Wider die Verleumdung der deutschen Außenpolitik

Von Hans-Henning Schröder (Bremen)

Am 5. Dezember erschien in »Der Zeit« unter dem Titel »Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!« ein Aufruf zur deutschen Russlandpolitik, der von 60 Personen des öffentlichen Lebens unterzeichnet wurde. Alles, was zu diesem Dokument inhaltlich zu sagen ist, haben Karl Schlögel in der »Welt« und Ruprecht Polenz in der »Zeit« bereits ausgeführt. Sie haben klar gemacht, dass der Aufruf die Entstehungsgeschichte der aktuellen Krise verzerrt, die Abläufe falsch darstellt und die Anstrengungen ignoriert, die die Bundesregierung unternimmt, um die russische Führung dafür zu gewinnen, bei der Lösung der größten europäischen Krise seit Ende des Kalten Krieges konstruktiv mitzuwirken.

Man darf sich aber fragen, wie es dazu kommt, dass ein Dokument, das aus Auslassungen, Halbwahrheiten und Unterstellungen besteht, in der Bundesrepublik namhafte Unterstützer finden kann. Bei der großen Gruppe der wohlmeinenden Prominenten wie Margot Käßmann, Wim Wenders oder Antje Vollmer kann man getrost annehmen, dass sie sich inhaltlich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt haben, sondern sich für eine Initiative in Dienst nehmen ließen, die sie als Aufruf zu aktiver Friedenspolitik missverstanden haben.

Schwieriger ist es zu erklären, warum Personen mit politischer Erfahrung und politischem Verstand wie der vormalige Kanzlerberater Horst Teltschik, der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium Walter Stützle oder der frühere Botschafter in Moskau, Ernst-Jörg von Studnitz, es zugelassen haben, dass man ihre guten Namen unter ein Dokument setzt, in dem die Politik der Bundesregierung verleumdet wird. Denn der Aufruf verfälscht nicht nur die Genese des Russland-Ukraine-Konflikts, er denunziert auch die deutsche Außenpolitik. Indem er den Bundestag auffordert, »aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen« und erklärt »Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein«, unterstellt er, dass die Bundesregierung den Frieden verletzen will und sich zum Ziel gesetzt hat, Russland »auszuschließen«.

Wer sich informieren will, welche Politik die Bundesregierung tatsächlich betreibt, sollte die kluge, ausgewogene Rede der Bundeskanzlerin vor dem »Lowy Institut« in Sidney oder die wohldurchdachte und einfühlsame Ansprache von Außenministers Steinmeier vor Studenten der »Ural Federal University« in Jekaterinburg lesen. Die beiden Texte sind im Internet für jedermann zugänglich. In ihnen wird deutlich, wie intensiv die Bundesregierung nach einer friedlichen Lösung sucht, und welche Angebote an die russische Führung ergangen sind, an der Lösung der Krise konstruktiv mitzuwirken.

Es bedarf einer Kombination von Böswilligkeit und Dummheit, um der Bundesregierung zu unterstellen, dass sie »ihre Friedenspflicht« nicht erfüllt. Erfahrene Politiker wie Teltschik, Stützle und Studnitz sind weder böswillig noch dumm. So bleibt als Erklärung für ihre Unterstützung des Aufrufs eigentlich nur die Annahme, dass sie bzw. ihre Referenten das Dokument nicht genau genug gelesen haben.

Die Entwicklung einer politischen Strategie geht normalerweise in einem Dreischritt vor sich: man formuliert das angestrebte Ziel, analysiert die Lage – sowohl die eigene wie die des Gegenübers – und entwickelt dann Verfahren, wie man unter Berücksichtigung der Situation das gesetzte Ziel erreichen kann.

Über das Ziel bestehen in der Bundesrepublik keine Meinungsverschiedenheiten: Es geht darum, die Russland-Ukraine-Krise politisch zu lösen, die Gewalt möglichst rasch zu beenden und die Ukraine in ihrer Souveränität wieder herzustellen. Russland muss Partner und Garant einer solchen Lösung sein.

Differenzen gibt es allerdings bei der Lagebewertung. Der Wunsch, Russland als Partner zu behalten, führt bei manchen Beobachtern – wie eben auch den Autoren des Aufrufs – dazu, dass sie das russische Verhalten in der aktuellen Krise beschönigen. Das ist ein Fehler. Auf der Basis von Wunschvorstellungen lässt sich keine realistische Strategie formulieren. Eine politische Lösung wird immer ein Kompromiss zwischen gegensätzlichen Positionen sein. Aber der Formulierung einer Kompromisslinie muss eine klare Lageanalyse vorausgehen, eine, die nicht auf Wunschdenken und Selbstbetrug beruht.

Offen bleibt, wie man zu einer politischen Lösung des Konfliktes kommen kann. Zweifellos brauchen wir einen auf Kompromiss orientierten, lösungsorientierten Prozess, wie ihn die deutsche Politik anzustoßen versucht. In diesem politischen Prozesses muss Russland sich als konstruktiver und respektabler Partner erweisen, der seine europäische Aufgabe verantwortungsbewusst wahrnimmt. Bedauerlicherweise tut sich die russische Führung gegenwärtig schwer, die Rolle ihres Landes in einem friedlichen Europa zu definieren. Allzu sehr ist sie in einem selbstreferentiellen patriotischen Diskurs befangen. Bis zu einer Überwindung des Konflikts und weiter zu einer erneuerten Partnerschaft zwischen Russland und der EU ist daher noch ein ganzes Stück Wegs zu gehen. Man kann und muss darüber streiten, wie weit die EU der russischen Seite entgegenkommen soll, und welches Entgegenkommen von Seiten der russischen Führung zu erwarten ist. Doch diese Diskussion sollte man auf Basis einer nüchternen Lageeinschätzung führen – und ohne der Kanzlerin und dem Bundesaußenminister unsaubere Motive zu unterstellen.

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