Der Mord an Boris Nemzow hat Russland erschüttert

Von Wladimir Ryschkow (Moskau)

Zusammenfassung
Boris war über die letzten zwanzig Jahre in Russland jedem gut bekannt. Er hat in der Vergangenheit hohe politische Posten und Regierungsämter innegehabt. Es gab eine Zeit, als Präsident Jelzin ihn sogar als möglichen Kandidaten für seine Nachfolge in Betracht zog. Der Mord an Boris Nemzow ist beispiellos, niemals zuvor ist in Russland ein Politiker von solchem Rang ermordet worden. Politische Morde hat es auch früher gegeben, so sind nun mal die Realien Russlands.

Boris war über die letzten zwanzig Jahre in Russland jedem gut bekannt. Er hat in der Vergangenheit hohe politische Posten und Regierungsämter innegehabt. Es gab eine Zeit, als Präsident Jelzin ihn sogar als möglichen Kandidaten für seine Nachfolge in Betracht zog. Der Mord an Boris Nemzow ist beispiellos, niemals zuvor ist in Russland ein Politiker von solchem Rang ermordet worden. Politische Morde hat es auch früher gegeben, so sind nun mal die Realien Russlands. Es hat die aufsehenerregenden Morde an Galina Starowojtowa und Sergej Juschenkow gegeben, an den Journalisten Wlad Listjew und Anna Politkowskaja, an den Menschenrechtlern Stanislaw Markelow und Natalja Estemirowa. Viele dieser Morde sind denn auch unaufgeklärt geblieben. Aber noch nie ist ein Politiker ermordet worden, der sieben Jahre als Gouverneur einer großen Region (Gebiet Nishnyj Nowgorod), als stellvertretender Ministerpräsident und Minister, als stellvertretender Duma-Präsident und Fraktionsführer tätig gewesen war; der Anführer einer registrierten Partei und amtierender Abgeordneter eines Regionalparlaments (der Gebietsduma Jaroslawl) war.

Vor zwei Jahren haben Boris Nemzow und ich die Risiken erörtert, die oppositionelle Tätigkeit in dem von Wladimir Putin errichteten autoritären System mit sich bringt. Wir waren uns einig, dass Oppositionelle diskreditiert werden können, indem kompromittierendes Material gegen sie gesammelt und eine Überwachung rund um die Uhr durchgeführt wird; dass ein Oppositionsführer überfallen und verprügelt, ja zum Krüppel gemacht werden kann. Die Partei kann verboten oder nicht zu Wahlen zugelassen werden, die Wahlen können (aller Wahrscheinlichkeit nach) gefälscht werden; es können schließlich Strafverfahren gegen sie fabriziert werden, die sie ins Gefängnis bringen (wie Sergej Udalzow und Alexej Nawalnyj, wie fürher Michail Chodorkowskij). Sie würden einen jedoch nicht umbringen – wegen der hohen Kosten für das Ansehen der Regierung, sowohl innerhalb des Landes, als auch im Ausland. Wir haben geglaubt, dass landesweit bekannte Politiker sich in relativer Sicherheit befinden, eben wegen ihrer Bekanntheit. Die nächtlichen Schüsse vom 27. Februar 2015 auf der Samoskworezkij-Brücke, im Zentrum von Moskau, haben gezeigt, dass wir uns grausam geirrt haben.

Die demonstrative Ermordung eines der wichtigsten Oppositionsführer ändert die politische Situation im Lande kardinal. Vor allem hinsichtlich der Einschätzung, welche Risiken und Aussichten für die aktivsten Bevölkerungsteile bestehen. Besonders dann, wenn dieses Verbrechen nicht aufgeklärt wird, oder wenn die offizielle Version der Ermittlungsbehörden kein Vertrauen genießen sollte. Dann wären selbst jene, die loyal schweigen würden, tief in ihrem Herzen davon überzeugt, dass hinter dem Tod von Boris Nemzow der Kreml steckt.

Für die breiteren Eliten bedeutet es nicht nur das große Risiko den Posten zu verlieren, einem Strafverfahren ausgesetzt und zum Rücktritt genötigt zu werden, sondern auch Gefahr für Leib und Leben. Schließlich hatte seit dem Tode Stalins am 5. März 1953 in den Eliten der Sowjetunion / Russlands eine unausgesprochene, aber strikte Regel gegolten, die eine physische Liquidierung von Angehörigen der Nomenklatura ausschloss. Sowohl Chruschtschow, wie auch Gorbatschow und Jelzin, lebten nach ihrem Abgang als friedliche Rentner unter dem Schutz des Staates. Nun aber, nach dem Mord an dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Nemzow, ist dieses Tabu zusammengebrochen. Diese Erkenntnis dürfte kaum den Widerstand der Bürokratie hervorrufen, doch wird es zweifellos die ohnehin riesige Furcht in deren Reihen verstärken, und es wird die Initiative der Bürokraten und innersystemischen Politiker noch weiter zügeln.

Für die Unternehmen in Russland ist die Ermordung Boris Nemzows ein weiteres alptraumartiges Signal, gesendet aus jenem gefährlichen mafiösen Milieu, zu dem die herrschende staatliche Korporation der Silowiki unser Land gemacht hat. Wenn ein landesweit berühmter Politiker in Kremlnähe erschossen werden kann, was soll dann noch jene Überfallkommandos der Staatsmacht oder jene Banditen aufhalten, die sich eine fremde Fabrik oder irgendjemandes Hotel aneignen wollen? Die Risiken bei der Führung eines Unternehmens sind extrem hoch gewesen, jetzt sind sie noch weiter gestiegen. Man kann getrost die Prognose stellen, dass weiterhin Kapital und Menschen aus dem Land fliehen werden, die Investitionen zurückgehen werden und sich die Krise verschärfen wird.

In den kreativen Bevölkerungsschichten, bei jungen Menschen und in der Intelligenzija haben sich die Auswanderungsbestrebungen drastisch verstärkt. Die Staatsmacht rückt an allen Fronten vor, sie erklärt aktive NGOs zu »ausländischen Agenten«, setzt im Internet auf breiter Front Zensur ein, zerrt Menschen wegen ihrer Kommentare in sozialen Netzwerken vor Gericht, eröffnet im Museum der Stalinschen Repressionen »Perm-36« ein Museum der Mitarbeiter des GULAG und bringt einen jungen Regisseur, der Wagners Tannhäuser inszeniert hat, wegen der »Verletzung der religiösen Gefühle von Gläubigen« vor Gericht. Die Ermordung Boris Nemzows ist das mächtige und monströse Signal an alle Menschen mit liberalen Ansichten, dass in Russland nun freies Schaffen, Meinungsfreiheit und Kritik an der Regierung nicht mehr nur ein unerwünschtes Verhalten sind, sondern schlichtweg eine für jedermann gefährliche Sache.

Die vor kurzem geschaffene Bewegung »Antimajdan« hat bereits vor dem Tod von Boris Nemzow offen dazu aufgerufen, »mit der fünften Kolonne abzurechnen« und gegen Aktionen der Opposition physisch vorzugehen; sie kündigte ein Lager zur Ausbildung der »Kämpfer« an. Die Basis der Bewegung wird von Rockern des Vereins »Nachtwölfe«, von Veteranen der Sondereinheiten, Veteranen des Afghanistankrieges und Kampfsportlern gestellt. Wladimir Putin ist oft mit ihnen zu sehen, er unterstützt schon viele Jahre offen dieses militant-uniformierte Segment der »patriotischen Bewegung«. Die ideologischen Grundlagen für diese Bewegungen hat Wladimir Putin selbst geschaffen, indem er in seinen Reden provokante Termini wie »fünfte Kolonne«, »Nationalverräter« oder »patriotische und unpatriotische Opposition« verwendete.

Die kreativen, friedlichen Bevölkerungsschichten mit ihren liberalen europäischen Werten nehmen das alles als Elemente einer zunehmenden, immer gröber und grausamer werdenden Diktatur wahr, die sich auf eine entstehende totalitäre Ideologie stützt; diese setzt sich aus Nationalismus, Großmacht-Chauvinismus, Militarismus, militantem Traditionalismus und Isolationismus zusammen. Eine massive Propaganda kultiviert in der Gesellschaft Hass gegen Freiheit, Menschenrechte, Liberalismus, politischen Wettbewerb, gegen Europa und den Westen als Ganzes.

Das alles drängt weitere Tausende Bürger Russlands zur Flucht aus dem Land (im Verlauf des Jahres 2014 sind 240.000 Personen weggezogen). Die Flucht wird durch zunehmende Gerüchte verstärkt, dass der Kreml bereit sei, erneut (wie zu Zeiten der UdSSR) den Bürgern Russlands die Ausreise zu sperren und die angesparten Devisen zu beschlagnahmen.

Bislang hat der Kreml seine Politik um keinen Deut geändert. Bei einer Rede vor dem Kollegium des Innenministeriums forderte Wladimir Putin einige Tage nach dem Tod von Boris Nemzow, dass mit diesen schändlichen politischen Morden Schluss gemacht werde müsse, wobei er den Mord an Boris erwähnte. Um dann sehr viel eingehender von der Gefahr durch »orangene Revolutionen« und Massenunruhen zu sprechen und die Zerschlagung von »Extremisten« zu fordern. Das ist ein deutliches Zeichen an die Silowiki-Strukturen, dass die Ermordung Nemzows zwar ein bedauerlicher, doch kein allzu außerordentlicher Fall sei, und dass, als ob gar nichts geschehen sei, das »Pressing« gegen die Opposition fortzuführen sei. Das erfolgt vor dem Hintergrund, dass in Russland gerade Liberale, Menschenrechtler und Umweltaktivisten am häufigsten zu »Extremisten« erklärt werden.

Der riesige Bereich der tatsächlich existierenden extremistischen Organisationen »patriotischer«, »militärisch-patriotischer«, »veteranischer«, »sportlich-patriotischer«, »jugendlich-patriotischer«, »slawischer«, »nationalistischer« und sonstiger Couleur genießt Immunität und oft die Protektion der Regierung – unter der Bedingung, dass sie die Politik des Kreml unterstützen, beispielsweise in der Ukraine. Friedliche Organisationen der Liberalen hingegen, die den Kreml kritisieren, sehen sich Unterdrückung und offener Verfolgung ausgesetzt.

In der UdSSR bestand ein machtvolles Gewaltmonopol, nämlich ein fest gefügtes System aus KGB, Innenministerium, Staatsanwaltschaften und Gerichten. Gewalt von unten wurde harsch unterbunden.

Das heutige Russland ist sehr viel gefährlicher. In ihm sind Unzufriedene / Besondere / Minderheiten sowohl von oben (von Seiten der Silowiki-Strukturen), als auch von unten, von Seiten der vielen extremistischen, auch paramilitärischen Gruppen, von denen viele durch einzelne Machtstrukturen des Staates protegiert werden, Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt.

Eine ähnliche Situation gab es Anfang des 20. Jahrhunderts im Russischen Reich, als der Zarismus offen »monarchistische« Organisationen der Schwarzhundertschaftler unterstützte, die unter anderem blutige Pogrome gegen Juden veranstalteten. Damals führten die tiefe Spaltung der Gesellschaft und der rechtliche Niedergang des Staates zu Revolution und Bürgerkrieg. Das Putinsche Russland bewegt sich heute auf einer ähnlichen Bahn.

Die demonstrative Exekution Boris Nemzows könnte den Übergang des Regimes von einem rigiden Autoritarismus zu einer offenen Diktatur markieren. Das bringt die Opposition in Russland (die Rede ist hier nicht von den zu einer Einheitsmasse verschmolzenen Parteien, die in der Duma sitzen) in eine dramatisch schwere Lage. Die Risiken für die Oppositionsführer haben jetzt jedes Maß überstiegen; es könnte sein, dass es jetzt nicht mehr nur um ihre Freiheit geht, sondern angesichts der Gewalt und des Hasses, der sich über das Land ergossen hat, um ihr Leben. Es gibt keine Möglichkeiten, Ressourcen für Wahlkämpfe zu mobilisieren, aktive Menschen massenhaft in den Oppositionsparteien zu versammeln, da das Land durch Angst gefesselt ist. Jede friedliche Aktion droht zu einer blutigen Provokation durch Extremisten zu werden, die von der Regierung gedeckt werden

Der Mord an Boris Nemzow könnte als jenes Datum in die Geschichte eingehen, an dem Russland die rote Linie überschritt, die Krise und Niedergang von einer wirklichen Katastrophe trennt.

Wladimir Ryschkow

Politiker, Vorsitzender der Bewegung »Russlands Wahl«

6. März 2015

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