Wer hat Boris Nemzow ermordet?

Am späten Abend des 27. Februar 2015 ist Boris Nemzow auf der Bolschoj-Moskworezkij-Brücke, in Sichtweite des Kreml, erschossen worden. Der kaltblutige Mord an dem Oppositionspolitiker im Herzen Moskau hat Russland in Schock versetzt. Präsident Wladimir Putin und Ministerpräsident Dmitrij Medwedew übermittelten Kondolenzbriefe an die Familienangehörigen des ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten. Die für den 1. März vorgesehene Großkundgebung der vereinten oppositionellen Kräfte mit der Bezeichnung »Antikrisenmarsch Frühling«, deren Mitveranstalter Nemzow war, wurde zum »Trauermarsch« umbenannt und zum ersten Mal ohne Schwierigkeiten vonseiten der Stadtadministration ins Zentrum der Hauptstadt verlegt. Am ersten Frühlingstag zogen zehntausende Demonstranten in einer bedrückten Stille am Roten Platz vorbei, um am Tatort Blumen niederzulegen.

Wenige Stunden nach der Tat äußerte der Pressesprecher des Ermittlungskomitees Russlands Wladimir Markin mehrere Versionen über die möglichen Motive des Auftragsmordes, darunter eine Provokation durch ukrainischen Radikale, einen Rachemord von Islamisten wegen angeblicher Äußerungen von Nemzow zur Unterstützung von Charlie Hebdo sowie kommerzielle und private Gründe. Dutzende unterschiedliche Szenarien der Tat haben sich blitzschnell im Internet verbreitet. Die Kommentatoren aus national-patriotischen Kreisen sprechen von einem Auftrag der Opposition bzw. durch amerikanische Sicherheitskräfte mit dem Ziel einer Destabilisierung der politischen Lage in Russland. Vertreter der Opposition bestehen darauf, dass Putin direkt oder seine enge Kreise in die Ermordung verwickelt seien, da eine solche Tat in einer unmittelbarer Nähe des extrem gesicherten Kreml-Komplexes kaum ohne Unterstützung durch Sicherheitskreise möglich wäre. Nach der Festnahme von mutmaßlichen Tätern eine Woche nach dem Mord wird zunehmend eine tschetschenische Spur diskutiert. An den Debatten zum Hintergrund des Mordes an Boris Nemzow und seinen Folgen für die Politik in Russland beteiligten sich u. a. der Politiker Grigorij Jawlinskij (Partei »Jabloko«), der Politiker Lew Schlossberg (Partei »Jabloko«), der TV-Moderator Wladimir Posner (»Erster Kanal«), der Ökonom Sergej Aleksaschenko (ehemaliger stellvertrender Vorsitzender der Zentralbank), die Journalistin Xenija Sobtschak, der Chef des Staatsunternehmens »Rosnano« Anatolij Tschubajs, der Kreml-Kritiker Alfred Koch (ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident), der Publizist Alexander Prochanow, das Oberhaupt Tschetscheniens Ramsan Kadyrow, der Politiker Ilja Jaschin (Partei »RPR-Parnas«) und der Menschenrechtler Oleg Orlow (»Memorial«).

Medwedew: Mein herzliches Beileid

»Brutaler, zynischer Mord an Boris Jefimowitsch Nemzow. Das ist ein großer Verlust für unsere Gesellschaft, deren Freiheiten und Werte er immer verteidigt hat. Boris Nemzow wurde zu einem der begabtesten Politiker in der Zeit der demokratischen Umgestaltungen in unserem Land. Er ist bis zum letzten Tag eine herausragende Persönlichkeit, ein Mensch mit Prinzipien geblieben. Er handelte offen, konsequent und hat seine Ansichten nie verraten. So wird er auch in unserem Gedächtnis bleiben.

Ich teile die Trauer der Verwandten, Angehörigen und Gefährten.«

Dmitri Medwedew auf Facebook, 28.02.2015 <https://www.facebook.com/Dmitry.Medvedev/posts/10152594262656851>

Jawlinskij: Der Mord an Nemzow, das ist der Krieg

»Der Mord an Boris Nemzow ist der Krieg, der zu uns gekommen ist – sichtbar und dreist. Er [Nemzow] ist sein Gegner [d. h., des Krieges] gewesen und hat sich bemüht, den Tod von Ukrainern und Russen, die Opfer der zynischen militaristischen Propaganda wurden, zu verhindern.

Dafür wurde er gehasst, so wie alle Kriegsgegner, die es wagen, die Dinge beim Namen zu nennen: Annexion, Aggression, Brudermord.

Die politische Verantwortung für diesen Mord trägt die Staatsmacht im Ganzen und Präsident Putin persönlich – diejenigen, die den Krieg angefangen haben und führen, und die eine propagandistische Hasskampagne zu seiner Unterstützung durchführen.

Die moralische und menschliche Verantwortung liegt bei allen, die sich an dieser Kampagne beteiligen. […]«

Grigorij Jawlinskij auf Facebook, 28.02.2015; <https://www.facebook.com/yavlinsky.yabloko/posts/823322111094281>

Schlossberg: Dieser Mord ist ein staatlicher Auftrag

»Der Mord an Boris Nemzow ist Ergebnis der Atmosphäre von Krieg und Hass, die in Russland geschaffen wurde. Alle, die diese Atmosphäre heranzüchten, sind an diesem Verbrechen schuld. Jeder persönlich. Je höher der Status des Beteiligten an der Atmosphäre des Hasses, desto schwerer die Schuld. Die personelle Ebene des Auftrags spielt keine Rolle, weil dieser Mord seinem Wesen nach einen staatlichen Auftrag darstellt.

Die rote Linie zwischen Möglichem und Unmöglichem wurde mit dem Beginn von Russlands Krieg in der Ukraine überschritten. Alle nachfolgenden Ereignisse sind nur die Folgen des Überschreitens dieser Linie durch den russischen Staat. Hierzu zählt auch der Tod von Boris Nemzow. […]«

Lew Schlossberg auf Livejournal, 28.02.2015; <http://lev-shlosberg.livejournal.com/876817.html>

Posner: Der Mord an Nemzow bringt Putin keinen Gewinn, sondern nur Schaden

»Als Boris Nemzow ermordet wurde, war ich außer Landes. Während dieser anderthalb Tage, die ich im Ausland verbrachte, hatte ich die Möglichkeit zu sehen, was zu diesem Mord bei verschiedenen Fernsehsendern der USA, Großbritanniens und Frankreich gesagt wurde. Gesagt wurde eines: Waldimir Putin hat – direkt oder indirekt –seine Hand im Spiel. Er war es, seine Erfüllungsgehilfen waren es, die den Oppositionsführer Boris Nemzov ermordet haben, und das im Vorfeld des Protestmarsches. Es gab keine Stimme gegen diese Beheuptung. Es gab nicht einmal eine zweifelnde Stimme.

Wie ich mir das alles anschaute, dachte ich, wenn jemand vorhatte, dem Image Russlands im Ausland noch mehr zu schaden (und für die überwiegende Mehrheit ist Putin und Russland ein und dasselbe, was unter anderem aus Überschriften wie ›Russland hat der Ukraine Krieg erklärt‹, ›Russland könnte dem Westen den Gashahn zudrehen‹ etc. deutlich wird), so hätte man sich nichts Besseres ausdenken können. […]

Ich stimme kategorisch jenen nicht zu, die direkt oder indirekt andeuten, der Mord an Nemzow sei das Werk Putins und der Staatsmacht, ich stimme jenen nicht zu, die mit Worten wie ›Heute Nemzow, morgen du‹ auf die Straßen gehen. Ohne auf moralische, ethische und andere Fragen einzugehen, möchte ich die Aufmerksamkeit aller darauf lenken, dass Boris Jefimowitsch seit langem keinerlei politische Bedrohung für Putin oder dessen Umgebung darstellte. Ja, er war einer der prominentesten Oppositionellen, aber die Opposition in Russland ist heute nichtig. Wenn man Putin für einem berechnenden, klugen Menschen hält, der genau und kühl alle Vor- und Nachteile gegeneinander abwägt – und für so einen Menschen hält ihn die ganze Welt – so wäre es für ihn nicht nur sinnlos, Nemzow verschwinden zu lassen, sondern im Gegenteil, es könnte ihm nur Schaden zufügen – und das ist auch passiert.«

Wladimir Posner auf <pozneronline.ru>, 01.03.2015; <http://pozneronline.ru/2015/03/10581/>

Aleksaschenko: Es ist nicht nötig, den Kreml reinzuwaschen

»Der Mord an Boris Nemzow, das ist die raue Wahrheit des heutigen Russland. Wenn sich aus den föderalen Fernsehsendern ununterbrochen der Schwachsinn von einer fünften Kolonne ergießt (der übrigens von Putin persönlich in Gang gesetzt wurde), wenn auf den zentralen Straßen von Moskau Plakate mit allseits bekannten Prominenten und der Aufschrift ›Feind Russlands‹ hängen, wenn es möglich ist, einen Oppositionsführer jederzeit vor Gericht zu zerren oder einfach in U-Haft zu stecken, wenn die Staatsmacht ihre Bürger ermutigt, eine MP in Hand zu nehmen, ins Nachbarland zu ziehen, um zu kämpfen, zu plündern und Menschen umzubringen, dann ist es nicht sonderlich wichtig, ob es nun Putin persönlich war, der den Befehl erteilt hat oder jemand aus seiner nächsten Umgebung, oder jemand, der von Putins Administration finanziert wird, oder jemand, der Putin für einen ›Schwächling‹ hält, der nicht zu entschlossenem Handeln fähig ist, und der ihm vor den Mauern seiner Residenz zeigt, was zu tun und wie vorzugehen ist.

Eines ist wichtig zu verstehen: an den Händen des Kreml klebt das Blut von Boris. Und es ist der Kreml, der die Verantwortung für dieses Verbrechen trägt. Und dafür wird ihm nicht verziehen werden.«

Sergej Aleksaschenko auf Facebook, 28.02.2015; <https://www.facebook.com/sergey.aleksashenko/posts/102059217 41422025>

Sobtschak: Chaos des Hasses

»In Wirklichkeit wäre es irgendwie weniger besorgniserregend, wenn Putin der Auftraggeber für den Mord an Nemzow wäre. Darin könnte man ein zwar fürchterliches, aber immerhin ein System erblicken. Ein lenkbares System. Befohlen – ausgeführt. Ich denke aber, das ist leider nicht der Fall. Es gibt keinen Putin, der den Befehl zum Mord erteilte, aber es gibt einen Putin, der einen höllischen ›Terminator‹ aufgebaut und die Kontorolle über ihn verloren hat.

Es gibt keine kontrollierbaren Prozesse mehr. Nicht nur in der DNR [›Donezker Volksrepublik‹; S.M.], wo es bereits notwendig wurde, mehrfach die außer Kontrolle geratenen ›Strelkows‹ auszutauschen, sondern auch auf den Straßen der eigenen Stadt. Es gibt ein Chaos des Hasses. Eines Hasses, der von den föderalen Medien täglich geschürt wird, eines Hasses, der sich als prächtige Lösung zur Desintegration darstellte. Es ist dieses wunderbare Know-How von Wolodin, mit dem man die Geschichte und den gerechten Zorn der Menschen überlisten kann, die nach den unfairen Duma-Wahlen auf die Straße gegangen sind, um ihre bürgerliche Würde zu verteidigen.

›Wata‹ und ›Liberasten‹ hassen sich gegenseitig, spucken einander an, und über allem herrscht ewig der nachsichtig auf sie herabschauende Herr Präsident – die ideale Interpretierung des Prinzips ›Teile und herrsche‹.

Es gibt aber eine wichtige Nuance: Hass ist, wie die Liebe, nicht kontrollierbar. Er ist das gefährlichste explosive Element, er lebt nach seinen eigenen Gesetzen, den Gesetzen des Nitroglycerin. Und das haben aus irgendwelchen Gründen weder Wolodin noch Putin berücksichtigt.

Die Verantwortung für diesen Mord liegt nicht nur bei den Schöpfern dieses Systems, sondern auch bei den alltäglichen Leitern dieses Hasses, an jedem von ihnen klebt das reale Blut von Boris Nemzow. Jeder Schrei über Bandera-Leute oder Erzählung von Nationalverrätern hat diesen Mord näherrücken lassen. Und das ist keine Übertreibung. Ihr, liebe Schöpfer der ›Anatomien des Protestes‹, wo Nemzow allenthalben zu sehen war, jeder von euch ist der Killer auf dieser Brücke. Und der kausale Zusammenhang ist hier evident: Der von den föderalen Medien tagtäglich in die Venen injizierte Hass musste zu Blut werden. […]

All der ideologische Krieg und die Propaganda, die, so stellt es sich heraus, in zu Kriegszeiten einfach geführt werden müssen weil es ›anders nicht geht‹, musste feuern. Und das waren nur die ersten sechs Kugeln. Düstere Zeiten stehen bevor, wo man für ein schlechtes Wort über den Führer eins aufs Maul kriegen kann, oder wo man einfach so eins aufs Maul bekommt, auch ohne jedes Wort. Weil der Hass in einer durch Massenpropaganda verfallenden Gesellschaft zum Hauptmotor und zur Lösung aller Fragen wird. Übrigens, mit einer Wirtschaft wie wir sie jetzt haben, werden bald nicht nur politische, sondern auch ›normale‹ räuberische Überfälle (zum Gelderwerb) zurückkehren. Krieg erzeugt Krieg, so und nicht anders.

Lasst uns einfach alle diese ›Musterschüler‹ nicht vergessen, die diese Bosheit eingepflanzt haben. Wir werden sie nicht deswegen nicht vergessen, um ihnen unsere Kugeln in den Rücken zu schießen, sondern um nicht selbst so zu werden wie sie…[…]«

Xenija Sobtschak auf <snob.ru>, 28.02.2015; <http://snob.ru/profile/24691/blog/88680>

Tschubajs: Wir alle müssen innehalten

» […] Alle wissen genau, dass Boris ein absolut unbestechlicher, absolut aufrichtiger, bis zur Direktheit ehrlicher Mensch ist. Und wenn ich heute die Kommentare einiger Politikern im Fernsehen oder Kommentare im Internet darüber höre, dass die Liberalen den Mord an Nemzow organisiert hätten, oder Kommentare darüber, dass die Liberalen eine Verschwörung provoziert hätten, die die Krise der Wirtschaft Russlands zur Folge hatte, verstehe ich, dass es nicht um die geht, die das sagen, sondern darum, dass im Land eine Nachfrage nach Bosheit geschaffen wurde, eine Nachfrage nach Hass, im Land ist eine Nachfrage nach Aggression geschaffen worden. Wenn erst vor wenigen Tagen hier, in unserer Stadt Menschen mit dem Plakat ›Schlagt die fünfte Kolonne tot‹ umhergegangen sind, und jetzt Nemzow ermordet wird, dann lasst uns mal nachdenken: Und was wird morgen geschehen? Wir alle müssen innehalten. Ich betone: alle. Die Staatsmacht, die Opposition, die Liberalen, die Kommunisten, die Nationalisten, die Konservativen. Alle. Es ist an der Zeit innezuhalten. Und zumindest für eine Minute nachzudenken, wohin wir Russland bringen. Und ich hoffe sehr, dass zumindest die heutige Tragödie uns helfen wird, das zu tun.«

Anatolij Tschubajs auf <rusnano.ru>, 28.02.2015; <http://www.rusnano.com/about/press-centre/first-person/20150228 -zayavlenie-chubaisa-v-svyazi-s-ubiystvom-nemtsova>

Alfred Koch: Borja wird uns nie verzeihen, wenn wir aufhören

»Wobei soll die Opposition innehalten, Tolja [=Anatolij Tschubajs; S.M.]? Womit sollen die Liberalen aufhören? Mit dem Protest? Sollen sie Demut im Herrn (an den du nicht glaubst) zeigen? Was konkret sollen sie tun? Was machen sie falsch?

Sollen sie auf das Recht auf Versammlungen verzichten, um nicht ermordet zu werden?

Sollen sie auf das Recht auf Wahlen verzichten, um nicht ins Gefängnis gesteckt zu werden?

Sollen sie sich mit der in Diebstahl versunkenen Staatsmacht abfinden, um nicht mit den Schlagstöcken der Polizei verprügelt zu werden?

Sollen sie den Krieg mit der brüderlichen Ukraine unterstützen, damit die Staatsmacht sie leben lässt?

Du hast deine Wahl getroffen. Du hast fast ein halbes Jahr nicht mehr mit Borja [Nemzow] gesprochen. Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Das [oben] waren seine Worte.

Du hältst seit langem den Mund zu und beschäftigt dich mit deiner sog. ›Sache‹: ›Erschließen‹ von Haushaltsknete. ›Erschließe‹ ruhig weiter! Wer hindert dich daran?

So. Die Opposition hat niemanden ermordet und niemanden zum Mord aufgerufen. Die Liberalen haben niemanden ins Gefängnis gesteckt und niemanden dazu aufgerufen.

Es gibt in uns keine Aggression. Wir wollen einfach Freiheit. Wir sind der Ansicht, dass wir Rechte haben. Menschenrechte. Sie sind uns von Gott (an den du nicht glaubst) gegeben, und nicht von Putin (den du wie ein echter Heide anbetest).

Nirgendwo haben wir eine Linie überschritten. Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Und es gibt nichts, weswegen wir innehalten müssten.

Wenn wir anhielten, gerieten wir in eine Gesellschaft mit dir. Und das wäre eine Kapitulation.

Einst hast du schon die Union der rechten Kräfte [liberale Partei (1999–2008), zu deren Führung Nemzow gehörte; S.M.] erdrosselt. Gerade damals hast du, soweit ich mich erinnere, ebenfalls zur Zurückhaltung im Verhältnis zu Putin aufgerufen.

Borja hat dir das nie verziehen. Und Gajdar übrigens auch nicht. Damit du heute keine Illusionen hast. Jegor [Gajdar] hat bis zu seinem Tod bereut, dass er sich damals von dir überreden ließ.

Und Borja würde uns nie verzeihen, wenn wir jetzt aufhören.«

Alfred Koch auf Facebook, 01.03.2015 <https://www.facebook.com/koch.kokh.haus/posts/1421142558182949>

Prochanow: Nemzow wurde von der liberalen Opposition getötet

»[…] Nemzow war der prominenteste und radikalste Oppositionelle liberalen Ausrichtung. Er galt als ein Liebling und Nachfolger von Jelzin. Und wahrscheinlich hätte er der Präsident Russlands werden können, wenn nicht plötzlich Putin erschienen wäre, der Nemzow die ›Krone‹ wegschnappte, was dann auch ein Grund für Nemzows tiefgreifenden Antiputinismus war. […]

Der Henker, der auf Nemzow schoss, schoss auf etwas Größeres und versuchte dabei, diesen Schüssen das Festland des politischen Lebens Russlands zu bewegen. Die Opposition hat sofort die Staatsmacht für schuldig an diesem Mord erklärt, sie hat auf den Kreml gezeigt und unmittelbar auf den Präsidenten. Es wurde an die kompromittierenden Materialen über Putin erinnert, die Nemzow veröffentlicht hat. Dieser Mord wurde mit dem Wunsch des Kreml erklärt, den Oppositionsprozess zu enthaupten, mit dem Wunsch, einen starken und talentierten Konkurrenten zu beseitigen. Es wird eine Riesenblase von Hass gegen Putin und die russische Staatsmacht aufgeblasen. Dieser Hass hämmert an die Mauern des Kreml und bricht dort Ziegel heraus. Dieser Hass soll alle Anhänger eines starken russischen Staates traumatisieren und willenlos machen. Dieser Hass soll Putin verletzen, seinen Willen brechen, auf seine Beseitigung hinwirken. […]

Man sollte nicht denken, dass dieser Mord von ausländischen Spezialdiensten oder irgendeinem muslimischen Staat verübt wurde. Dieser Mord entstammt den Reihen der liberalen Opposition, einer hassenden, infernalen Opposition, die sich auf einem Feldzug des Hasses befindet, den sie, die Opposition, in den 1980er Jahren während der Perestrojka begonnen hat. Damals versuchte sie mit giftigen Flammenwerfern alle sowjetischen Werte, alle Träger der großen Staatsidee auszurotten. Diese Flammenwerfer richtete sie auf Politiker, Schriftsteller und Militärs, auf all die unzähligen und wortlosen zu diesem Fluch verdammten Millionen sowjetischer Menschen. […]

Was soll die Staatsmacht unter solchen Bedingungen tun? Zur Opposition laufen, Freundschaft und Toleranz beteuern, immer wieder sagen ›das waren nicht wir, nicht wir, Nemzow ist der größte der russischen Bürger‹? Ihnen wieder Preise und Auszeichnungen verleihen, sich in freundschaftliche Diskussionen mit jenen begeben, die die Staatsmacht verraten haben? Wenn es so käme, wäre das Ziel des Mordes an Nemzow in vielem erreicht. Die Staatsmacht würde Schwäche und Selbstzweifel zeigen, wenn sie vor einer mächtigen konsolidierten Kolonne zurückwiche, nicht der fünften oder sechsten, sondern der Kolonne des monströsen Tempels des Hasses und der Russophobie. […]

Ein Schlag gegen die wie besessen tobende Opposition wäre die Rückkehr des Namens Stalingrad auf die Landkarte Russlands anlässlich des Jubiläums des Großen Sieges. Ein Schlag gegen die Liberalen und ihren grimmigen Antisowjetismus wäre die Durchführung einer Parade auf dem Roten Platz, der dann endlich wieder in seiner mystischen Schönheit erstrahlen würde. Vom Mausoleum ist der Stoffbehang gefallen, und es erscheint wie ein Edelkristall, der die ganze Fülle des Roten Platzes – dieser steinernen Ikone Russlands – ergänzt. Ein Schlag gegen die Opposition, die Putin die Krim und Neurussland nicht verziehen hat, wäre die Beteiligung von russischen Fallschirmjägern und Marineinfantristen, von Offizieren der Militärakademien an diesem feierlichen Marsch, die Beteiligung grimmig-entschlossener prächtiger Reihen zweier Formationen – der Lugansker und der Donezker – unter ihren siegreichen Staatsflaggen.

Die Staatsmacht soll ganzheitlich, stark und dem Volke verständlich sein. In ihr soll ein Scheinwerfer aufleuchten, der die finstersten und düstersten Ecken der liberalen Opposition beleuchtet, wo die Skelette von Millionen in den neunziger Jahren gemarterter sowjetischer Menschen bleich leuchten. […]«

Alexander Prochanow auf <izvestia.ru>, 02.03.2015 <http://izvestia.ru/news/583564>

Kadyrow: Saur war ein echter Patriot Russlands

»Das Basmannyj-Gericht in Moskau hat die Inhaftierung von Saur Dadajew angeordnet, der der Beteiligung am Mord an Boris Nemzow verdächtigt wird. Ich kannte Saur als einen wahren Patrioten Russlands. Er diente seit dessen Gründungstagen in einem Regiment, das zur 46. OBRON [Selbstständige Brigade für besondere Aufgaben] der Inlandsstreitkräfte des Innenministerium Russlands gehört. Er hatte den Dienstgrad eines Leutnants. Er war stellvertretender Bataillonskommandeur. Saur war einer der fruchtlosesten und mutigsten Militärangehörigen im Regiment. Er hat sich besonders im Kampf nahe Benoj ausgezeichnet, als eine Spezialoperation gegen eine große Bande von Terroristen durchgeführt wurde. Er ist u. a. mit dem Orden des Mutes, den Medaillen ›Für Tapferkeit‹ und ›Für Verdienste um die Tschetschenische Republik‹ sowie mit einem Dankschreiben des Oberhauptes von Tschetschenien ausgezeichnet worden. Ich bin fest davon überzeugt, dass er Russland aufrichtig ergeben ist, bereit war, sein Leben für das Vaterland zu opfern. Mir sind die wahren Gründe und Motive für die Entlassung von Saur aus den Reihen Inlandsstreiträfte des Innenministeriums unverständlich. Es wird gesagt, das habe mit der Erkrankung seiner Mutter zu tun gehabt. Die Medien berichten, dass Saur seine Beteiligung am Mord an Boris Nemzow vor dem Gericht bestätigt hat. Alle, die Saur kennen, behaupten, dass er ein tiefgläubiger Mensch war und dass er, wie alle Muslime, von den Taten von Charlie und von den Kommentaren, die eine Veröffentlichung der Karikaturen unterstützten, erschüttert war. Ich habe den Sekretär des Sicherheitsrates von Tschetschenien Wachit Usmajew angeordnet, eine sorgfältige Untersuchung der Umstände von Saurs Entlassung durchzuführen und sein Verhalten, seine Stimmung vor dem Ausscheiden aus dem Dienst zu untersuchen. Auf jeden Fall, falls das Gericht eine Schuld von Dadajew feststellt, hat er, wenn er einen Menschen getötet hat, ein schweres Verbrechen begangen. Ich möchte aber erneut betonen, dass er keinen Schritt gegen Russland, für das er mehrere Jahre sein Leben riskiert hat, machen konnte. Ein ebenso tapferer Kämpfer war auch Beslan Schawanow, der gestern bei einem Festnahmeversuch ums Leben gekommen ist. Wir glauben, dass eine sorgfältige Untersuchung vorgnommen werden wird, die zeigen wird, ob Dadajew tatsächlich schuldig ist, und was die wahren Gründe für seiner Tat waren.«

Ramsan Kadyrow auf Instagram, 08.03.2015 <https://instagram.com/p/z-dKqICRua>

Jaschin: Kadyrow hat seine Arme bis zu Ellbogen im Blut getränkt

»Die Vermutung, dass Nemzow von den radikalen Muslimen für die negativen Aussagen zum Islam ermordet wurde, ist allem Anschein nach zur offiziellen Version der ermittelnden Stellen geworden. Das ist nicht einfach nur purer Schwachsinn. Für mich ist offenkundig, dass diese Version das Ergebnis eines politischen Auftrags des Kreml ist. Diese Version ist für die Staatsmacht durchaus bequem. Es ist nicht erstaunlich, dass der Sündenbock Dadajew, der von Kadyrow nach dem Mord als ein ›wahrer Patriot und Krieger‹ bezeichnet wurde, gerade islamistische Motive seines Verbrechens nennt.[…]

Im Großen und Ganzen stellt die offizielle Version auch für Kadyrow keine Gefahr dar. Natürlich hat er einige Image-Probleme: Dadajew, der seine Schuld gestanden hat, entstammt den Sicherheitsstrukturen von Kadyrow, ist persönlich mit dem Oberhaupt von Tschetschenien bekannt und hat aus dessen Händen Auszeichnungen erhalten. Jedem unvoreingenommenen Menschen ist klar: die blutige Spur von der Bolschoj-Samoskworezkij-Brücke führt direkt ins Arbeitszimmer von Kadyrow. Die Ermittler haben aber die formelle Möglichkeit erhalten, Kadyrow in Ruhe zu lassen. Denn Dadajew hat die volle Verantwortung für das Verbrechen übernommen und sich faktisch zum Organisator des Verbrechs erklärt. Na, und dass der kritisch gesonnene Teil der Bevölkerung Kadyrow für einen Mörder halten wird… Das ist dem doch völlig egal. Als ob dieser Teil der Bevölkerung je bezweifelt hätte, dass Kadyrows Arme bis zum Ellbogen in Blut getränkt sind.

Also, unsere schlimmsten Sorgen verwirklichen sich allem Anschein nach: Für das Verbrechen wird ein Sündenbock verantwortlich gemacht, und die wirklichen, mit staatlicher Macht versehenen Auftraggeber des Mordes bleiben in Freiheit. […]«

Ilja Jaschin auf Facebook, 09.03.2015 <https://www.facebook.com/yashin.ilya/posts/812124405507873:0>

Orlow: Mord an Nemzow. Spuren aus Grosnyj

»[…] Wenn es bewiesen werden sollte, dass Saur Dadajew tatsächlich an dem Verbrechen beteiligt war, kommt es mir sehr unwahrscheinlich vor, dass ein in ein Verbrechen verwickelter Offizier dieses Bataillons, auch wenn er vor kurzem den Dienst quittiert hat, sich auf ein solches Verbrechen ohne einen direkten oder mittelbaren Auftrag seitens des Oberhaupts der Tschetschenischen Republik eingelassen hätte.

[…]

Die Spuren von Leuten, die der Regierung der Tschetschenischen Republik nahe stehen, sind mehr oder weniger deutlich bei einer ganzen Reihe von politisch motivierten Morden an Gegnern von Kadyrow zu sehen: beim Mord an Mowladi Bajsarow, Ruslan Jamadajew, Sulim Jamadajew, beim Attentat auf Isa Jamadajew, beim Mord an Umar Israilow in Wien etc.

Gleichwohl wurden solche Verbrechen bis jetzt nur an Menschen verübt, die unmittelbar mit den Ereignissen in Tschetschenien verbunden waren. Boris Nemzow war das nicht.

Vermutlich ist es Kadyrow in Tschetschenien zu eng geworden. Er braucht eine größere Arena. Er macht schon politische Statements, die ganz Russland betreffen. Er tritt bereits als Islamverteidiger für die ganze Welt auf.

In diesem Zusammenhang lohnt es, sich an die Worte zu erinnern, die Kadyrow einem Newsweek-Reporter vor mehr als vier Jahre gesagt hat: ›Diejenigen, die Putin kritisieren, sind keine Menschen, das sind meine persönlichen Feinde. Solange Putin auf meiner Seite steht, kann ich machen, was ich will. Allahu akbar!‹.«

Oleg Orlow auf Echo Moskwy, 09.03.2015 <http://echo.msk.ru/blog/orlov_oleg/1508106-echo/>


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