Nach der erneuten Eskalation in der Ostukraine drängt der Westen die Konfliktparteien zum Waffenstillstand und einem neuen Friedensabkommen. Ohne die Zustimmung Russlands ist der erbitterte Kampf zwischen Separatisten und ukrainischer Armee im Donbas offenbar nicht zu stoppen. Die Position Moskaus zu den Bedingungen für eine Normalisierung der Situation im Donbas scheint für Kiew und die westlichen Partner unübersichtlich und zum Teil inakzeptabel zu sein. Was will Präsident Putin eigentlich im Nachbarland erreichen? Geht es nur um den Krieg in der Ukraine? Welche Strategien hat der Westen beim Umgang mit Russland gewählt? Vor dem Gipfel in Minsk diskutierten russische Experten über mögliche Szenarien der Konfliktlösung, über russische Interessen und die Strategien des Westens bei den Verhandlungen mit dem Kreml. Es meldeten sich unter anderem zu Wort: der Politikwissenschaftlicher und Geschäftsführer des kremlnahen »Institut für politische Forschung« Sergej Markow; der Publizist und Kreml-Kritiker Stanislaw Belkowskij; der Journalist Anton Krylow von der loyalen Internet-Zeitung »Wsgljad«; der Wirtschaftswissenschaftler Alexej Melnikow (Mitglied der Partei »Jabloko«); der Publizist und Chefredakteur der Zeitschrift »Russkij Journal« Alexander Morosow.
Sergej Markow: Der Westen versucht, Machtpolitik zu betreiben
»[…] Das Minsker Treffen zur Ukraine Krise ist in Frage gestellt. Der Westen hatte zuvor Russland demonstrativ einzuschüchtern begonnen. 1. Drohung mit umfangreichen US-Waffenlieferungen an die Junta. 2. Drohung mit neuen Sanktionen durch die EU, die beschlossen sind, jedoch demonstrativ bis zum 16. Februar aufgeschoben wurden. 3. Zahlreiche Statements, dass es die letzte Chance für eine Vereinbarung sei. 4. Erklärungen der Führungsfiguren, die Alternative zu einem Abkommen sei diesmal nur ›totaler Krieg‹. Das appelliert an die allseits bekannte Furcht des russischen Volksbewusstseins ›Hauptsache, es gibt keinen Krieg‹. 5. Die Verhandlungsversuche wurden auf die höchste Ebene, die der Staatsoberhäupter von Deutschland und Frankreich angehoben, die in der jüngsten Vergangenheit eine positive Vermittlerrolle zwischen Russland und dem Westen in angespannten Situationen gespielt hatten (Frankreich 2008 während des Kriegs in Südossetien, und Deutschland in Bukarest, 2006, glaube ich, wo es sich beim NATO-Gipfel gegen die Einbeziehung von Georgien und der Ukraine in die NATO aussprach).
All das belegt, dass der Westen jetzt nicht Frieden anbietet, sondern versucht, gewisse Punkte, die für Russland ungünstig sind, durchzusetzen. Das heißt, der Westen versucht Politik aus einer Position der Stärke heraus zu betreiben. Ein klares Merkmal dieser harten Position besteht darin, dass der Westen beharrlich die Politik des Staatsterrorismus leugnet, die die Kiewer Junta betreibt; es gibt aber zahlreiche Belege für eine solche Politik, vor allem ist das der terrorisierende Beschuss von zivilen Stadtteilen im Donbas. Der Westen schlägt in seinem Plan zur Regulierung allem Anschein nach die Beendigung des terrorisierenden Beschusses als Gegenleistung für irgendwelche Konzessionen vor, die Washington und der Kiewer Junta die Möglichkeit geben, in der Zukunft die Donbas-Frage hart und militärisch zu lösen. Unter solchen Bedingungen bleibt der Minsker Gipfel ungewiss und könnte abgesagt werden.«
Sergej Markow via Facebook, 10.02.2015 <https://www.facebook.com/sergey.markov.5/posts/618128764981459>
Belkowskij: Putin strebt die Wiederherstellung der internationalen Ordnung von Jalta und Potsdam an
»[…] Putin will sich Stalins Militärjacke überziehen und in die Welt von Jalta und Potsdam à la 1945 zurückkehren, was nicht möglich ist, weil diese Welt 1989 mit dem Mauerfall in Berlin zusammenbrach. Putin will die Wiederkehr einer Welt, in der es Einflusszonen der Großmächte gibt und in dem das Militär die Schlüsselrolle spielt. Der Westen will keine Rückkehr in eine solche Welt.
Die Ukraine ist nur ein Verhandlungs- und Manövrierfeld bei diesen Gesprächen. Ja, es gibt taktische, lokale Forderungen von Putin zur Ukraine: da wäre eine relative Autonomie für Gebiete Donezk und Luhansk, die lebensnotwendige Versorgung für die Krim und die Garantien, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt, und die Versorgung Transnistriens gesichert ist. Das ist aber nur ein Vorwand für ein Verhandeln darüber, ob Russland in vollem Umfang Rechtsnachfolger der UdSSR ist oder nicht, ob Putin ein Stalin von 1945 ist oder nicht. […]«
Stanislaw Belkowskij in einem Interview mit »Otkrytaja Rossija«, 09. 02. 2015 <https://openrussia.org/post/view/2561/>.
Anton Krylow: Den Kalten Krieg haben wir zweifellos verloren, aber…
»[…] Seien wir ehrlich: Den kalten Krieg haben wir zweifellos verloren, da kann es nicht zwei Meinungen geben. Aber gegen wen haben wir ihn verloren? Der kollektive Westen meint, dass er es war. Und hier beginnen die globalen Widersprüche. […]
Und diese Situation wird gar nicht durch das Verhalten Russlands verschlechtert – das ist nämlich natürlich, wir halten uns nicht für den Verlierer –, sondern durch das Verhalten der westlichen Länder. Sie hören uns nicht und hören nicht zu. […]
Die einzige Alternative zum Krieg ist ein Gespräch, in dem die Seiten einander zuhören und sich von vornherein auf gleicher Höhe begegnen.
Bislang fehlt dem Westen ein solches Verständnis – dies beweist sowohl das schulmeisterliche Verhalten von Lawrows Kollegen als auch eine Meldung des Wall Street Journal über ein ›Ultimatum‹, das Merkel Putin gestellt habe und das Peskow [Wladimir Putins Pressesprecher; d. Red.] kommentieren musste.
Der letzte, der Russland Ultimaten gestellt hat, hieß Schamil Basajew; allen, die dies wieder versuchen sollten, wird man ähnlich begegnen.
Der Westen versucht beharrlich entweder so zu tun, als habe sich die Weltordnung nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht geändert, oder aber sich zum Sieger im Kalten Krieg zu erklären, oder aber ›Proxy-Kriege‹ und farbige Revolutionen mal zu befeuern, mal zu stoppen.
In Wahrheit gibt es nur zwei Varianten – entweder wird Russland gehört und ihm zugehört, oder es kommt zu einem globalen Krieg, in dem es womöglich keine Sieger geben wird.«
Anton Krylow in Wsgljad, 10. 02. 2015 <http://vz.ru/columns/2015/2/10/728682.html>
Melnikow: Das Land der großen Erschütterungen
»[…] Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow stellen die Geschichte der vergangenen 15 Jahre gern in einer Weise dar, als würden die meisten Vorschläge Russlands vom Westen abgelehnt. Sie sprechen gern über Raketenabwehr, über neue Waffen, die gegen Russland gerichtet sind.
Es gibt aber hierzu eine einfache Erklärung – man hat nicht geglaubt und das zu Recht.
Weil die heutige Ordnung in Russland eine Bedrohung für die demokratische Welt birgt, bis zu der Zeit, da das politische System Russlands auf den Werten von Demokratie, Freiheit, Menschenrechten und der Kraft des Gesetzes basieren, der vollständige Zerfall der Sowjetunion und deren Niederlage im Kalten Krieg endgültig anerkannt und ein vollständiger Bruch mit der sowjetischen Geschichte vollzogen wird. Und damit [birgt die heutige Ordnung] selbstverständlich auch eine Bedrohung für die Bürger Russlands.[…]
Es ist jetzt klar, dass weder Militarisierung noch Wunderwaffen ein Land mit dem verfaulten politischen und ökonomischen System eines Oligarchiekapitalismus der ›Busenfreunde‹, das sich auf den Verkauf von Rohstoffen stützt, retten können. Sie [Militarisierung und Wunderwaffen] werden es nicht vor dem Verfall bewahren. Das Beispiel der verfaulten UdSSR und der faulenden Demokratischen Volksrepublik Korea zeigt das mit aller Deutlichkeit.
Bei uns bringt man gern das durch übermäßigen Gebrauch speckige Zitat von Pjotr Stolypin [1906 bis zu seiner Ermordung 1911 Ministerpräsident des Russischen Reiches] über die ›großen Erschütterungen‹ und das ›große Russland‹.
Die russische Obrigkeit hat mit ihrem Revanchismus, ihrer Gier, ihrer Starrheit und Dummheit aus den Trümmern der UdSSR ein System der großen Erschütterungen hochgezogen und daran das Schild ›Großes Russland‹ genagelt.«
Alexej Melnikov via Livejournal, 9.02.2015; <http://aleks-melnikov.livejournal.com/298512.html>
Morozov: Mein Land hat den Weg von Wahnsinn, Konflikt und Selbstisolierung gewählt
»Alle Konsequenzen dieser Gesprächsrunde [des Treffens von Merkel und Hollande mit Putin in Moskau; d. Red.] sind traurig. Auf beiden Seiten werden im Donbas viele Menschen umkommen. Und das alles dafür, dass Putin ein Abkommen mit Obama erreicht, das Russland in ein Anologon der Breschnewschen UdSSR mit ihren ›Abkommen von Helsinki‹ verwandelt. Unheimlich leid tun mir die Ukrainer, denen im Kampf um die Souveränität schwere Entbehrungen bevorstehen. Leid tun mir diejenigen Russen, die noch vier, fünf Monate die ›Truppen von Noworossija‹ ergänzen werden – sinnloser Tod um eines Putinschen Abenteuers willen. Zu der bereits geflohenen halben Million werden weitere Hunderttausende Flüchtlinge hinzukommen. Nachdem Putin gesagt hat, dass in der Ukraine ›NATO-[Fremden]Legionen‹ kämpfen, war das schließlich eine magische Beschwörung, ein Aufruf, dass sie dort erscheinen sollen.
Betrachtet man das aus Sicht der langfristigen Interessen Russlands, sind beide Szenarien abscheulich.
Sowohl ein weiterer Krieg in der Ukraine mit einer Internationalisierung, amerikanischen Waffen, einem ›Krieg mit den USA‹ usw.
Als auch ein fiktives ›Helsinki-Abkommen Nr. 2‹ mit Obama, das Russland zu einem Land hinter dem ›eisernen Vorhang‹ machen würde, das das Vertrauen verloren hat und in eben jener Sprache spricht, in der heute Lawrow gesprochen hat.
Ein drittes Szenario gibt es nämlich nicht.
Mein Land hat den Weg des Wahnsinns, des Konflikts und der Selbstisolierung gewählt.«
Alexander Morosow via Facebook, 7.02.2015 <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=10203458445006265&id=1367268883>
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)