Die »Krim-Wende«, ihre Gründe und die wichtigsten Folgen
Die Angliederung der Krim an Russland im Februar und März und die anschließende Verwicklung in den Konflikt in der Ukraine wurden zur Achse, um die sich 2014 die ganze Politik in Russland drehte. Diese Entscheidung war unerwartet und zugleich folgerichtig, wobei diese Folgerichtigkeit sowohl durch innenpolitische als auch durch äußere Umstände diktiert wurde.
Historisch ist sich die Elite in Russland stets der relativen Rückständigkeit Russlands gegenüber dem Westen (bei der wirtschaftlichen Entwicklung und den Technologien) bewusst gewesen und hat stets versucht, diesen Rückstand durch strategische Macht und Stärke zu kompensieren, was einen Schutz nicht nur vor Einmischung von außen darstellte, sondern auch vor Druck aus dem Inneren. Diese Macht und Stärke wurde immer als Unantastbarkeit der Grenzen verstanden, und möglichst auch als Dominanz über die näheren Nachbarn, vor allem an der Westgrenze. Dieser Ansatz, der auf imperialem Denken beruhte, war spätestens seit der Breschnew-Doktrin (einer sowjetischen Kontrolle über Osteuropa) zu einem Archaismus verkommen – und dies umso mehr, seit diese Doktrin sich in ein Streben nach Dominanz über die ehemaligen Sowjetrepubliken verwandelte. Als in der wichtigsten von ihnen, der Ukraine, das von Moskau unterstützte Regime stürzte, eine prowestliche Regierung an seine Stelle trat und eine umfassende politische Krise das Land spaltete, erblickte die Regierung in Russland darin eine Bedrohung und zugleich – so erschien es Moskau – die Möglichkeit, den Verlust eines Verbündeten durch einen starken politischen Zug zu kompensieren.
Der zweite Grund für die »Krim-Entscheidung« ist innenpolitischer Natur. Bereits 2013 war klar geworden, dass die Wirtschaft Russlands sich von einer Stagnation hin zu einer Rezession bewegt. Das ließ an einer Umsetzung der sogenannten »Mai-Erlasse« des Präsidenten zweifeln. Diese Erlasse aus dem Jahr 2012 hatten praktisch das Sozial- und Wirtschaftsprogramm für die dritte Amtszeit Putins dargestellt; sie hatten insbesondere die soziale Basis seines politischen Regimes stärken sollen, also die paternalistisch eingestellten älteren Bürger, Lehrer, Ärzte usw.
Bei der Fähigkeit des Staates, den wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden war nach allen Parametern eine Erosion zu beobachten. Im Zusammenspiel mit dem schwindenden Vertrauen gegenüber dem Regime, das bei den »wütenden Städtern«, einem beträchtlichen Teil der städtischen Mittelschicht, die im Winter 2011/12 auf den Straßen protestierte, bereits zerrüttet war, bedeutete das einen Beleg für die erodierte Legitimität des Regimes, für eine Legitimitätserosion, die Putin und sein Team anscheinend nicht mehr aufhalten konnten.
Vor 110 Jahren hatte der Innenminister des Zaren, Wjatscheslaw Pleve (von Plehwe), gehofft, dass ein vergleichbares Problem durch einen »kleinen siegreichen Krieg« gelöst werden könne – doch stellte sich der Krieg gegen Japan von 1904 nicht als siegreich heraus und trug vielmehr mit seinem Rückstoß zum Zusammenbruch des Reiches bei. Heuer nun führte die erfolgreiche Angliederung der Krim zu einem beträchtlichen Effekt einer »Scharung um die Flagge« und zu einer Legitimitätssteigerung des Regimes. Die Umfragewerte von Putin machten nach 46 % im Januar einen drastischen Sprung im April und halten sich seither im Bereich von 70 %; die Werte der herrschenden Partei »Einiges Russland« stiegen derweil von 38 % auf 56 %. Bereits im Mai wollten 49 % der Bürger Russlands Putin auch nach 2018 als Präsidenten sehen. Gegen eine vierte Amtszeit waren lediglich 22 % (im Herbst 2013 war das Verhältnis noch umgekehrt gewesen). Man kann von einer neuen Welle der »Putinomanie« sprechen, nicht mehr nur von einem Vertrauen, sondern von einem starken positiven Gefühl, das die meisten Russen gegenüber ihrem Präsidenten empfinden. Als Folge werden alle Vektoren des Regierungshandelns von der Gesellschaft sehr viel besser bewertet. Selbst dann, als zum Herbst hin negative Auswirkungen auf die Wirtschaft zu Tage traten und der soziale Optimismus der Gesellschaft abzunehmen begann, hielten die Soziologen ein psychologisches Bestreben der Russen fest, den Glauben daran zu bewahren, dass – nach einem solchen Erfolg – die Schwierigkeiten nur vorübergehender Natur sind und sich alles wieder einrenkt. Darüber hinaus hat auch die mächtige Ladung antiwestlicher Propaganda ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung, umso mehr, als die Wirtschaftssanktionen gegen Russland eine Realität sind – und die negativen Trends mit den Sanktion zu erklären ist nicht unbedingt eine schwierige Aufgabe.
Diese Situation ist keineswegs verwunderlich. Fast über das ganze Jahr 2014 hinweg hat Russland seine Wirtschaft vergessen. Auf den staatlichen Fernsehkanälen (andere landesweite Kanäle existieren in Russland nicht) gilt der Löwenanteil der Nachrichtensendungen den Ereignissen in der Ukraine und auf der Krim, wird die antirussische Haltung des Westens aufgedeckt und vom Dagegenhalten der russischen Diplomatie berichtet. Bis in den Herbst hinein waren die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen für den Massenkonsumenten nicht spürbar und in der Regierung interessierte sich niemand für die Stagnation. Selbst der alljährliche Rechenschaftsbericht der Regierung vor der Duma (am 22. April), der in vergangenen Jahren die Kritik der Opposition hervorgerufen hatte, ging in diesem Jahr – als Bericht über ein äußerst enttäuschendes Jahr 2013 – erstaunlich glatt über die Bühne.
Doch seien wir ehrlich: Keine Propaganda der Welt hätte solche Ergebnisse erzielt, wenn in der Gesellschaft Russlands und in Elitenkreisen nicht wirkungsmächtige paternalistische Haltungen, der Glaube an einen charismatischen Führer sowie Rudimente der Mentalität des Kalten Krieges fortbestehen würden. Das wiederum ändert nichts an der unglaublichen Intensität und den schamlosen Lügen, mit denen die Propagandamaschine seit Monaten rund um die Uhr läuft.
Es steht außer Zweifel, dass man sich bei den Folgen der Entscheidung zur Abtrennung der Krim von der Ukraine im Großen und Ganzen verkalkuliert hat, angefangen bei der heftigen negative Reaktion des gesamten Westens bis hin zu den konkreten Sanktionen und deren Folgen für die ohnehin stagnierende Wirtschaft Russlands. Da nun einmal die Entscheidung (entschlossen und unumkehrbar) getroffen wurde, muss jetzt konstatiert werden, dass Russland sowohl die Fähigkeit der ukrainischen Nation zur Konsolidierung unterschätzt hat, als auch die Fähigkeit der ukrainischen Elite, die politische und militärische Steuerbarkeit der Landes wiederherzustellen. Ebenso unterschätzte Moskau die Geschlossenheit und Entschlossenheit der Reaktionen im Westen auf das Vorgehen Russlands. Nach dem »leicht errungenen« Gewinn der Krim ist Russland nun in einen blutigen und ausweglosen Konflikt in zwei südöstlichen Regionen der Ukraine verwickelt. Mehr noch, es befindet sich jetzt in einer langwährenden Konfrontation sowohl mit Kiew als auch mit dem Westen, der in diesem Konflikt – trotz erheblicher Nuancen – gleichwohl von einer gemeinsamen Position aus agiert.
Obwohl der »Krim-Konsens« weiterhin funktioniert, sind die Faktoren, die ihn potentiell limitieren, von Anfang an sichtbar gewesen. Dieser Konsens hat keines der sozialen und wirtschaftlichen Probleme lösen können, sondern lediglich von ihnen abgelenkt. Im Gegenteil: Viele der negativen Folgen der »Krim-Entscheidung« werden auch in Zukunft wirksam sein und in ihrer Summe praktisch die Möglichkeit einer vorwärtsgewandten Entwicklung blockieren:
Allein die unmittelbaren Verluste durch die westlichen Sanktionen werden auf rund eine Billion Rubel geschätzt; der Kapitalabfluss aus Russland beläuft sich nach Schätzungen der Zentralbank auf 120 Milliarden US-Dollar im Jahr 2014. Der Rubel ist gegenüber den weltweit führenden Währungen drastisch gefallen. Die Inflationsrate in Russland wird 2014 auf über neun Prozent steigen. Die Wirtschaft des Landes weist praktisch ein Nullwachstum auf. Bei den Realeinkommen der Bevölkerung sind bereits Anzeichen einer Stagnation zu erkennen; es gibt einen beschleunigten Preisanstieg bei Konsumgütern und Benzin. Die Prognosen für 2015 sind noch pessimistischer.Die nicht einfache Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen, die das letzte Vierteljahrhundert gekennzeichnet hat, ist offener Konfrontation gewichen. Russland ist zwar nicht zu einem »anzunehmenden Gegner« geworden, wie es einst die Sowjetunion für den Westen gewesen ist, stellt nun aber eine Quelle der Besorgnis und Unberechenbarkeit dar, die eingedämmt und ermahnt werden muss – es gibt eine neue Strategie des Containment, bei der die Entwicklung vieler Richtungen der Zusammenarbeit auf unbestimmte Zeit verlangsamt oder ausgesetzt wird. Die Beschränkung des russischen Zugangs zu den internationalen Finanzmärkten, die Erschwerung der Investitionsströme und des Technologietransfers, das Streben nach einer verringerten Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen, all das sind nur die deutlichsten Formen eines solchen »Containment«. Es sei daran erinnert, dass der Westen nur in sehr schwierigen wirtschaftlichen Situationen sich zu einer umfangreichen Ausweitung der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion entschloss, die dann einen Anstoß zur Modernisierung gab; dies erfolgte beispielsweise in den Jahren der Großen Depression oder nach dem drastischen Anstieg der Ölpreise in den 1970er Jahren (mit »Gas gegen Röhren«). Jetzt ist dergleichen nicht zu beobachten.Die Konfrontation mit dem Westen verstärkt die bewahrenden und reaktionären Tendenzen drastisch. Entwicklung, Reformen und Umgestaltung fallen aus den realen Zielsetzungen der Regierung heraus und werden durch eine Predigt über Garantien vor einer »Bewegung zurück und hinab« kaschiert. »Westliches« wird als fremd, wenn nicht gar feindlich deklariert, Konservatismus und die Suche nach einem »eigenen Weg« sind in Mode, übrigens ohne Nennung konkreter Ziele, und ohne eine Beschreibung der Wege auf denen diese zu erreichen wären.
All diese Faktoren machen, zusammengenommen, einen Strich durch die Hoffnung auf eine Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Russland, auf eine vorwärtsgewandte Entwicklung.
Das politische System: Hat eine Reform stattgefunden?
2012 hatte Waldimir Putin als Antwort auf die Massenproteste eine Teilreform des politischen Systems eingeleitet: Die freie Bildung von Parteien wurde erlaubt, die Direktwahl der Gouverneure wurde wieder eingeführt, ebenso ein gemischtes Wahlsystem für das Föderale Parlament. Die Notwendigkeit für eine zumindest dosierte Entwicklung des politischen Wettbewerbs war dem Regime angesichts der sinkenden Effizienz der staatlichen Verwaltung und der zerstörten Kommunikationskanäle zwischen Gesellschaft und Staatsmacht deutlich bewusst geworden. Drei Jahre später ist zu konstatieren, dass die politische Reform äußerst spärliche Ergebnisse gezeitigt hat.
Die Anzahl der Parteien in Russland ist von sieben im Jahre 2011 auf derzeit 74 gestiegen. Vierzehn von ihnen sind in wenigstens einem der 83 Regionalparlamente vertreten, was ihnen das Recht auf eine automatische Registrierung bei den Dumawahlen 2016 gibt. Allerdings ist das kein Beleg für eine Qualitätssteigerung des Wettbewerbs: Keine einzige der neuen Parteien stellt irgendwo eine wirklich relevante Minderheit im Parlament dar. Die Ergebnisse für »Einiges Russland« bei den Regionalwahlen, die 2013 zurückgegangen waren, näherten sich in diesem Jahr bei den Parteilisten wieder der Zweidrittelmarke. Die »alten« Parteien (die KPRF, Schirinowskijs LDPR und das linkszentristische »Gerechte Russland« ähneln immer weniger einer Opposition. Allenfalls nehmen sie bei der Ukraineproblematik eine weitaus radikalere Haltung ein als die herrschende Partei »Einiges Russland« (indem sie zum Beispiel eine offizielle Anerkennung der separatistischen Gebilde im Südosten der Ukraine fordern).
Bei den Gouverneurswahlen gibt es wegen des sogenannten »kommunalen Filters«, also der Vorschrift, dass Kandidaten zur Registrierung die Unterschriften von 6–9 % der kommunalen Abgeordneten einholen müssen, praktisch keinen Wettbewerb. Da die meisten kommunalen Abgeordneten sich in starker Abhängigkeit von der Regionalregierung befinden, sucht sich der amtierende Gouverneur daher seine Mitbewerber praktisch selbst aus. Bei den 30 Gouverneurswahlen 2014 sind 15 Gouverneure mit einem Ergebnis von über 80 % wiedergewählt worden (den »Rekord« erzielte mit 91,4 % das Gebiet Samara, das einst durch eine vollauf wettbewerbsartige Atmosphäre gekennzeichnet war) und nur zwei wurden mit weniger als 60 % im Amt bestätigt.
Die 2014 unternommene Gesetzesreform zur lokalen Selbstverwaltung vernichtet praktisch die Großstadt als politisches Subjekt, da sie dem Gouverneur die Möglichkeit gibt, Direktwahlen des Bürgermeisters und des Stadtparlaments abzuschaffen; darüber hinaus wird ihm ein entscheidender Einfluss bei der Ernennung des City-Managers und eine de facto-Kontrolle über den städtischen Haushalt gegeben. Unter den derzeitigen Bedingungen braucht das Zentrum nicht mehr auf ein Spiel mit »Checks and Balances« zwischen den Gouverneuren und den Bürgermeistern zurückgreifen, da es sich seines Reservoirs zur Kontrolle über die Regionen sicher ist.
Die Taktik der Regierung besteht nach allen Parametern darin, dass es bei Wahlen zwar ein bisschen mehr Wettbewerb gebe, doch nur durch jene Kräfte, die der Regierung gegenüber loyal sind und/oder für sie keine Gefahr darstellen; dabei wird nicht einmal eine nur potentielle Gefährdung ihres Monopols zugelassen.
Da die Regierung im politischen Bereich keinerlei ernsthafter Konkurrenz erfährt, geht sie umso härter gegen jene Segmente der Zivilgesellschaft und der Medien vor, die nicht von ihr kontrolliert und von ihr als potentielle Quelle einer neuen Protestwelle betrachtet werden. Ungeachtet der regelmäßigen Äußerungen von Wladimir Putin (unter anderem am 5. Dezember d.J.), dass das sogenannte »Gesetz über ausländische Agenten«, das die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen streng reglementiert, in Richtung einer Milderung revidiert werden müsse, wird dieses Gesetz in der Praxis verschärft. 2014 erhielt das Justizministerium die Befugnis (von der es auch Gebrauch macht), NGOs zwangsweise und ohne Gerichtsbeschluss in das »Agentenregister« aufzunehmen. Durch eine weitere Gesetzesnorm ist das Verfahren zur Überprüfung von NGOs nun sogar strenger als die Überprüfung kommerzieller Organisationen. Der Druck auf die Internetmedien wird verstärkt. Um den liberalen Fernsehkanal »Doschd« an den Rand der Schließung zu bringen, reichte es offensichtlich aus, eine Weigerung der meisten Sender zu provozieren, die Programme von Doschd zu übertragen – und ein anschließendes Verbot, bei solchen Sendern Werbung zu platzieren.
Wohin weiter?
Der oben beschriebene Widerspruch zwischen einem starken patriotischen Aufschwung und einer sich real verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Lage im Land ist die spannende Frage der zukünftigen Politik in Russland. Die wichtigsten Tendenzen – wenn man die Äußerungen Wladimir Putins als Grundlage für eine Prognose nimmt – stecken ebenfalls voller Widersprüche. Der Grundvektor dieser Politik besteht darin, in keiner Richtung eine weitere Verschlechterung der Lage zuzulassen, wobei eine Verbesserung durch konservative Teilmaßnahmen gesucht wird, die kaum einen wesentlichen Effekt erzielen dürften.
Im Ukraine-Konflikt wird die Führung Russlands wohl keine weitere Eskalation der Situation betreiben und nach Wegen einer Regulierung suchen, die Russlands Einfluss im Südosten der Ukraine ohne Gesichtsverlust bewahren würde. Parallel dürften die Versuche fortgesetzt werden, die Sanktionen durch ein Spiel mit den Widersprüchen zwischen Befürwortern und Skeptikern in der EU zu schwächen. Die Konfrontation zu den USA wird wohl ein langfristiges Phänomen bleiben.
Bei der Wirtschaft hat die russische Führung der Versuchung widerstanden die »Daumenschrauben« anzuziehen und Mobilisierungsinstrumente einzusetzen. In der alljährlichen Ansprache des Präsidenten am 4. Dezember 2014 sind nicht wenige liberale Wirtschaftsideen formuliert worden: Ein vierjähriges Moratorium auf die Einführung neuer Steuern, eine maximale Verringerung des administrativen Drucks auf die Unternehmen, eine vollständige Amnestie für Kapital, das nach Russland zurückverbracht wird, und vor allem das Setzen auf eine Förderung unternehmerischer Initiative, »den Bürgern die Möglichkeit geben sich zu entfalten«. Das alles scheint eine gute Nachricht zu sein. Das Problem ist nur, dass die verkündeten Maßnahmen in direktem Widerspruch zu dem stehen, wie die Bürokratiemaschine mit privaten Unternehmern bis dato umgegangen ist. Noch vor wenigen Monaten konstatierte der Vorsitzende des größten Unternehmerverbandes Russlands, des »Russischen Verbandes der Industriellen und Unternehmer«, dass es bei einer derartigen Wirtschaftspolitik in Russland »eine nächste Unternehmergeneration nicht geben wird«. Für wenig Optimismus sorgt auch, dass Medienberichten zufolge die Urheber der Wirtschaftspolitik streng ermahnt wurden, »die Grundprinzipien nicht anzurühren«, nämlich das politische und das Gerichtssystem. Ohne Änderungen dort sind aber die wichtigsten Hindernisse bei der Verbesserung des Geschäftsklimas – fehlender Schutz der Eigentumsrechte und fehlende Rechtsstaatlichkeit – nicht zu beseitigen.
Im politischen Bereich wurde ein Kurs in Richtung korporativer Staat eingeschlagen, der sich auf eine große persönliche Popularität des Präsidenten stützt. Anstelle einer Demokratisierung schlug Putin in seiner Ansprache einen Dialog zwischen Staat und Gesellschaft in den Foren der Gesellschaftskammern vor, die vollständig vom Staat zusammengestellt und kontrolliert werden. Die auf Initiative Putins geschaffene »Allrussische Volksfront« wurde 2014 aktiviert und hat jetzt praktisch die Funktion einer politischen Partei – es werden Gesetzesentwürfe ausgearbeitet und begutachtet, die Umsetzung der Erlasse und Anweisungen des Präsidenten überwacht und öffentlich aktive Politiker rekrutiert. Dieses neue politische Gebilde ist jedoch in noch höherem Maße personengebunden. Der politische Pluralismus ist weitestgehend Imitation, ganz nach Art der »Volksfronten« in der DDR oder den Staaten der dritten Welt.
Was die Stimmungen in der Gesellschaft betrifft, so wird der oben beschriebene »Krim-Konsens« einer immer heftigeren Prüfung durch die sich verschlechternden sozialen und wirtschaftlichen Realitäten ausgesetzt sein. Die Stabilitätsreservoir ist sowohl in der Wirtschaft als such beim Haushalt noch nicht erschöpft, während das hohe Ansehen des Präsidenten in der Gesellschaft es Putin erlaubt, die politische Stabilität aufrecht zu erhalten. Andererseits verfügt er weder über eine Wirtschaftsstrategie, die die negativen Tendenzen umkehren könnte, noch über ein adäquates politisches System, das in der Lage wäre, Konflikte zu steuern. Russland geht dem Jahr 2015 mit schnell zunehmenden Risiken entgegen.
Übersetzung: Hartmut Schröder