Der Isborsker Klub. Russlands antiwestliche Ideologen

Von Roland Götz (Wiltingen)

Zusammenfassung
Der Isborsker Klub wurde im September 2012 als Reaktion auf die vorangegangenen Massenproteste gegen Putin gegründet. Seine Mitglieder sind in Russland bekannte Zeitungs- und Fernsehjournalisten, Philosophen, Ökonomen, Naturwissenschaftler, Unternehmer und Parlamentsabgeordnete mit guten Verbindungen zu Militär, Geheimdienst und zum Staatsapparat. Sie vereint das Bemühen, Russland als Gegenpol zum Westen darzustellen. Dies geschieht auf dem Gebiet der Innen-, Kultur- und Religionspolitik mit Rückgriff auf kirchlich-orthodoxe Traditionen, auf dem Gebiet der Außenpolitik durch Postulierung eines geopolitischen Grundkonflikts mit den USA sowie durch die Skizzierung eines planwirtschaftlichen Wirtschaftsmodells. Der Klub ist kein Ratgeber für den Kreml, sondern verbreitet in der Bevölkerung Ansichten, die der Staatsführung zur Legitimation innen- und außenpolitischer Maßnahmen dienlich sein können.

Entstehung und Struktur des Isborsker Klubs

Nachdem im Protest gegen die Manipulationen bei der Dumawahl 2011, bei der von Putin gewonnenen Präsidentschaftswahl 2012 sowie den Kommunalwahlen 2012 westorientierte Liberale und Nationalbolschewisten zusammen mit »Weißen« (Zaristen, Orthodoxen) und »Roten« (Kommunisten) auf die Straße gegangen waren, fürchtete der Kreml ein weiteres Anschwellen der Proteste und eine Entwicklung nach dem Vorbild der »Farbenrevolutionen«. Es gelang ihm rasch, die Liberalen zu kriminalisieren und die Proteste weitgehend zu unterbinden. Die Aufgabe, die »Weißen« und »Roten« ideologisch zu vereinen und sie für die Kreml-Politik zu gewinnen, hat unter anderem der Isborsker Klub übernommen. Er wurde im September 2012 von einem Autorenkreis der nationalpatriotischen und ursprünglich kremlkritischen Wochenzeitung »Sawtra« (dt.: »Morgen«) auf Initiative ihres Chefredakteurs Alexander Prochanow gegründet. Nach Marius Laurinavičius vom »Eastern Europe Studies Centre« in Vilnius verfügt ein Teil der Gründungsmitglieder über enge Beziehungen zum stellvertretenden Ministerpräsidenten Dmitrij Rogosin, dem die Aufsicht über die Rüstungsindustrie obliegt. Die Finanzierung des Klubs erfolgt nach Angaben Prochanows durch Wirtschaftskreise – vermutlich eben die Rüstungsindustrie. Der Isborsker Klub ist nach dem ehemaligen Wehrdorf Isborsk im Gebiet Pskow benannt, dessen Gründungsjahr mit dem von der russischen Historiographie für 862 benannten Beginn der russischen Staatlichkeit zusammenfällt, die sich 2012 zum 1150. Mal jährte. An der ersten öffentlichen Versammlung des Klubs nahmen der Gouverneur des Gebiets Pskow Andrej Turtschak, der für seine antiliberalen Ansichten bekannte Kulturminister Russlands Wladimir Medinskij sowie ein Angehöriger der Präsidialadministration teil. Im professionell gestalteten Internetportal <www.dynacon.ru> erscheinen die Klubzeitschrift »Russische Strategien« sowie Meinungsbeiträge zu aktuellen Themen. Daneben treten viele Klubmitglieder regelmäßig im Fernsehen und mit Zeitungsartikeln auf. Ihr Durchschnittsalter beträgt 58 Jahre. Fast alle von ihnen haben ihre Ausbildung noch in der Sowjetzeit absolviert, sind Zeitungs- und Fernsehjournalisten, Unternehmer und Parlamentsabgeordnete geworden und in Russland schon lange für ihre nationalpatriotischen Ansichten bekannt (s. Tabelle 1). Kurz nach seiner Gründung vereinbarte der Klub eine Zusammenarbeit mit dem »Institut des dynamischen Konservatismus« (IDK), das der orthodoxen Kirche nahe steht.

Wichtige Mitglieder des Isborsker Klubs

Der Isborsker Klub wird von Alexander Prochanow geleitet. Seine Stellvertreter sind die Vorsitzenden des IDK Witalij Awerjanow und Alexander Nagornyj. Alexander Prochanow schloss 1960 ein Ingenieurstudium am Moskauer Luftfahrtinstitut ab, arbeitete kurzzeitig an einem Forschungsinstitut für Raketentechnik, gab dann aber den Ingenieurberuf auf. Er betätigte sich als Forstarbeiter, bereiste Nordrussland und Sibirien und schrieb Erzählungen. Ab 1968 arbeitete er für Zeitungen als Militärberichterstatter in Afghanistan, Nicaragua, Kambodscha und Angola. Nach dem Ende der Sowjetunion betätigte er sich schriftstellerisch und organisatorisch als Unterstützer der rechten wie linken Opposition gegen Gorbatschow und Jelzin, darunter als Chefredakteur der »Sawtra«. Während Prochanow in den 1990er Jahren Sjuganows Kommunistische Partei der Russländischen Föderation (KPRF) unterstützte und 2002 mit dem Roman »Herr Hexogen« ein skandalträchtiges Buch über einen KGB-Putsch publizierte, das auf Putins Aufstieg anspielte, näherte er sich in Putins zweiter Präsidentschaft der Linie des Kremls an. Während sein Großmachtdenken zuvor mit sozialistischer Ideologie verknüpft war, vertritt er seit dem Ende der Sowjetunion eine Reichsideologie, die ethnisch-russische, orthodox-kommunistische und eurasische Elemente integriert. Seit der Krim-Annexion und Russlands Vorgehen in der Ostukraine ist Prochanow zum lautstarken Befürworter von Putins Politik geworden.

Witalij Awerjanow beendete 1996 ein Studium der Journalistik, lehrte als Universitätsdozent Philosophie und arbeitete als Zeitschriftenredakteur. Er publizierte theologisch-philosophische Aufsätze in wissenschaftlichen und populären Zeitschriften, gründete Internet-Projekte sowie 2005 eine Vorläufereinrichtung des IDK, welche die »Russische Doktrin« entwickelte, die eine der ideologischen Grundlagen des Isborsker Klubs darstellt.

Alexander Nagornyj studierte Sprachen am Moskauer Fremdspracheninstitut und arbeitete danach für die sowjetische Nachrichtenagentur (TASS). Seit 1975 beschäftigte er sich im USA- und Kanadainstitut der Akademie der Wissenschaften (RAW) mit China und den USA, seit 1989 im Orientalistikinstitut der RAW mit Japan. 1997 wurde er stellvertretender Redaktionsleiter der »Sawtra«.

Neben Prochanow und Awerjanow bestimmen insbesondere Alexander Dugin, Sergej Glasjew sowie die Fernsehmoderatoren Michail Leontjew und Maxim Schewtschenko das Erscheinungsbild des Isborsker Klubs in der russländischen Öffentlichkeit. Der Generalssohn Alexander Dugin betätigte sich nach einer abgebrochenen Ingenieurausbildung am Moskauer Luftfahrtinstitut als Schriftsteller. In seiner politischen Orientierung oszillierte er zwischen linken und rechten Positionen. Ursprünglich Antikommunist, schloss er sich Ende der 1980er Jahre der ultranationalistischen und antisemitischen Bewegung »Pamjat« (dt.: »Gedenken«) an, stand Anfang der 1990er Jahre Gennadij Sjuganows Kommunistischer Partei der Russischen Föderation (KPRF) nahe, gründete zusammen mit Eduard Limonow die rechtsradikale Nationalbolschewistische Partei und war danach Mitarbeiter des KPRF-Mitglieds und Duma-Sprechers Gennadij Selesnjow. Obwohl Dugin keine akademische Ausbildung besitzt (sein Fernstudium am Institut für Melioration in Nowotscherkassk ist fingiert), wurde er in Rostow am Don am Nordkaukasischen Zentrum für wissenschaftliche Information promoviert und ebenfalls dort an der Polizeihochschule habilitiert. Für ihn wurde 2008 an der Soziologischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität ein Lehrstuhl eingerichtet. Dieser wurde ihm 2014 nach Studentenprotesten wieder aberkannt, weil er in einem TV-Interview in Reaktion auf den Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa »als Professor« zur Tötung von Ukrainern aufgerufen hatte.

Der belesene und fremdsprachenkundige Autodidakt Dugin bedient mit seinen zahlreichen pseudowissenschaftlichen Publikationen und häufigen Medienauftritten in Russland das gesamte Spektrum der nationalistischen Thematik, wobei er religiös-orthodoxe, okkulte, geopolitische und globalisierungskritische Ansätze eklektisch vereint. Einem größeren Publikum in Russland wurde er 1992 mit seiner Schrift »Der Krieg der Kontinente« bekannt, in der er Ideen der klassischen Eurasier der Zwischenkriegszeit (Pjotr Sawizkij, Nikolai Trubetzkoy) vom ewigen Kampf der »Landmächte« gegen die »Seemächte« adaptierte. Mit seinem 2007 publizierten Hauptwerk »Grundlagen der Geopolitik« gelang ihm der Zugang zu militärischen und geheimdienstlichen Bildungseinrichtungen Russlands. Neuerdings bezeichnet er seinen Ansatz als »vierte politische Theorie«, die den Liberalismus, den Marxismus und den Faschismus ablöst. Dugins facettenreiches Gedankengebäude mit seinen wissenschaftlich unhaltbaren Bezügen zu einer Vielzahl von natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen unterliegt stetem Wandel. Bestand hat nur seine (von ihm »Neoeurasismus« genannte) Vision des von Russland geführten europäisch-asiatischen Kontinents als Gegenmacht zu den USA. Wie Andreas Umland feststellt (s. Lesetipps), wünscht Dugin, der sich als »Konservativer« etikettiert, keine Rückkehr zu alten Zuständen, sondern eine vollständige Umwälzung Russlands. Zu einer solchen »konservativen Revolution« war Dugin durch seine Beschäftigung mit dem von den sowjetischen Truppen erbeuteten Archiv von Heinrich Himmlers »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe« angeregt worden. Seit der Krim-Annexion präsentiert sich Dugin als unbedingter Putin-Unterstützer. In einem Spiegel-Interview vom 14. Juli 2014 sagte er: »Es gibt keine Kritiker des Putinschen Kurses mehr. Und wenn es sie gibt, dann sind das psychisch Kranke, und man muss sie ärztlicher Überwachung übergeben. Putin ist alles, Putin ist unersetzbar.«

Sergej Glasjew forschte nach einem 1983 abgeschlossenen Ökonomiestudium von 1986 bis 1991 am Zentralinstitut für Mathematik und Ökonomie der Akademie der Wissenschaften. 1992 wurde er in Jegor Gaidars Regierung Minister für Außenhandelsbeziehungen, verließ diese aber nach einem Jahr aus Protest gegen die Parlamentsauflösung durch Boris Jelzin. Glasjew wurde 1993 über die Liste der Demokratischen Partei Russlands, 1999 über die Liste der KPRF und 2003 über den von ihm und Dmitri Rogosin gegründeten, linkspopulistischen Wahlblock Rodina (Heimat) in die Duma gewählt. Ab 2008 hatte er leitende Funktionen im Einheitlichen Wirtschaftsraum Russland-Belarus-Kasachstan und ab 2009 in der Zollunion inne, die dieselben Staaten umfasste. Seit Mitte 2012 ist er Berater Putins in Fragen der eurasischen Integration. Glasjew ist seit 2000 korrespondierendes Mitglied und seit 2008 ordentliches Mitglied der Russländischen Akademie der Wissenschaften. Er kritisierte scharf den WTO-Beitritt Russlands sowie die Geld- und Währungspolitik der Zentralbank.

Glasjew ist Anhänger der von Nikolai Kondratjew und Joseph Schumpeter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten Theorie der »langen Wellen« in Wirtschaft und Technologie und vertritt die Ansicht, die Welt stehe heute am Anfang des sechsten Kondratjew-Zyklus, der durch die Entwicklung von Bio- und Nanotechnologie, künstliche Intelligenz und Kernfusion ausgelöst werde. In einem Bericht für den Isborsker Klub behauptet er, dass die USA und ihre Verbündeten ihre ökonomischen und sozialpolitischen Probleme, die durch Überakkumulation des Kapitals in veralteten Industriezweigen entstünden, dadurch bewältigen wollen, dass sie im Wege einer Strategie des »gelenkten Chaos« die Konflikte in Nordafrika, im Irak, Syrien und der Ukraine auslösen, um ihre volkswirtschaftlichen Ressourcen besser in zukunftsträchtige und militärisch bedeutsame Industriezweige lenken zu können. Im Ukrainekonflikt wollten die USA Russland und Europa in einen Krieg um die Ukraine verwickeln und nach dem Zusammenbruch der am Krieg beteiligten Länder ihre Herrschaft über sie ausbauen. Die USA erhielten so Zugang zum ukrainischen Kernbrennstoff, zum ukrainischen Gastransportsystem und zu den Vorkommen an Schiefergas in der Ukraine. Durch die Beherrschung Russlands – wie schon zu Zeiten Jelzins – könnten die USA ihre Vormachtstellung gegenüber China festigen. Glasjews Verknüpfung der Kondratjew-Zyklen mit einer marxistischen Überakkumulationstheorie mag wissenschaftlich diskutabel sein, seine Analyse der Politik der USA gehört jedoch in das Reich der Verschwörungstheorien.

Michail Leontjew beendete 1979 ein Ökonomiestudium, arbeitete dann in einem Wirtschaftsinstitut und ließ sich zum Kunsttischler ausbilden. Ab 1990 war er als Redakteur der Tageszeitungen »Nesawisimaja gaseta« (dt.: »Unabhängige Zeitung«) und »Sewodnja« (dt.: »Heute«) tätig. Seit 1999 moderiert er im staatlichen »Ersten Kanal« die Sendung »Odnako« (dt.: »Jedoch«) und gibt seit 2009 ein gleichnamiges Wochenjournal heraus. Er gehört zu denjenigen wenigen Klubmitgliedern, die Putins Vorgehen in der Ukraine nicht als zu zurückhaltend kritisieren, sondern als wohlüberlegt einschätzen.

Maxim Schewtschenko arbeitete nach einem 1990 beendeten Studium am Moskauer Luftfahrtinstitut als Zeitungskorrespondent und Geschichtslehrer. Bekannt wurde der Spezialist für den Islam in Russland als Redakteur der Beilage »Religion« der »Nesawisimaja gaseta« und als Moderator von TV-Sendungen im staatlichen »Ersten Kanal«. Er bezeichnet sich als Anhänger der Demokratie, jedoch als Gegner der religionsfeindlichen Liberalen.

Neben Glasjew hat Natalia Narotschnizkaja, die Tochter des sowjetischen Historikers Alexej Narotschnizkij, staatliche Funktionen inne. Sie wurde am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen ausgebildet, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften (IMEMO), von 1982 bis 1989 im UN-Sekretariat und leitet seit 2008 die Pariser Filiale des »Instituts der Demokratie und Kooperation«, das im Auftrag des Kremls Menschenrechtsverstöße im Westen dokumentieren soll.

Das Spektrum der dem Isborsker Klub angehörenden Akademiker reicht vom Physik-Nobelpreisträger Alfjorow Schores und dem Akademiemitglied Glasjew bis zu dem Scharlatan Dugin. Ein typischer Vertreter dieser Gruppe ist der Historiker Andrej Fursow. Er verharmloste in einem Interview mit dem Radiosender »Stimme Russlands« den Stalinismus als »Diktatur der Lohnarbeiter« und »Kontrolle der Zentralmacht über eine herrschende Elite«, während er die westliche Demokratie in einem Zeitschriftenartikel als Werk transnationaler Oligarchen diffamierte.

Als Ergebnis der Zusammenarbeit von Witalij Awerjanow, Maxim Kalaschnikow, Andrej Kobjakow, Andrej Fursow und anderer im »Sergius-Projekt« (benannt nach dem Heiligen Sergius von Radonesch, dem Gründer des Dreifaltigkeitsklosters in Sergijew Possad) entstand ein Konzept der konservativen Erneuerung Russlands. Aus ihr ging die »Russische Doktrin« hervor. Unter dem Pseudonym Maxim Kalaschnikow (zusammengesetzt aus den Namen eines Maschinengewehrs und eines Sturmgewehrs) tritt Wladimir Kutscherenko, der 1991 ein Studium der Geschichte abgeschlossen hat, als Schriftsteller und Blogger auf. In seinem 2003 erschienenen Buch »Vorwärts in die UdSSR-2« idealisiert er die Sowjetunion und stellt die USA als Hauptfeind Russlands dar. 2009 antwortete er auf Präsident Medwedews Aufsatz »Russland – Vorwärts!« mit einem offenen Brief, in dem er Vorschläge für eine innovative Entwicklung Russlands machte und daraufhin von Vizepremier Sergej Sobjanin und Präsidentenberater Wladislaw Surkow empfangen wurde. 2010 forderte er den damaligen Ministerpräsidenten Wladimir Putin zur Übergabe der Macht an patriotische Kräfte auf, wofür er dann sein Vermögen behalten könne.

Andrei Kobjakow lehrte nach einem Studium der ökonomischen Geographie an der Moskauer Lomonossow-Universität und an der Moskauer Hochschule für Ökonomie. Er ist stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung »Odnako«.

Die Russische Doktrin

Um Russland »auf russische Weise« zu modernisieren, hatten Awerjanow, Fursow und Kalaschnikow eine parallel zum Staat wirkende »neue Opritschnina« vorgeschlagen, wofür Kalaschnikow die historische Opritschnina Iwans des Schrecklichen, die SS, die iranischen Revolutionswächter und eine Geheimorganisation US-amerikanischer Freimaurer als Vorbilder benennt. Sie und die anderen Autoren der »Russischen Doktrin« stellen fest, dass der Sieg des »liberalen Paradigmas« das Ende der Geschichte und den Niedergang der Menschheit bedeuten würde. Russland sei daher vor der Weltgeschichte verpflichtet, sein »russisches globales Projekt« zu verwirklichen. Bedingung der Wiederauferstehung Russlands sei die Einheit von Kirche und Staat sowie von Kirche und »Sozium« (der Gemeinschaft). Das »absurde Ziel der Stärkung der Demokratie« könne kein Staatsziel sein. Die Staatsmacht Russlands solle sich vielmehr auf Rätedemokratie, die Aristokratie und das Staatsoberhaupt stützen. Der Staat sei nicht Arena des Streits und der Feindschaft, sondern der Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Kräfte – das erinnert an das Diktum des ehemaligen Duma-Vorsitzenden Boris Gryslow, wonach das Parlament kein Ort für Diskussionen sei. Das Rechtssystem des neuen Russland solle von der europäischen und nordamerikanischen Rechtskultur mit ihrer Institution der Gewaltenteilung und der »Herrschaft der Menschenrechte« befreit werden. Die Autoren behaupten programmatisch: »Weder das russische Imperium noch die UdSSR sind jemals aufgelöst worden. Ihr Wille, ihr Recht und ihre Verpflichtungen bleiben in Kraft«. Hauptanliegen der »Russischen Doktrin« ist die Organisation der Nation als vom Kollektiv getragene Gemeinschaft statt der von Individuen geprägten Gesellschaft, daher rührt die Ablehnung individueller Menschenrechte, der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung, also des sogenannten »liberalen Paradigmas«, das als Konzept einer wertfreien »Ellbogengesellschaft« verleumdet wird.

Die Strategie des »Großen Durchbruchs«

Die Weltsicht des Isborsker Klubs wird außer in der »Russischen Doktrin« in den Berichten dargestellt, die in der Klubzeitschrift »Russische Strategien« publiziert werden (s. Tabelle 2). Im ersten, Anfang 2013 veröffentlichten Bericht werden unter dem Titel »Strategie des Großen Durchbruchs« Grundlinien dargelegt. Konstatiert wird dort eine Krise des »kapitalistischen Weltsystems«, die aus einem verschärften Kampf um Naturressourcen, der Verschärfung der strategischen Widersprüche zwischen den Weltmächten und dem aktuellen Kondratjew-Zyklus resultiert. Es wird behauptet, der Westen wolle auf Kosten eines großen Teils der Weltbevölkerung seine »schöne neue Welt« errichten, indem er Krieg zwischen Dutzenden Ländern entfacht und die Weltbevölkerung um mehrere Milliarden Menschen vermindert, wofür Hunger, blutige Konflikte, Epidemien, die Senkung der Fruchtbarkeit, die Verbreitung homosexueller Ehen und genetisch modifiziert Organismen eingesetzt werden. Seit 2007 werde Russland vom Westen mit Methoden der psychologischen Kriegsführung, des Informationskriegs sowie der »Organisationswaffe« (die innere Zersetzung von Organisationen, nach dem sowjetischen Systemanalytiker Spartak Nikanorow) angegriffen. Die Autoren des Berichts loben Josef Stalin, der die Grundlagen für den Sieg im Zweiten Weltkrieg und die darauf folgenden Leistungen der Sowjetunion gelegt habe. Heute sei allerdings die im Land tätige »fünfte Kolonne« noch stärker als in den 1930er Jahren, und der »globalistische« Westen sei mächtiger als es die damaligen Feinde waren.1 Man benötige eine »Revolution von oben«, sonst drohe eine vom Ausland unterstützte »Revolution von unten«. In der Gesellschaft müsse ein Bewusstsein für die Existenz der äußeren und inneren Feinde Russlands geschaffen werden, und es sei ein Programm der Mobilisierungswirtschaft auszuarbeiten. Die Autoren versteigen sich zur Ausmalung eines vom Westen gegen Russland bereits begonnenen, verdeckten Angriffskriegs. Dass dieses Feindbild, das deutliche Parallelen zur sowjetischen Propaganda hat, mit wohlwollender Billigung des Staates in dessen Medien verbreitet werden kann, zeugt von der Angst der Macht- und Wirtschaftselite Russlands vor dem Verlust der Kontrolle über die Gesellschaft, wie er sich in den Protesten 2011/2012 angedeutet hatte.

Einfluss auf die Kremlpolitik?

Die Thesen des Isborsker Klubs gehören in Russland spätestens seit der Ukrainekrise zum mainstream der politischen Rhetorik, stellen aber keine ideologische Quelle der Kremlpolitik dar. Wladimir Putin stützt sein Bekenntnis zu konservativen Werten auf den Philosophen Wladimir S. Solowjow (1853–1900), die von Lenin 1922 ins Exil verbannten Philosophen Nikolaj Berdjajew (1874–1948) und Iwan Iljin (1883–1954) sowie den in der Sowjetunion verfolgten Lew Gumiljow (1912–1992), die alle seit dem Ende der Sowjetunion in Russland zunehmende Aufmerksamkeit erfahren, weil man bei ihnen eine Weltanschauung in russischer Tradition zu finden hofft. Iljin, der sich im Zarenreich als Hegelforscher einen Namen gemacht, nach seiner Emigration zehn Jahre lang am Berliner »Russischen Wissenschaftlichen Institut« gearbeitet und in ganz Deutschland Vorträge über den Bolschewismus gehalten hatte, forderte für ein Russland nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft ein stabiles, autoritäres Regime. Er war für die Einheit und Unteilbarkeit des Landes in den Grenzen des Russischen Reiches eingetreten, hatte aber auch »nationalen Dünkel« verurteilt. Putin ist von Iljin derart angetan, dass er ihn 2005, 2006, 2009 und 2014 in seinen Botschaften an die Föderalversammlung zitierte. Jedoch bedeutet, wie Hans-Joachim Spanger bemerkt, Putins »Reinkarnation als Wertkonservativer« keine ideelle Fundierung seiner Politik.

Mit wenigen Ausnahmen verlangen die Mitglieder des Klubs aus ihrem Verständnis der »Russischen Welt« heraus zumindest die »Befreiung« des gesamten Südostens der Ukraine und die Aufnahme des so gebildeten »Neurusslands« in die Russische Föderation, wenn nicht sogar den Anschluss der gesamten Ukraine an Russland. Die im Vergleich dazu zurückhaltende Kremlpolitik interpretieren sie als Ergebnis des Wirkens einer »fünften Kolonne« von aus dem Ausland gesteuerten Liberalen. Dugin hat sogar eine aus Putins Ratgebern, regierungsnahen Oligarchen und hohen Staatsfunktionären bestehende »sechste Kolonne« ausgemacht, die der Regierung Kompromisse mit dem Westen einredet. Daher könnte der Isborsker Klub zukünftig auch in Opposition zum Kreml treten.

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