr 2001 sowie ein Anstieg auf 46.687 im Jahr 2012. 2012 sind in die Länder des fernen Auslandes 27.179 Personen ausgewandert; unter den Zielländern nahm China 2012 mit 4.358 Personen (gegenüber 507 im Jahr 2011) den ersten Platz ein. Das lange Jahre führende Deutschland (3.781) rutschte auf Platz zwei; traditionell attraktive Länder sind auch die USA (1.561) und Israel (1.104). Die genannten Zahlen bezeichnen natürlich diejenigen, die das Land verlassen und eine neue Staatsbürgerschaft annehmen. Sie berücksichtigen nicht die beträchtliche Anzahl von expatriates.
Eine ansatzweise Vorstellung davon vermitteln die Angaben des des Internationalen Rates russländischer Landsleute, einer Organisation für Auslandsrussen. Mitte der 2000er Jahre hat die Aktivität seiner Mitgliedsorganisationen begonnen bzw. sich erheblich verstärkt, doch korreliert die Anzahl der Menschen, die als Mitglieder dieser freiwillige, selbstverwalteten gesellschaftlichen Zusammenschlüsse von Landsleuten aus Russland genannt werden und ständig oder temporär in den jeweiligen Staaten leben, in keiner Weise mit der Anzahl der tatsächlich dort lebenden Auslandsrussen. In Australien, den USA und in Chile ist von nichtregistrierter Mitgliedschaft juristischer und natürlicher Personen die Rede, in Peru wurden 400 angegeben, in Kanada über 2000 und in China 150. Dabei ist die Gemeinde der Auslandsrussen sehr viel größer, hier arbeitet der Koordinationsrat der Landsleute in China. Jedes Jahr werden in verschiedenen Städten Chinas Konferenzen durchgeführt (am 30. Mai 2014 fand in Hunchun (Autonome Koreanische Präfektur Yanbian) die achte Konferenz der in China lebenden Auslandsrussen statt; das Thema lautete: »Russisch-Chinesisches Grenzgebiet: Die Rolle der Auslandsrussen bei der Entwicklung der regionalen Zusammenarbeit«). Obwohl an der Konferenz nur rund 50 Personen teilnahmen, sprechen deren Koordinatoren von 400.000 Bürgern Russlands, die ständig in China leben. Die Auswanderer bezeichnen sich selbst als »russitschane«, abgeleitet vom russischen »russitsch« (im Mittelalter: »Russe«) und dem englischen »China«.
China als Migrationsziel
Ein äußerst wichtiger Motivationsfaktor zur Migration sind Wohnungsfragen. Die Preise für Wohnungen und die Kosten für kommunale Leistungen sind in den Städten der chinesischen grenznahen Gebiete um ein Vielfaches geringer als in den Städten des Fernen Osten Russlands. Dieser Umstand macht den Nordosten Chinas insbesondere für Rentner attraktiv.
Ein besonderes Thema ist die Entwicklung des Gesundheitstourismus. Im Fernen Osten gibt es professionelle Koordinatoren, die Patienten aus Russland dabei helfen, in China eine für die jeweilige Erkrankung passende und dem Budget des Betroffenen angemessene Klinik oder Nachsorgeeinrichtung zu finden. Der Akzent wird hier auf den Wunsch gelegt, für einen stabilen Heilungseffekt eine lange, möglichst permanente Betreuung durch chinesische Ärzte zu erreichen.
Die jungen Menschen im Fernen Osten nutzt intensiv die Möglichkeiten Chinesisch zu lernen und an den Hochschulen der grenznahen Provinzen einen Abschluss zu machen. Viele dieser jungen Leute kombinieren dabei Studium und Arbeit. Die Nachfrage nach Models mit europäischem Äußeren und nach Schauspielern allen Alters für chinesische TV-Serien ist groß. Unternehmer aus Russland werden vom stürmischen Wachstum in den unterschiedlichen Branchen der chinesischen Wirtschaft angezogen, während die Abhängigkeit Russlands von der Förderung von Energieträgern weiter bestehen bleibt. Bei einer Reihe von Berufen, insbesondere im intellektuellen Bereich, ist das Lohniveau in China mit dem Durchschnittsniveau im Fernen Osten Russlands vergleichbar, wenn nicht gar höher; gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten in China erheblich geringer.
Dem Chinaforscher oder schlichtweg aufmerksamen Beobachter des Landes wird nicht entgangen sein, dass die Anhänger einer westlichen Lebensweise dort zunimmt. Diese werden metaphorisch als »Bananen« bezeichnet – »außen gelb, innen weiß!«. Es existiert mit »Ei« auch ein umgekehrter Vergleich für jemanden, der »außen weiß und innen gelb« ist. Das ist die ehrenvolle Bezeichnung für einen Europäer, den Chinesen als »einen der ihren« anerkennen. Für Menschen aus Russland ist ein solcher Titel eine große Seltenheit, wenn auch die Integrationsprozesse fortschreiten. Bei Kulturfragen erscheint die Entwicklungsrichtung wichtiger als die Geschwindigkeit.
Es ist offensichtlich, dass die geringe Teilnehmerzahl bei Konferenzen oder anderen offiziellen Veranstaltungen entspricht nicht der tatsächlichen Anzahl der Auslandsrussen, deren Neigung zu sozialer Mobilisierung sich in Kommunikation auf Internetseiten erschöpft (so ist zum Beispiel bei den Auslandsrussen in Asien das Portal »Östliche Hemisphäre«, <polusharie.com>, besonders beliebt).
Man könnte annehmen, dass ein Teil der Auslandsrussen deshalb zu »Ehemaligen« wurde, weil man sich vom russischen Staat und dessen bürokratischen System distanzieren wollte. Russland agiert meist vor allem über staatliche Strukturen, beispielsweise über die Föderale Agentur für Fragen der GUS, der im Ausland lebenden Landsleute und für internationale humanitäre Zusammenarbeit (»Rossotrudnitschestwo«). Interessanterweise nennt Putin diesen Ansatz eine Verbreitung von »Soft power« und löst damit bei Joseph S. Nye, dem Begründer dieses Konzeptes, Verwunderung aus. Nye meinte, Russland begehe einen Fehler, wenn es den Staat als wichtigstes Instrument von Soft power betrachte. Die Rolle des Staates ist bei den beschriebenen Prozessen erheblich geringer, als es die Führung Russlands glauben mag. Es sei notwendig »die Talente seiner Zivilgesellschaften in vollem Maße zur Entfaltung kommen zu lassen«, formulierte es dieser moderne Klassiker der Politikwissenschaft, ohne jedoch dabei die Hoffnung zu äußern, dass dies in näherer Zukunft erfolgen werde.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder