20 Jahre Beginn des Tschetschenienkriegs

Von Jens Siegert (Moskau)

Vor ziemlich genau 20 Jahren begann der Erste Tschetschenienkrieg. Ziemlich genau. Denn die genaue Datierung ist nicht ganz einfach. Es gibt drei Daten. Am 26. November 1994 versuchten etwa 1.200 tschetschenische Kämpfer, unterstützt von russischen Soldaten, die tschetschenische Hauptstadt Grosny zu erobern. Der Versuch scheiterte blutig. Die Angreifer wurden aufgerieben. Viele wurden getötet. Daraufhin unterschrieb Präsident Boris Jelzin am 30. November einen Ukas zur »Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung« in Tschetschenien. Am 11. Dezember dann marschierten russische Truppen nach Tschetschenien ein, aus dem sie sich nach dem Ende der Sowjetunion fluchtartig und unter Zurücklassung fast aller Waffen zurückgezogen hatten.

Nachdem diese Notizen schon fertig und redigiert waren, hat eine unbekannte Zahl von Bewaffneten im Stadtzentrum von Grosny mehrere Gebäude besetzt. Es gibt Tote. Die, laut tschetschenischem Oberhaupt Ramsan Kadyrow, inzwischen »sicherste Stadt Russlands« ist ganz plötzlich wieder unsicher geworden. Die Menschen fürchten sich, einige flüchten. Schnell sind die Erinnerungen an noch schrecklichere Zeiten zurück. Um diese Erinnerungen geht es hier. Im Folgenden werde ich weniger analysieren und bewerten als vielmehr, ja, (mich, uns) erinnern. Denn wir mögen uns daran gewöhnt haben, nicht mehr alltägliche Schreckensmeldungen aus Tschetschenien zu hören. Der aktuelle Schrecken dort ist ruhiger, friedhofsruhiger. Aber er ist nicht weg. Nur verdrängt. Von Hoffnung und von Angst.

Mit dem Ende der Sowjetunion hatte die tschetschenische Führung unter dem Ex-Sowjet-General Dschochar Dudajew ein unabhängiges Tschetschenien ausgerufen. Wirtschaftlich mehr schlecht als recht am Leben gehalten wurde dieses Gebilde durch den Verkauf von Erdöl, vor allem aber als faktische Offshore-Zone nach Russland. Russische Gesetze und Kontrollen galten nicht. Irgendwelche Grenzen zwischen Russland und Tschetschenien, physische, administrative oder wirtschaftliche, gab es aber auch nicht. Praktisch alle Moskauer Banken hatten zu jener Zeit in Grosny Filialen (während es im übrigen Land mit der Bankenversorgung immer noch sowjetisch schlecht stand), über die munter Geld gewaschen und in alle Welt aus Russland rausgebracht wurde. Die »Wäscher« kamen aus allen Bereichen: aus Ministerien, dem ehemaligen Parteiapparat, dem Geheimdienst oder bereits neu entstandenen Privatfirmen. Tschetschenien schien auf dem Weg aus der gerade neu entstandenen »Russischen Föderation« zu sein.

Bis zum Herbst 1994 gab es viele (formelle und informelle) Verhandlungen über die Zukunft Tschetscheniens. Im Gespräch waren unterschiedliche Modelle, die unterschiedliche Grade an Autonomie vorsahen. Eine irgendwie geartete Unabhängigkeit lehnte Präsident Jelzin aber kategorisch ab. Nach dem misslungenen Angriff auf Grosny am 26. November 1994 (seine Beteiligung daran stritt der Kreml ab) wurde allen klar, dass es nur noch die Wahl zwischen offenem militärischen Eingreifen oder tschetschenischer Unabhängigkeit gab. Jelzin entschied sich für den Krieg.

Doch das große, schwache Land mit seiner zerfallenden Armee und schlecht bezahlten Polizeitruppen war nicht vorbereitet auf diesen Krieg in seiner Peripherie. Die Tschetschenen hatten sich besser gerüstet. Nicht nur aus militärischer Sicht wurde der Krieg zu einem Desaster für den Kreml und das ganze Land. Der Kreml schickte größtenteils junge, kaum ausgebildete Wehrpflichtige in den, wie es in der Presse schnell hieß, tschetschenischen »Fleischwolf«. Negativ beispielhaft steht für dieses je nach Sichtweise hilflose oder verbrecherische Vorgehen der zweite, in der Neujahrsnacht von 1994 auf 1995 unternommene Versuch Grosny einzunehmen. Die russischen, mit Panzern ausgestatteten Truppen wurden von den tschetschenischen Rebellen im Häuser- und Straßenkampf vernichtend geschlagen. Die genaue Zahl der vielen Toten ist bis heute nicht bekannt. Bilder dieser, im direkten Wortsinn, Schlacht, gelangten über die unter Jelzin weitgehend vom Staat unabhängigen Presse, besonders über das Fernsehen, auch in die letzten Winkel des Landes.

Auch im Weiteren kann man den Erste Tschetschenienkrieg als eine Aneinanderreihung von Versagen und Niederlagen der »föderalen Truppen« des Moskauer Zentrums erzählen. Ein Ereignis ragt aber noch heraus: Vom 14. bis 19. Juni 1995 nahm eine Gruppe von 195 Rebellen unter der Führung von Schamil Bassajew fast 2.000 Menschen, Patienten und Krankenhauspersonal, im Krankenhaus der Kreisstadt Budjonnowsk im an Tschetschenien grenzenden Gebiet Stawropol als Geiseln. Nach einem gescheiterten Befreiungsversuch verhandelte der damalige Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin die Freilassung der Geiseln gegen freien Abzug der Geiselnehmer. 129 Menschen ließen ihr Leben. Menschenrechtler um den damaligen Menschenrechtsbeauftragten Sergej Kowaljow hatten sich als Austauschgeiseln zur Verfügung gestellt.

Schon damals war klar, dass dieses Russland diesen Krieg auf dem eigenen Staatsgebiet militärisch nicht würde gewinnen können. Doch erst nach einem weiteren Jahr mit unzähligen weiteren Toten, erst nach der Wiederwahl von Boris Jelzin im Frühjahr 1996, kam es im August zum »Friedensschluss von Chassawjurt« durch den speziell damit beauftragten General Alexander Lebed. In der Vereinbarung zwischen Zentrum und Rebellen wurde der künftige Status von Tschetschenien nicht festgelegt, sondern eine Entscheidung darüber bis zum 31. Dezember 2001 vertagt. Faktisch war das trotzdem eine Kapitulation des Kremls.

Die »Tschetschenische Republik Itschkerien«, wie sich die Rebellen nun nannten, nutzte die anschließende Zeit, die wir heute die Zeit zwischen den Kriegen nennen, schlecht. In Tschetschenien entwickelte sich, nur unzureichend vom neuen Präsidenten Aslan Maschadow (Dudajew war im April 1996 von einer russischen Rakete getötet worden) kontrolliert, ein Räuberstaat, den man eigentlich kaum »Staat« nennen konnte. Zwei parallele Prozesse kennzeichneten die nächsten zwei Jahre: eine vor allem durch zahlreiche, oft aus dem arabischen Raum kommende Söldner voran getriebene Islamisierung des öffentlichen Lebens und die Entwicklung von Geiselnahmen als neben dem Ölexport wichtigstem »Geschäftszweig« der faktisch, wenn auch nicht de jure unabhängigen Republik.

Derweil träumten viele sogenannte Kämpfer, an der Spitze der bereits erwähnte Bassajew und ein sich Chattab nennender »Feldkommandeur« arabischer Herkunft, von einem »Emirat« im gesamten zu Russland gehörenden Nordkaukasus. Am 7. August 1999 drangen tschetschenische Einheiten mir Bassajew und Chattab an der Spitze in die Nachbarrepublik Dagestan vor. Am 9. August ernannte Boris Jelzin in Moskau den bisherigen Chef des Inlandsgeheimdienstes Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten. Zwischen dem 4. und dem 16. September wurden bei Anschlägen vier Wohnhäusern in Buynaksk in Dagestan, Moskau und Wolgodonsk in Südrussland in die Luft gesprengt. Insgesamt starben 402 Menschen in den Trümmern. Es gab über 1.700 Verletzte.

Spätestens diese Anschläge gaben den Ausschlag (oder, wie andere sagen, den Anlass) zum Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs. Wer diese Anschläge geplant und ausgeführt hat, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Vieles weist auf eine Beteiligung des russischen Inlandgeheimdienstes FSB hin. Ich neige zu der Annahme, dass sowohl Bassajew, Chattab und Co. als auch einflussreiche Kreise in der russischen Führung ein Interesse daran hatten, den Krieg wieder heiß werden zu lassen – was auch geschah. Russische Kampfflugzeuge begannen Ziele in Tschetschenien, vor allem in der Hauptstadt Grosny und der unmittelbaren Umgebung zu bombardieren. Am 24. September, einen Tag nach besonders intensiven Bombardements, erklärte Wladimir Putin, gerade zum Ministerpräsidenten ernannt, man werde die Rebellen »noch auf der Latrine plattmachen«, um die »Sache endgültig zu Ende zu bringen«.

Die Bombardierungen von Grosny und anderen Wohnorten gingen ohne große Rücksicht auf die Zivilbevölkerung weiter. Mehrere Hunderttausend Menschen flüchteten in den angrenzenden Republiken, vor allem nach Inguschetien. Die russischen Truppen öffneten einen Korridor für den ungefährdeten Abzug von Flüchtlingen, der dann aber auch bombardiert wurde.

Mit dem harten, entschlossen, aber auch erbarmungslosen Vorgehen in Tschetschenien begann der kometenhafte Anstieg der Popularität Wladimir Putins. Im Februar 2000 nahmen russische Truppen Grosny ein. Am 12. Juni wurde der Mufti Achmad Kadyrow, der im Ersten Krieg noch auf Seiten der Rebellen gekämpft hatte, zum Republikchef ernannt. Anfang 2001 kontrollierten russische Truppen die allermeisten tschetschenischen Städte und Dörfer. Nach offiziellen Angaben lebten in den Bergen noch etwa 1.000 sogenannte »Kämpfer«, die aber zunehmend die Fähigkeit zu koordiniertem militärischen Vorgehen verloren. Im Laufe des Jahres wurden von den ca. 80.000 russischen Soldaten etwa drei Viertel aus Tschetschenien abgezogen. Damit beginnen erneut zwei parallele Prozesse: die »Tschetschenisierung« (die Begrenzung der gewaltsamen Auseinandersetzung auf Tschetschenien) und der Terrorkrieg im russischen Kernland.

In Tschetschenien kämpften von nun an vor allem Tschetschenen gegen Tschetschenen. Der Kreml gab dem Kadyrow-Clan praktisch freie Hand. Der (selbstverständlich) informelle Deal lautete und lautet bis heute etwa so: Die Kadyrows »befrieden« Tschetschenien, mit welchen Mitteln auch immer, und bekommen die Republik dafür als Lehen und zudem regelmäßige üppige Zahlungen aus dem russischen Staatshaushalt.

Am 23.–26. Oktober 2002 nahmen etwa 40 Rebellen, die man wohl spätestens ab hier auch Terroristen nennen muss, in einem Moskauer Theater während der Aufführung des Musicals »Nord-Ost« 916 Geiseln. Nach erfolglosen Verhandlungen leitete der FSB ein bis heute der Öffentlichkeit unbekanntes Gas in den Zuschauerraum. Das Gas schläferte die Terroristen ein, aber auch die Geiseln. 130 Menschen, darunter die meisten Terroristen, kamen um.

Das blutigste Terrorjahr war 2004. In Grosny wurde bei den Feiern zum Tag es Sieges am 9. Mai der inzwischen zum Präsidenten gewählte Achmad Kadyrow getötet (und mit ihm acht weitere Menschen). Bei einem Angriff von Rebellen auf die Hauptstadt der Nachbarrepublik Inguschetien Nasran gab es 93 Tote, Angreifer und Verteidiger. Bei zwei Bombenanschlägen auf Flugzeuge vom Moskauer Flughafen Domodedowo nach Süden starben 89 Menschen. Eine Bombe an einer Moskauer Bushaltestelle riss 4 Menschen in den Tod. Ein Selbstmordanschlag in der Moskauer Metrostation »Rischskaja« kostete zehn Menschen, darunter die Attentäterin das Leben.

Am 1. September, der in ganz Russland der Beginn des neuen Schuljahrs ist, nahmen in der Kleinstadt Beslan wahrscheinlich knapp 40 Terroristen eine ganze Schule samt Lehrern und Familienmitgliedern, insgesamt etwa 1.100 Menschen als Geiseln. Das ganze Land verfolgte im Fernsehen, wie die Schule wenig später explodiert. Es gab, nach offiziellen Angaben, 334 Tote, darunter 186 Kinder. Bis heute ist ungeklärt, ob die Terroristen die Sprengungen auslösten oder eine Rakete der Antiterroreinheiten.

Präsident Wladimir Putin nutzte den unermesslichen Schrecken im Land über den Tod so vieler Menschen und vor allem der Kinder und erklärte, Stalin paraphrasierend, »wir haben uns als schwach erwiesen – und die Schwachen schlägt man«. Außerdem schlug er als Reaktion auf die Geiselnahme die Abschaffung der Gouverneurswahlen vor.

2005 gab es weitere Anschläge, darunter einen Rebellenüberfall auf die Stadt Naltschik in der nordkaukasischen Republik Karbadino-Balkarien mit 50 Toten (35 Polizisten, 15 Angreifer). Der Überfall war ein weiterer Versuch, den in Tschetschenien schon fast erstickten Aufstand in den gesamten Nordkaukasus zu tragen. Bei diesen schrecklichen Aufzählungen dürfen nicht die bis zu 5.000 Menschen vergessen werden, die nach Recherchen von Menschenrechtlern seit Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs verschwanden und wahrscheinlich alle tot sind.

2007, nachdem er 30 Jahre alt geworden war, wird Ramsan Kadyrow, der Sohn Achmad Kadyrows, von Putin zum tschetschenischen Präsidenten ernannt. Faktisch hatte er die Republik seit der Ermordung seines Vaters mit äußerster Brutalität geführt und setze das auch fort. Weiterhin verschwanden Menschen in Tschetschenien, allerdings nicht mehr, um als Geiseln später wieder aufzutauchen und freigekauft zu werden, sondern weil sie, aus ganz unterschiedlichen Gründen – hier mischten sich oft Politik und Geschäft – Kadyrow im Weg standen.

Erst 2009 wurde das sogenannte »Anti-Terror-Regime«, eine Art innerer Kriegszustand, der den Sicherheitsorganen besondere Vollmachten gibt, in Tschetschenien aufgehoben. Das änderte aber wenig an der fast absoluten Rechtlosigkeit der Menschen dort. Der Preis für die gewaltsame »Befriedung« Tschetscheniens ist eine kleine, aber brutale Diktatur innerhalb Russlands, die auch immer ein (für manche abschreckende, für manche ermunterndes) Beispiel dafür ist, was im ganzen großen Land möglich sein könnte.

Auch in den Folgejahren ging trotz der angeblichen »Normalisierung« der Situation in Tschetschenien das Töten und Verschwinden weiter. Mitte Juli 2009 wurde die Journalistin und Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa, Leiterin der Memorial-Filiale in Grosny, entführt und ermordet. Putin versprach am Tag darauf beim Petersburger Dialog in Dresden, die Mörder zu finden. Nichts ist geschehen und nichts kann geschehen, denn vieles weist in Richtung der tschetschenischen Führung.

2010 erschütterten zwei weiter Selbstmordattentate die Moskauer Untergrundbahn. An den Stationen Lubjanka (beim FSB-Hauptquartier) und Park Kultury (beim Gorki-Park) sprengten sich zwei Frauen in die Luft und nahmen insgesamt 41 weitere Menschen mit in den Tod. Im Januar 2011 folgte noch ein Selbstmordattentäter am Flughafen Domodedowo. 27 Menschen starben.

Die Tschetschenienkriege bleiben eine offene Wunde der russischen Gesellschaft. Neben den vielen Toten haben mehrere Hunderttausend junger Männer meist zweierlei gelernt: Probleme lassen sich gewaltsam lösen und wer sich dabei an Regeln hält, bekommt Schwierigkeiten oder stirbt. Tschetschenien ist zwar weiter Teil der Russischen Föderation, aber wohl noch nie, seit der Imam Schamil Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber den russischen Eroberern die Waffen streckte, ist ein tschetschenisches Gemeinwesen so unabhängig gewesen wie heute (und wird dazu noch fürstlich aus dem Staatshaushalt alimentiert). Vor dem Krieg war nur etwa die Hälfte der Bewohner ethnische Tschetschenen. Die zweitgrößte Gruppe waren Russen. Heute sind 95 Prozent Tschetschenen.

Über das ganze Land gesehen haben die Tschetschenienkriege und die mal mehr, mal weniger offen daran anschließenden gewaltsamen Konflikte in den meisten Nachbarrepubliken zu einer fundamentalen Entfremdung zwischen der russischen Mehrheitsbevölkerung und Menschen aus dem Nordkaukasus geführt. In Zentralrussland gelten Nordkaukasier als Fremde und sind oft unbeliebter als Ausländer. Politisch ist Russland mehrheitlich in dem Widerspruch gefangen, den Nordkaukasus zwar als »urrussisches Land« anzusehen, die dort lebenden Menschen aber nicht wirklich als zugehörig zu empfinden.

Das ist, zusammen mit der großen Arbeitslosigkeit dort und der Abhängigkeit von Subventionen aus Moskau, eine mittel- bis langfristig explosive Mischung. Niemand sollte sich in der Hoffnung wiegen, die vielen, vielen Toten, das unbeschreibliche Leid, das es über zwei Jahrzehnte hinweg gegeben hat, würden einfach so vergessen. Sie schlummern, gegenwärtig mehr im Untergrund. Aber wenn sich ihrer weiter niemand annimmt, werden sie über kurz oder lang als Alpträume zurückkehren.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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