Ein Blick auf die Semantik
Der Begriff »Russkij mir« (dt.: »russische Welt«) entstammt der imperialen Ideologie des 19. Jahrhunderts. und hat sich im Laufe der Zeit von einer poetischen Metapher zu einem ideologischen (wenngleich sehr ambivalenten) Konzept entwickelt. Vor allem im Kontext des andauernden russisch-ukrainischen Konflikts erfreut sich »Russkij mir« einer besonderen Konjunktur: In der Präambel der Verfassung der »Volksrepublik Donezk« wird dieser Begriff gleich vier Mal erwähnt und fungiert dort zugleich als historische Grundlage, Zukunftsideal und gemeinschaftsbildendes Prinzip der »jungen Volksrepublik«.
Im allgemeinen Sprachgebrauch kann »Russkij mir« sich sowohl auf die Welt russischsprachiger Menschen beziehen als auch auf die Welt jener, die ein spezifisches, »russisches« Geschichtsbewusstsein teilen; oft kann die Zugehörigkeit zur »Russkij mir« schlicht die Unterstützung für den heutigen russischen Staat und seine Politik bedeuten.
Die Mehrdeutigkeit des Konzepts »Russkij mir« ist bereits sprachlich vorbestimmt und hängt im Wesentlichen mit der Semantik des Wortes »mir« zusammen. Dieses hat im Russischen bekanntlich drei Bedeutungen: 1) Frieden, 2) Welt und 3) Gemeinschaft, speziell die bäuerliche Dorfgemeinschaft. In Bezug auf die »Russkij mir« sind vor allem die beiden letzten semantischen Felder wichtig, auch wenn »mir als Gemeinschaft« im heutigen aktiven Sprachgebrauch kaum noch vorkommt, weil das Objekt, das es ursprünglich bezeichnete (nämlich die traditionelle Bauerngemeinschaft) nicht mehr existiert. Doch gerade dieser Archaismus wird seit Anfang 2000er Jahre in der offiziellen Rhetorik des russischen Staates wieder intensiv verwendet.
Die Begriffe »Welt« und »Gemeinschaft« bilden die beiden Pole, zwischen denen sich das Konzept von »Russkij mir« inhaltlich entfaltet. Das heißt, dass die Symbolik und Metaphorik von »Russkij mir« sich sowohl auf diverse Raumkonstruktionen, als auch auf soziale Modelle bezieht.
Russische Welt als sakraler Raum
Ein wichtiges Spezifikum von »Russkij mir«, das ihn von anderen postimperialen Konstrukten wie »Frankophonie« oder »British Commonwealth« unterscheidet, ist die Rolle der Kirche und der Religion bei Entstehung und Propagierung dieses Konzeptes. Der russische Raum bzw. der Raum von »Russkij mir« ist in den meisten seiner Manifestationen vor allem ein sakraler, christlicher Raum oder im engeren Sinne ein Raum russischer Orthodoxie.
Da der russische Raum als ein sakraler Raum verstanden wurde, war es unterdessen kaum möglich, ihn topografisch zu verorten – das Verständnis vom entgrenzten, transzendenten Russland (insbesondere in Form der »heiligen Rus«) stimulierte die literarische Produktion »idealtypischer Landschaften«, die nicht lokalisiert werden konnten.
Die sakrale Komponente blieb über Jahrhunderte auch ein Element des russischen Nationsprojekts. Wie in den meisten anderen Ländern des Kontinents war die russische Nationsbildung eine Reaktion auf die gesamteuropäische Herrschaftskrise nach der Aufklärung, als die Herrschaft nicht mehr durch das allgemeine Wohl als oberstes Ziel eines aufgeklärten Monarchen legitimiert werden konnte, sondern durch die Kompatibilität der Herrschaft mit einem »Volksgeist« der Regierten begründet werden musste. Im Rahmen dieses neuartigen Legitimationsmodells gehört die Souveränität nicht dem Herrscher allein, sondern einem personifizierten nationalen Körper (einem corps politique im Sinne von Rousseaux), der über einen unverwechselbaren »Nationalcharakter« verfügt und die verschiedenen sozialen Schichten buchstäblich »inkorporiert«.
Der russische »nationale Körper«
Die Aufgabe, eine derartige »imaginierte Gemeinschaft« zu schaffen, übernahmen in Russland die Autoren des Sentimentalismus, die in der russischen Literaturgeschichte in der Regel nur beiläufig erwähnt werden, weil die literarische Strömung, zu der sie gehörten, sehr kurzlebig war und von den Erfolgen späterer russischer Klassiker in den Schatten gedrängt wurde. Die nationsbildende Rolle des Sentimentalismus durch die von ihm propagierte Annäherung der sozialen Gruppen der russischen Gesellschaft wurde in Russland stärker hervorgehoben als etwa in England oder Frankreich, blieb jedoch rein rhetorisch und hatte zunächst keine Auswirkungen auf die tatsächliche soziale Mobilität der Bevölkerung. Doch gerade weil sich die propagierte soziale Annäherung nicht vollzog, wurde verstärkt nach neuen diskursiven Figuren gesucht, die beide Kultursysteme – die stark europäisierte Kultur der Elite Russlands und das traditionelle Kultursystem des »gemeinen Volkes« – miteinander verbinden konnten. Von besonderer Relevanz waren in dieser Hinsicht die Schriften von Nikolaj Karamsin.
Für die Nachwelt bleibt Karamsin der Autor zweier sehr unterschiedlicher Werke, die jedoch beide auf verschiedene Weise zum »Imaginieren« einer russischen Nation beigetragen haben. In seiner monumentalen »Geschichte des Russischen Staates« rechtfertigt Karamsin die Selbstherrschaft des Zaren (russ.: »samodershawije«) auf für damalige Zeit neue Art und Weise, indem er sie zum Ausdruck des russischen Volksgeistes erklärt. Im Rahmen dieser Metapher erhält »samodershawije« einen symbolischen Charakter und fungiert fortan nicht nur als konkrete Herrschaftsform, sondern als einigendes Kollektivsymbol.
Das andere – wohl nicht wenige bedeutende – Werk von Karamsin ist die recht kurze sentimentale Novelle »Die arme Lisa« über die tragische Liebe eines Bauernmädchens zu einem jungen Adligen. Neben der in diesem Werk literarisch inszenierten emotionalen Annäherung der sozialen Klassen beschwört dieser Text mit vielen christlichen Motiven eine neue Art der Religiosität: Die Handlung der Novelle spielt im Moskauer Simonow-Kloster, das zum Treffpunkt der Geliebten wird. Der Erzähler nutzt dieses Setting, um seine Gedanken über die Rolle des Glaubens in der Geschichte Russlands und im Leben des russischen Volkes darzulegen.
Die Liebe zum christlichen Glauben und die Treue gegenüber dem Monarchen sollten somit das einfache Volk und die Elite verbinden. Anders als in Frankreich, wo die Entstehung des »nationalen Körpers« das Ancien Régime zu Fall gebracht hat, hat der russische »sentimentale Nationalismus« in dieser Konfiguration seine funktionale Aufgabe bereits erfüllt: Das russische Pendant zu Liberté, Égalité, Fraternité wurde schließlich von Sergej Uwarow, einem Schüler Karamsins formuliert und lautete: Prawoslawije, Samodershawije, Narodnost – zu Deutsch: »(christliche) Orthodoxie, Zarenherrschaft, Volksverbundenheit«.
Die heilige Rus
Die Etablierung der neu entworfenen russischen Gemeinschaftskonzeption wurde in den Kreisen der russischen Elite allerdings nicht direkt aufgenommen, sondern mittels Reflexion über religiöse Topoi (z. B. die »heilige Rus« und den »russischen Gott«), die sich in der Folklore entwickelten und später von den imperialen und nationalen Diskursen vereinnahmt wurden.
Das Schwanken zwischen Ablehnung und Akzeptanz dieser Topoi lässt sich am besten anhand der Schriften von Pjotr Wjasemskij illustrieren, der zweifelsohne zu den bedeutendsten Vertretern der russischen »literarischen Aristokratie« des 19. Jahrhunderts. gehörte. 1828 veröffentlichte Wjasemskij ein Gedicht mit dem Titel »Der russische Gott« – eine bissige Satire auf die Versuche, diesen Topos für die Zwecke der Nationsbildung zu instrumentalisieren. Der russische Gott ist für Wjasemskij ein Gott der schlechten Straßen, der Kälte und des Hungers, der bitteren Armut und des zügellosen Reichtums, ein Gott der heruntergewirtschafteten Landgüter, schließlich ein Gott der ausländischen Abenteurer und hier in erster Linie ein Gott, der die Deutschen bevorteilt.
Genau zwanzig Jahre später jedoch blickt derselbe aufgeklärte russische Intellektuelle mit blankem Entsetzen auf das vom revolutionären Trudel erfasste Europa und formuliert seine Gedanken in dem Gedicht »Die heilige Rus«, in dem er für eine maximale Distanz Russlands zu Europa plädiert und die Symbole auflistet, die Russland von verderblichen europäischen Einflüssen beschützen sollen: der orthodoxe Glaube, die allgemeine Liebe zum Zaren und schließlich (ein Novum!) die russische Geschichte und Sprache. Zusammen ergeben sie sein Bild der »heiligen Rus«, das europäischer Gesetzlosigkeit, Irrlehren und falsch verstandener Freiheit gegenübergestellt wird.
Das Gedicht von Wjasemskij war aber zugleich eine poetische Replik auf das Zarenmanifest »Über die Vorkommnisse im westlichen Europa« vom 14. März 1848, so dass die zentralen rhetorischen Argumente hier bereits vom Staat vorgegeben wurden, und zwar: 1) Religion als Vermächtnis der Vorfahren, 2) dass Russlands Feinde überall seien, und schließlich 3) die Behauptung, dass die Verteidigung Russlands überall und nicht nur an seinen Grenzen erfolgen solle.
Die wichtige Ergänzung, die sich der Dichter Wjasemskij erlaubt, ist vor allem die Aufwertung der Sprache. Zum einen lässt die gemeinsame Sprache alle Russen als »Brüder einer Familie« erscheinen, doch das allein reicht dem Dichter nicht aus – er zielt auf eine Sakralisierung der Sprache, indem er sie zu einem Medium erklärt, über das der russische Mensch mit Gott kommuniziert.
Von der Sprachgemeinschaft zur transzendenten Weltmacht
Die Folgen dieser sprachlichen Megalomanie kamen ausgerechnet bei Iwan Turgenjew, einem beinahe idealtypischen russischen »Westler«, am deutlichsten zum Ausdruck. In einem seiner Prosagedichte (das sowohl zur Sowjetzeit wie auch heute zum Schulkanon gehört) nennt er die zentralen Attribute der russischen Sprache – Wahrhaftigkeit, Macht, Größe und Freiheit – wodurch die Sprache nicht nur zum nationalen Symbol wird, sondern vor allem zu einem Medium mit dem der ganzen Welt Wahrheiten verkündet werden können. Dieser Gedanke wird von Dostojewskij später im »Tagebuch eines Schriftstellers« ausführlich formuliert, wobei dieser die Mission Russlands darin sieht, mit den »russischen Worten der Wahrheit die tragischen Missverständnisse der west-europäischen Zivilisation zu korrigieren«.
Der Fall der Monarchie und der nachfolgende Machtantritt der bolschewistischen Partei bedeuteten zunächst einen radikalen Bruch mit der bestehenden Tradition der Gemeinschafts- und Raumwahrnehmungen. Doch wurden bereits in den 1930er Jahren die alten Paradigma wieder aufgegriffen und radikal umgedeutet. Die UdSSR verstand sich zunehmend nicht nur als Träger der Revolutionsidee, sondern auch als Weltmacht, und sie entwickelte einen wahrlich globalen »Welt«-Begriff. Man denke hier nur an den Globus auf dem Wappen der Sowjetunion, während die erste Strophe der sowjetischen Hymne einen Bezug zur Rus enthält: »Die Große Rus hat auf ewig die unzerbrechliche Union der freien Republiken vereint«.
Eurasismus als Rettungsideologie des Imperiums
Ein grundsätzlich anderes Verständnis von »Russkij mir« entwickelte sich im Rahmen der sogenannten »eurasischen Ideologie«. Von russischen Exilautoren Anfang der 1920er-Jahre erstmals formuliert, avancierte der Eurasismus in der Zwischenkriegszeit schnell zur wichtigsten Denkströmung in der russischen Diaspora. Die Eurasierbewegung, inspiriert durch die Publikation eines 1921 von dem Sprachwissenschaftler Nikolai Trubetzkoy herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel »Auszug nach Osten«, zog bis Mitte der 1930er Jahre viele renommierte russische Denker in ihren Bann.
Die Eurasier schufen in der russischen Kulturphilosophie Begriffe wie »slawische Welt« oder »romano-germanische Welt«, wo »Welt« zumeist mit »Kultur« oder »Zivilisation« gleichgesetzt wird. Bereits in den frühen Schriften der Eurasier erfolgte eine Konzeptualisierung von Russland/Eurasien als »besondere Welt«
Die weltanschauliche Doktrin des frühen Eurasismus basierte auf der Prämisse, dass es einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen der eurasischen Kultur Russlands und der »germano-romanischen« Kultur Westeuropas gibt. Das Herzstück der Ideologie der Eurasier war die Bewahrung der Einheit eines nicht selten metaphysisch bzw. ideell verstandenen Russischen Staates. Dieser Staat, so die Eurasier, könne unterschiedliche politische und ideologische Ausdrucksformen annehmen und somit etwa in Gestalt des Russischen Zarenreiches, der UdSSR oder eines utopischen Eurasischen Völkerbundes realisiert werden. Unabhängig von der konkreten politischen Ausprägung spielt die Idee der staatlichen Einheit sowie des politischen Zusammenhalts des riesigen »eurasischen« Raums in allen Konzeptionen die zentrale Rolle.
Nicht zuletzt wegen unterschiedlicher Haltungen zur Entwicklung in Sowjetrussland zerfiel die eurasische Bewegung in den 1930er Jahren, die Periodika und wissenschaftlichen Publikationen verschwanden allmählich. Die Aufgabe der Versöhnung zwischen dem »roten« (sowjetischen) und dem »weißen« (traditionalistisch-religiösen) Russland aber wurde auf die 1990er Jahre verschoben.
Renaissance des Sonderwegs
Der Zeitpunkt, an dem die Eurasier-Ideologie wieder im geistigen Leben Russlands auftauchte, ist nicht zufällig. Der Übergang Russlands zu einer neuen politischen Ordnung wurde in den Jahren 1991/1992 von einem schnellen Verlust dessen begleitet, was die Hauptfunktion der RSFSR war: Russland hörte auf, Kern der Sowjetunion und somit des alten Imperiums zu sein. Motive wie Verlust der Größe, Verlust der geistigen Mission und der weltumspannenden Aufgaben waren nicht nur für erzkonservative Literaten (Below, Rasputin) charakteristisch, sondern auch für Vertreter der »Tauwetter-Generation« und viele frühere Dissidenten.
In Kreisen der intellektuellen »Neuen Rechten« wurden diese Ideen zielstrebig den neuen politischen Bedingungen angepasst und zu einer imperialistischen Ideologie weiterentwickelt, die das Legitimitätsvakuum nach der Verlust der kommunistischen Ideologie ausfüllen sollte. In dieser modernen Variante ist der »Eurasismus« zu einer ideologischen Antriebskraft geworden, die nationalistische und kommunistische Gruppierungen gleichermaßen stimuliert und vereint. Ort und Symbol dieser Vereinigung war und bleibt bis heute die Zeitung »Sawtra« von Aleksandr Prochanow.
Der Diskurs, der um die Begriffe »russische Idee« und später »Russkij mir« entsteht, war eine direkte Antwort auf die Diskurse der späten Perestroika. So war zum Beispiel 1988 im Verlag »Progress« ein Sammelband mit den Beiträgen einiger bedeutender sowjetischer Dissidenten und Bürgerrechtler erschienen, der einen schwer übersetzbaren, aber vielsagenden Titel trug: »Inogo ne dano« (zu Deutsch etwa: »Einen anderen Weg gibt es nicht«); dort wurde die Hinwendung Russlands zu den liberalen, »gesamtmenschlichen« Werten propagiert. Als eine direkte Antwort auf diesen Text publizierten Boris Tschernyschew und Gleb Pawlowski zwischen 1992 und 1995 eine Reihe unter dem Titel »Inoje« (hier etwa: »Der andere Weg«), in der erstmals jene Autoren zum Wort kamen, die dann die verschiedenen Ausprägungen des russischen Sonderwegs konzeptualisierten.
Den Anfang dieser weitreichenden und fruchtbaren Diskussion markierte die Publikation eines Textes des Soziologen Michail Gefter unter dem Titel »Die Welt der Welten: Der russische Beginn« (»Mir mirow: rossijskij zatschin«). Der Autor bietet hier eine metaphorische Beschreibung der großen »Kulturwelten« (der arabischen, angelsächsischen, französischen usw.) und stellt die These auf, dass sie gemeinsam eine holistische »Welt der Welten« bildeten. Innerhalb dieses Entwurfs bestehe die Aufgabe einer »Welt« gerade darin, die eigene Unverwechselbarkeit und Individualität zu bewahren, und somit zur Vielfalt des menschlichen Universums beizutragen. Um das Zusammenleben solcher »Welten« zu begründen, formuliert Gefter bestimmte Verbote (»was man nicht machen soll«), die im Grunde alle sehr dem sogenannten »Interventionsverbot« in der Lehre von Carl Schmitt ähneln.
Zwischen Utopie und Staatsideologie
Eine eher untypische Raum-Konzeption entwickelte in den 1990er Jahre Wadim Zymburskij. In seinem 1993 veröffentlichten Werk »Insel Russland« (»Ostrow Rossija«) formuliert er eine neo-isolationistische Vision von Russland als einer im metaphorischen Sinne insularen Entität. Zymburskij zufolge ist Russland eine Insel inmitten eines »kontinentalen Ozeans« Eurasien. Die baltischen und osteuropäischen Länder definiert er im Rahmen seiner Metapher als »Meeresengen«, die das Insel-Russland von Westeuropa trennen, selbst aber nicht zu diesem Westeuropa gehören. Zymburskij aktualisiert einige zentrale Postulate der früheren Eurasier über den unikalen Charakter der russischen Zivilisation, die sich nach eigenen Gesetzen entwickle, die wiederum mit den »Entwicklungsgesetzen« anderer Zivilisationen nicht kompatibel seien. Zugleich bietet Zymburskij ein wichtiges Paradigma für die Definition des Russischen: Was Russland ist, hänge vor allem damit zusammen, wo es liegt. Die Lage beeinflusse somit nicht nur das nationale Wesen, sondern auch die nationalen Interessen. Diese bestünden, so Zymburskij, bei der Innenpolitik in einer technologischen Modernisierung und in der Schaffung einer urbanen bürgerlichen Kultur; bei der Außenpolitik seien sie in einem Abschied von Großmachtvisionen, der Vermeidung jeglicher Konfrontationen mit den anderen Zivilisationen (vor allem mit dem Westen), aber gleichzeitig in der Kontrolle über die »Große Peripherie« zu sehen, die Russland von dem Rest der Welt trennt.
Eine weitere Konzeption, die letztendlich auch im Titel die Wortbildung »Russkij mir« enthält, wurde erstmals von Pjotr Schtschedrowizkij, einem »Polittechnologen« und Mitarbeiter verschiedener kremlnaher Think-Tanks im Jahre 2000 formuliert. Seine Publikation »Russkij mir und das Transnationale Russische« (»Russkij mir i Transnazionalnoje russkoje«) hat eine breite Diskussion ausgelöst. Nach Schtschedrowizkij ist »Russkij mir« ein Netzwerk größerer und kleinerer Gemeinschaften, deren konstitutives Element die russische Sprache ist. In dieser Konstellation verliert die Idee von »Russkij mir« ihre Bindung an die Grenzen der Russischen Föderation oder an die russische Ethnie. Sie ist vielmehr eine hypothetische Strategie, die über die Einbindung der russischsprachigen Diaspora dem russischen Staat den Zugang zu den globalen ökonomischen und finanziellen Ressourcen ermöglichen sollte. Neben dieser rein pragmatischen Aufgabe trägt die Theorie von Schtschedrowizkij auch zahlreiche futuristische Züge, etwa die Hypothese von einem allmählichen Absterben staatlicher Strukturen und der verstärkten Rolle translokaler Gemeinschaften.
Das Konzept von Schtschedrowizkij markiert einen Wendepunkt in der Reflexion russischer Intellektueller zu »mir« als einem Welt- und Gemeinschaftsbegriff. Während in den 1990er Jahren die Konstrukte noch einen sehr theoretischen und oft utopischen Charakter hatten, wurde der Diskurs um »Russkij mir« ab Mitte 2000er Jahre allmählich »verstaatlicht« und verteilte sich unter anderem auf den Bereich des Moskauer Patriarchats und der 2007 gegründeten Stiftung »Russkij Mir« (die sich vor allem mit Kultur- und Sprachförderung beschäftigt).
Russkij mir und der neue russische Patriotismus
Der Krieg in der Ukraine markierte für die Idee von »Russkij mir« den Übergang von einer diskursiven Imperiums– und Nationsbildung hinein in den Bereich politischer Programmatik: Als Dachbegriff für verschiedene religiös verbrämte großrussische Ideale liefert das Konzept von »Russkij mir« nun den prorussischen Kämpfern im Donbass eine wichtige Legitimationsgrundlage. Die Leugnung des Existenzrechts einer unabhängigen Ukraine und der Kampf um die Wiederherstellung des metaphysisch verstandenen Imperiums vereint indes die gesamte Palette der imperial ausgerichteten Organisationen (von der ultra-religiösen »Russisch-Orthodoxen Armee« bis hin zu linkradikalen »National-Bolschewistischen Partei«). Über die Idee von »Russkij mir« versuchen diese nun sowohl an das geistige Erbe der russischen Literaturklassik als auch an die Tradition des konservativen russischen Denkens anzuknüpfen, um sich aus der bisherigen Marginalität zu befreien.