Vor einem Jahr begann der zweite Maidan in Kiew, der sich aus kleinen Kundgebungen für die Eurointegration rasch zur realen Revolution mit Straßenschlachten und vielen Toten im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt und schließlich zum Sturz und der Flucht von Präsident Janukowitsch entwickelt hat. Der Umbruch in der Ukraine, die darauf folgende Annexion der Krim durch Russland und der noch immer andauernde Krieg im Donbass mit Tausenden Opfern haben den größten geopolitischen Konflikt des neuen Jahrhunderts eingeleitet. Für viele Ukrainer bedeutete der Maidan aber nicht nur eine politische Wende, sondern auch einen Aufschwung des Nationalbewusstseins. Welche Implikationen die ukrainische »Revolution des Geistes«efür die Gesellschaft Russlands hat, diskutieren Blogger anlässlich des Jahrestages des Maidan; zu Wort meldeten sich unter anderem der Blogger und ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift »Russisches Leben« Dmitrij Olschanskij, der Publizist und Psychologe Alexander Selitschenko, Alexander Gornyj (ein Blogger aus Simferopol) sowie der namhafte russische Schriftsteller Boris Akunin.
Maidan: Gipfel russischer nationaler Erniedrigung
»Zum Jahrestag des Maidan möchte ich Folgendes sagen. Der Maidan war der Gipfel russischer nationaler Erniedrigung: Als es so schien, dass alles, was es in Kiew, in der Ukraine, ja überhaupt in der russischen an Lebhaftem, Starkem und Ungehorsamem gab, gegen uns gerichtet war, und auf unserer Seite nur noch Diebe, Polizisten, die nicht schießen dürfen, sowie »Gopniki« in Adidas-Klamotten standen.
Und am 21./22. Februar erreichte diese Herabwürdigung ihre letzte finstere Grenze: »Alles ist vorbei, alles verloren, und weiter wird es nichts mehr geben«. Und dann geschah plötzlich ein Wunder. Frauen mit Tränen in den Augen begrüßten auf der Krim die »Berkut« [Spezialeinheiten der Miliz] mit Blumen. Die Demonstration in Sewastopol. Tschalyj im Pullover. [Gemeint ist der Bürgermeister von Sewastopol Alexej Tschalyj, der zur Unterzeichnung des Abkommens über den Beitritt der Krim bei Putin im Kreml im schwarzen Pullover erschien; d. Red.] Der Morgen des 27. Februars, als das Regierungsviertel Simferopols erobert wurde. Das absolut niemandem bekannte Mitglied des antiquierten Forums »Kotytsch«, der die Besatzung der militärischen Einrichtungen leitete. Die Videos von Luhansker Partisanen, denen damals noch niemand glaubte. Die stolzen Ukrainer, die in Donezk gezwungen wurden niederzuknien. Und vieles, vieles andere, was damals entstand, später entstand und vielleicht noch bevorsteht.
Dem Maidan sei Dank! Denn durch ihn sind die Russen wiederauferstanden.«
Dmitrij Olschanskij auf Facebook, 21.11.2014; <https://www.facebook.com/spandaryan/posts/851158391571647>
Wir dürfen das Volk von Noworossija in Stich nicht lassen
»Heute sprechen viele Medien über die Ereignisse vor einem Jahr auf dem Maidan. Über Ereignisse, die tatsächlich den Beginn des Auseinanderbrechens der Ukraine verursacht haben. Wie werden sie ein Jahr später gesehen? Es gibt unterschiedliche Einschätzungen, aber nur Spinner können darauf bestehen, dass sich alles zum Besseren verändert hat. Die Ukraine zerfällt, im Osten Europas herrscht ein Bürgerkrieg, es hat eine Neuaufteilung [›peredel‹] der Welt begonnen, genauer gesagt: amerikanische Willkür [›bespredel‹].[…]
Diese [alte] Ukraine gibt es nicht mehr, und es ist unklar, was von ihr bleiben wird wegen der Provokation und jener »Kinder«, die die Zerschlagung des Landes losgetreten haben.
Und übrigens: Ich bin absolut überzeugt, dass, je weiter wir uns von diesem übergeschnappten Territorium fern halten, desto besser für uns. Wir dürfen allerdings die Bevölkerung von Neurussland nicht im Stich lassen. Ja, die armen Menschen im Osten [der Ukraine] würden sich nun selbst über den Teufel freuen, wenn es nur Frieden würde. Sie begreifen aber nicht, dass der Krieg ihnen als Paradies erscheinen wird, sobald die Nationalisten dorthin einmarschieren. Die werden alle säubern und wegätzen.«
Alexander Gornyj bei Echo Moskwy, 30.11.2014 <http://echo.msk.ru/blog/amountain/1446428-echo/>
Werden auch wir, Brüder, Herren im eigenen Land sein?
»Vor einigen Tagen war ich auf dem Konzert der Band ›Okean Elsy‹. Bin tief beeindruckt. Und sinniere über ungewöhnliches.
Zu den ungewöhnlichen Gedanken später, zunächst zum Eindruck. Nein, nicht von der Musik, die war wunderbar; ich hatte sie vorher schon mal gehört.
Vom Publikum.
Ich fand mich in einem großen Saal wieder, voll mit in ›Wyschiwanka‹ [ukrainische Volkstracht] gekleideten Leuten. Mädels hatten Kränze am Kopf à la Natalka Poltawka [Protagonistin des gleichnamigen ukrainischen Theaterstücks, das als Oper und Film adaptiert wurde]. Bei geringstem Anlass riefen alle fast schon im Chor ›Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!‹ und schwenkten gelb-blaue Fahnen. Zum Schluss sang der ganze Saal zusammen mit Wakartschuk [dem Frontman von Okean Elsy] die Nationalhymne: ›Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben‹.
Als ich mir das alles anschaute, bekam ich ein starkes Gefühl, dessen Natur mir nicht sofort verständlich war; und als es mir klar wurde, war ich sehr überrascht.
Dieses Gefühl war, wie es sich heraus stellte, grausamer Neid. Wissen Sie, ein Neid wie in der Kindheit, du sitzst zuhause mit einer Erkältung und schaust aus dem Fenster, wo alle etwas unglaublich interessantes spielen; dort ist es einfach toll. Und du hast Fieber, die Nase läuft, die Kehle ist wie Schmirgelpapier und bald steht die ekelhafte Milch mit Soda an und du bekommst dein Senfpflaster.
Denn wenn bei uns eine Menschenmasse ›Ruhm sei Russland!‹ ruft und Fahnen schwenkt, ist es entweder eine staatlich-patriotische Aktion oder eine Zusammenrottung aggressiver Fremdenhasser. Und Landsleute, die Michalkows Nationalhymne vom ›ewigen Bund brüderlicher Völker‹ singen, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, da fehlt mir die Vorstellungskraft.
Bemerkenswert war auch, dass die Menschen auf dem Konzert, auch die ›Natalka Poltawkas‹, zum Großteil untereinander Russisch gesprochen haben. Irgendein junger Mann kam zu mir und sprach mich barsch an: ›Ich bitte Sie nur um eins: Lassen Sie bitte Ihren Fandorin in ihrem nächsten Roman nicht mit dem Rechten Sektor verfeindet sein‹. All das war zweifellos wahrer ukrainischer Nationalismus, allerdings kein ethnischer, sondern ein staatlicher. Und ein vollkommen freiwilliger, da die Sache nicht in Kiew, sondern in London stattfand.
Die Altgedienten unserer Community erinnern sich wahrscheinlich, dass ich vor rund drei Jahren in der Ukraine war und dann hier im Blog schrieb, es komme meines Erachtens kein Land zustande; ich hatte nicht gespürt und nicht verstanden, was die Ukraine eigentlich ist. Ich habe alle Einheimischen gefragt. Keiner, selbst kluge Professoren aus Lwow, konnten mir eine Formel des »Ukrainertums« erstellen.
Jetzt gibt es diese Formel. Mit bloßem Auge sichtbar. Sie heißt ›nationale Wiedergeburt‹. Und ›Danke schön!‹ sollten die Ukrainer wohl Janukowytsch und Putin sagen, da der erste den Maidan provoziert hat und der zweite den Ukrainern geholfen hat, sich zusammenzuschließen und zu einer Nation zu werden.
Nachdem ich meinen Neid ausgekostet hatte, erinnerte ich mich daran, wie wir im August 1991 ebenfalls mit russischen Fahnen herumgelaufen waren, und wie toll das war. Dann aber, sehr bald, haben wir es aufgegeben. Pfui! Offizieller Glanz und Spiegelfechterei!
Dann bewegten sich in meinem durch und durch liberal-kosmopolitischen Kopf reichlich unbequeme Gedanken, die schon nichts mehr mit der Ukraine zu tun haben.
Wissen Sie, ich habe den modernen Nationalismus stets für Barbarei gehalten, einen Anachronismus und, schlimmer noch, für Häresie. Allein das Wort schon wirkte auf mich wie ein Allergen. Dann aber habe ich eine Menschenmasse gesehen, die stolz auf ihre Nationalflagge ist, die die Nationalhymne nicht unter dem schwebenden Knüppel singt – und die dabei niemanden verdammt oder verhasst, sondern einfach sich freut –, und ich war voll Neid und Bitterkeit, dass dies unter den Realitäten Russlands nicht möglich ist.
Wird es aber ohne einen solchen Aufschwung und eine solche Geschlossenheit nichts Gutes in unserem Lande geben?
Es ist klar, dass russischer, tatarischer, baschkirischer, dagestanischer und jeder andere ethnische Nationalismus nur zu Schlägerei und Unglück führen. Aber russländischer Nationalismus? Einer, der die Ethnien Russlands nicht trennt, sondern sie zu einer gemeinschaftlichen Sache vereinigt, die für alle interessant und wichtig ist? […]«.
Boris Akunin auf Livejournal, 22.11.2014 <http://borisakunin.livejournal.com/138835.html>
Revolution des Geistes
»Was hat der Maidan der Ukraine gebracht? Vor allem Selbstwertgefühl. Die Ukrainer fühlen sich nun als Herren ihres eigenen Landes. Es ist nicht wichtig, inwieweit jeder von ihnen schon heute zum tatsächlichen Herrn geworden ist. Wichtig ist, dass sich jeder nicht mehr als Untertan fühlt, sondern als Bürger. […]
Selbstverständlich haben die Veränderungen in der Ukraine nicht alle ukrainische Probleme gelöst, aber sie haben das wichtigste geschaffen, ein handelndes Individuum, einen Arbeiter, der seine Sache für gerecht hält und deswegen in der Lage ist, sie zum Ende zu bringen. Die Veränderungen beim östlichen Nachbarn der Ukraine haben einen völlig anderen Charakter. Der Krieg hat auch hier Impulse zur Einigung erzeugt. Doch hat unsere Einigung eine andere Grundlage – nicht ›unsere Sache ist gerecht‹, sondern ›wir haben gemeinsam etwas begangen‹. Auf diese Weise werden kriminelle Banden durch gemeinsames Vergehen zusammengeschweißt. Darüber hat bereits Dostojewskij in seinem Roman mit dem vielsagenden Titel ›Die Dämonen‹ geschrieben.[…]
Die Kraft des Schlages, den der Maidan Russland versetzt hat, ist schwerlich zu überschätzen. Je besser, sauberer und freier die Luft zum Atmen in der Ukraine wurde, desto schlimmer, dreckiger, stickiger wird es bei uns.[…]
Natürlich kann man (wie bei jedem Unglück) in dieser »Revolution des Geistes«, die der Maidan und seine Konsequenzen bei uns ausgelöst haben, eine lichte Seite sehen: Wir könnten nach einer Aufarbeitung dessen, was uns widerfahren ist, daraus etwas lernen. Aber das ist heute gerade unser Hauptproblem, dass wir nicht in der Lage sind, zu lernen und zu aufzuarbeiten. Uns wurde der Verstand entzogen.
Und das macht einem erst richtig Angst.«
Alexander Selitschenko bei Echo Moskwy, 23.11.2014 <http://echo.msk.ru/blog/russkiysvet_dot_narod_dot_ru/ 1442002-echo/>
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)