Ein juristischer Schlagabtausch
Es war eine kleine Sensation, als die Verfassungsrechtlerin Jelena Lukjanowa, Professorin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Higher School of Economics, am 19. März 2015 in der liberalen Zeitung »Nowaja Gaseta« in einem langen Artikel (<http://www.novayagazeta.ru/politics/67715.html>) die Rechtmäßigkeit des Beitritts der Krim zur Russischen Föderation verneinte. Mit sehr deutlichen Worten erklärte sie unter Bezugnahme auf die populäre Losung der Putin-Anhänger »die Krim ist unser« (»Krim nasch«), warum die Krim nach den russischen Gesetzen »nicht so ganz unser« (»ne sowsem nasch«) sei.
Ausgangspunkt ihrer Analyse war die russische Verfassung, konkreter Anlass das Urteil des russischen Verfassungsgerichts vom 19. März 2014, in dem der Vertrag über den Anschluss der Krim geprüft und für verfassungsgemäß erklärt wurde. Sollte die Autorin angenommen haben, dass die Nowaja Gaseta nur von einem kleinen Kreis Oppositioneller gelesen würde, die ihre Meinung teilten, so hatte sie sich geirrt. Denn wenige Tage später erschien eine Replik des in Lukjanowas Artikel direkt angegriffenen russischen Verfassungsgerichtspräsidenten Walerij Sorkin in der Regierungszeitung »Rossijskaja Gaseta«. Liberale Juristen und Oppositionelle, die von Sorkin seit langem als Speerspitze gegen die Macht verachtet werden, zeigten sich tief beeindruckt von Lukjanowa.
Bis zu diesem Schlagabtausch hatte die Annexion der Krim in der russischen Rechtswissenschaft kaum intensive fachliche Debatten entfacht. Vielmehr hatten sich die führenden Völkerrechtler Russlands mit Kritik auffallend zurückgehalten. Im Juni 2014 meldeten sie sich jedoch mit einem auch auf Englisch verfassten kollektiven Appell zu Wort, der vom Präsidenten der Russischen Vereinigung für Völkerrecht, Anatolij Kapustin, unterzeichnet wurde (<http://www.ilarb.ru/html/news/2014/5062014.pdf>). Der Aufruf war nach einer gemeinsam mit der russischen Diplomatenakademie veranstalteten Konferenz entstanden und zeugt von der engen Verflechtung der führenden Völkerrechtler mit der russischen Diplomatie. Der Aufruf verfolgt mehrere Argumentationsstränge, die nicht immer juristisch sind, dafür aber mit der offiziellen staatlichen russischen Linie übereinstimmen.
Zum einen wird historisch argumentiert: Die Krim sei »über Jahrhunderte« russisch und der Wechsel der Krim zur Ukraine 1954 nicht rechtsgültig gewesen. Also sei die Krim 1991 durch die Ukraine annektiert worden.
Zum anderen beschreibt das Dokument die ukrainische Regierung als ein durch einen verfassungswidrigen blutigen Putsch an die Macht gelangtes faschistisches Unrechtsregime. Dieses unterdrücke insbesondere durch die Sprachengesetzgebung die »russische« Bevölkerung in der Ukraine und spalte Russen und Ukrainer. Der verfassungswidrige Putsch und die antirussische Politik der Kiewer Regierung berechtige das Volk der Krim aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts zum Referendum und zur Unabhängigkeitserklärung. Als Präzedenzfall wird der Kosovo herangezogen, wo die Loslösung von Serbien sogar ohne Referendum vollzogen wurde. Als zweiter Präzedenzfall dient das Plebiszit in Nord-Schleswig aus dem Jahr 1920 über die Vereinigung mit Dänemark. Dieses zweite Beispiel wurde offensichtlich gewählt, da Russland zunächst eigentlich selbst die Loslösung des Kosovo von Serbien als völkerrechtswidrig zurückgewiesen hatte. Allerdings ist die Argumentation durchaus inkonsistent, denn wäre die Krim tatsächlich aufgrund einer rechtswidrigen Schenkung nie Teil der Ukraine gewesen, käme es nicht mehr auf das Selbstbestimmungsrecht an.
Ungewöhnlich scharf wird in dem Dokument der Westen angegriffen: Die USA und Europa würden die Politik des unrechtmäßigen »Kiewer Regimes« unterstützen. Der Vorwurf, Russland habe das Referendum auf der Krim durch militärischen Druck beeinflusst und unterstütze die Separatisten in der Ostukraine, wird als Lüge des Westens zurückgewiesen.
Die Rechtfertigung mit Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht entspricht der Linie Putins. Der hatte die Annexion der Krim in seiner Rede an die Föderalversammlung vom 18. März 2014 mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker begründet. Er argumentierte, die Rechte der Menschen auf der Krim und in Sewastopol seien nach dem gewaltsamen Putsch in Kiew gefährdet gewesen, daher hätten sie sich an Russland gewandt. Putin verglich die Situation auf der Krim mit der seinerzeitigen im Kosovo. So zitiert er das Kosovo-Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, der 2010 erklärt hatte, dass einseitige Unabhängigkeitserklärungen völkerrechtlich nicht verboten seien.
Völkerrechtliche Verträge, in denen sich Russland verpflichtet, die territoriale Integrität der Ukraine zu achten, etwa das Budapester Memorandum (1994) und das Schwarzmeerflottenstatut (1997), verschweigt Putin ebenso wie den Einsatz russischer Streitkräfte auf der Krim, der zusätzlich einen Verstoß gegen das Gewaltverbot der Vereinten Nationen darstellt.
Zwar gibt es immer wieder junge Juristen, die insbesondere im Internet das Vorgehen Russlands in der Ukraine aus völkerrechtlicher Perspektive kritisch beurteilen, etablierte Juristen hatten sich jedoch mit Kritik weitgehend zurück gehalten.
Lukjanowas Kritik an der russischen Justiz
Während also die führenden Völkerrechtler Russlands kollektiv die russische Politik in der Krim-Frage rechtfertigen, wagt Jelena Lukjanowa nun einen Frontalangriff. Ihr Ziel ist nicht der Präsident Russlands, sondern das Urteil des Verfassungsgerichts vom 19. März 2014, in dem der Vertrag über den Anschluss der Krim geprüft und für verfassungsgemäß erklärt wurde. Geprüft wurden dabei sowohl der Beitrittsvertrag zwischen der Krim und der Russischen Föderation als auch das russische Gesetz über die Aufnahme der Krim.
Der Aufsatz beschränkt sich aber nicht auf juristische Fragen. Vielmehr führt die Autorin einen regelrechten Rundumschlag. Der Kritik am Urteil stellt sie eine allgemeine, sehr deutliche Kritik an der Justiz und den russischen Juristen voran. Lukjanowa kritisiert, dass Begriffe aus der für Russland verbindlichen Europäischen Menschenrechtskonvention in Russland nicht verstanden werden. Auch der aus der westlichen Lehre übernommene Rechtsstaatsbegriff der russischen Verfassung (»prawowoje gosudarstwo«) werde nicht im eigentlichen Sinn begriffen. Lukjanowa fragt sich, wie in Russland überhaupt eine entsprechende Rechtsstaatsdogmatik entstehen kann, wenn der Staat in den Lehrbücher noch immer als »Form der Organisation der Gesellschaft« – und damit als der Gesellschaft gegenüber dominant – definiert wird.
Anhand von zahlreichen Beispielen kritisiert sie die Strukturen in der Justiz, die die Richter in eine Abhängigkeit von der Politik bringen. Die guten Juristen in Russland seien von der staatlichen Rechtsprechung ausgeschlossen. In den letzten zwanzig Jahren seien nur bequeme Rechtsvollstrecker in diese Ämter gewählt worden. Im Ergebnis gebe es in Russland heute zwei Gruppen von Juristen: Auf der einen Seite »Justizbeamte, Richter, Parlamentarier sowie Mitglieder der Wahlkommissionen und Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden«, auf der anderen Seite Rechtsanwälte, Menschenrechtsverteidiger und zum Teil auch unabhängige Wissenschaftler.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Krim
Wenn sich Lukjanowa im zweiten Teil des Aufsatzes dem Urteil des Verfassungsgerichts zur Krim zuwendet, suggeriert sie durch ihre Vorrede, dass der von ihr beschriebene Zustand der Justiz auch für das Verfassungsgericht gilt. Auch hier sieht sie Richter als willige Rechtsvollstrecker, die im Sinne der Politik handeln.
Im Urteil zur Krim macht Lukjanowa acht Rechtsverletzungen aus. Schon die Prüfung des Verfassungsgerichts, ob das Ratifikationsgesetz zum Beitrittsvertrag mit der Krim sowie das Gesetz über die Aufnahme der Krim in Form von zwei neuen Subjekten der Russischen Föderation (die Stadt Sewastopol und die Republik Krim) gegen die Verfassung verstoßen, sei nicht zulässig gewesen. Nach dem Verfassungsgerichtsgesetz prüft das Verfassungsgericht völkerrechtliche Verträge der Russischen Föderation nur auf Antrag eines Staatsorgans, das »Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Vertrages« hat. In diesem Fall wurde die Verfassungsmäßigkeit auf Antrag von Präsident Putin geprüft. Dass dieser Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Beitritts der Krim gehabt hat, sei nicht bekannt. Allerdings muss der Präsident nach Art. 7 Abs. 4 des Gesetzes über die Aufnahme neuer Subjekte dem Verfassungsgericht Aufnahmeverträge zwingend vorlegen. Hier gebe es also eine deutliche Normenkollision, die vom Gesetzgeber bisher nicht in Einklang gebracht worden sei. Für das Verfassungsgericht sei dies kein Problem gewesen. Es sei auf dieses Problem nicht eingegangen, sondern habe einseitig Gründe für die Annahme der Entscheidung dargelegt. Lukjanowa sieht darin einen Beleg, dass das Verfassungsgericht die Entscheidung annehmen wollte, und es daher entgegenstehende Argumente ignoriert habe.
Des Weiteren kritisiert sie, dass vorgeschriebene Verfahrensschritte für das Urteil, etwa die Einholung eines vorläufigen Erstgutachtens, nicht eingehalten wurden, obwohl das Gericht die Möglichkeit gehabt hätte, das Verfahren unter Beachtung aller vom Gesetz vorgegebenen Schritte durchzuführen und das Urteil erst später zu verkünden. Dann wäre allerdings der Vertrag noch nicht in Kraft getreten. Das Gericht begründete das verkürzte Verfahren mehrdeutig mit den »Besonderheiten des Falls.«
Die Hauptkritik betrifft aber zweifelsohne die Weigerung des Verfassungsgerichts, zu prüfen, ob der Vertrag gegen das Völkerecht verstößt. Nach Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts sowie die völkerrechtlichen Verträge Russlands Bestandteil der innerstaatlichen russischen Rechtsordnung. Sie genießen Vorrang vor einfachen russischen Gesetzen. Sie haben also auch Vorrang vor dem Ratifikations- und dem Beitrittsgesetz. Das Verfassungsgericht prüft dies nicht. Rechtfertigend berief es sich auf seine Verpflichtung, nur über Rechtsfragen entscheiden zu dürfen, nicht aber über die politische Zweckmäßigkeit eines internationalen Vertrages.
Weiter argumentiert Lukjanowa, dass die Vertreter der Krim, die den Vertrag unterzeichnet haben, nicht legitimiert gewesen seien, da sie nicht nach den geltenden ukrainischen Gesetzen in ihre Ämter gelangt waren, sondern durch die Unruhen im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung.
Problematisch sei Lukjanowa zufolge überdies, dass der Vertrag bereits vor seiner Ratifizierung vorläufig in Kraft getreten war. Das Verfassungsgericht hatte diese Herangehensweise unter Verweis auf das Völkerrecht gebilligt. Allerdings besagt Art. 65 Abs. 2 der russischen Verfassung, dass ein neues Subjekt nach dem durch das Föderale Verfassungsgesetz festgelegten Verfahren in die Russische Föderation aufgenommen wird. Dieses wiederum bestimmt, dass ein entsprechender Vertrag nicht in Kraft treten kann, wenn das russische Verfassungsgericht erklärt, dass der Vertrag verfassungswidrig sei. Daraus leitet Lukjanowa ab, dass ein entsprechender Vertrag nach russischem Recht erst nach der Prüfung durch das Verfassungsgericht in Kraft treten könne.
Aus Lukjanowas Sicht verstößt die Entscheidung auch gegen das Vorjudikat des Verfassungsgerichts zum militärischen Einsatz in Tschetschenien. Damals hatte das Verfassungsgericht den Schutz der territorialen Integrität als eine der Grundlagen der Verfassungsordnung anerkannt und insofern keinen Raum für die Loslösung eines Subjekts aus dem Staatsverband gesehen. Nach Lukjanowa müsse dies auch für die Ukraine gelten.
Die achte und letzte Rechtsverletzung sieht Lukjanowa darin, dass auch die Stadt Sewastopol Teil des Vertrages und der Aufnahme geworden ist, obwohl die Stadt nicht Teil der autonomen Republik der Krim gewesen war. Sie wurde vielmehr am 19. November 1990 durch ein bilaterales Abkommen zwischen der Ukraine und Russland zu ukrainischem Territorium. Insofern wäre zu fragen gewesen, ob hier die gleichen Regeln gelten wie für die Krim. Auch darauf sei das Verfassungsgericht nicht eingegangen.
Für Lukjanowa ist die Entscheidung über die Krim insofern »ein klassisches Beispiel für die Verletzung von rule of law durch eine Fehlinterpretation von Begriffen und die Manipulation von Verfahren«. Dies macht sie dem Verfassungsgerichtspräsidenten Sorkin persönlich zum Vorwurf. Er habe Russland mit diesem Verhalten an den Rand des Abgrunds geführt. Sie nennt das »Barbarei«.
Bewertung der Argumentation von Lukjanowa
Man muss Lukjanowa nicht in jedem Punkt folgen. Vor allem ist fraglich, ob die Tschetschenien-Entscheidung richtigerweise als Präzedenzfall herangezogen werden kann. Der Schutz der territorialen Integrität durch die russische Verfassung kann nicht einfach auf andere Staaten übertragen werden. Doch hat sie in der Mehrzahl der anderen Punkte recht: So setzte sich das Verfassungsgericht über die Gesetzesforderung hinweg, dass der Antragsteller Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze haben muss. Dies kann nur bedeuten, dass das Gericht durch dieses die Politik bestätigende Urteil zusätzliche Legitimation für das politische Handeln erzeugen wollte. Gerichtliche Entscheidungen sollen offensichtlich dazu dienen, die Argumentation der Politik zu belegen.
Auch die schnelle Entscheidung des Verfassungsgerichts kritisiert Lukjanowa zu recht. Am zwingendsten aber ist ihr Einwand, das Verfassungsgericht habe die Gesetze am Maßstab des Völkerrechts prüfen müssen. Im Mittelpunkt der Krim-Entscheidung stand die Frage, ob der Staatspräsident nach der russischen Verfassung die Befugnis hatte, den Vertrag und das Gesetz zu unterzeichnen. Dabei überging das Verfassungsgericht deutlich Art. 15 Abs. 2 der russischen Verfassung. Danach sind die Organe der Staatsgewalt, und damit auch der Staatspräsident, an die Verfassung und die Gesetze gebunden. Nach der russischen Verfassung sind auch allgemein anerkannte Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die völkerrechtlichen Verträge Bestandteil des russischen Rechtssystems. Die verfassungsmäßige Unterzeichnung hätte also vorausgesetzt, dass die Gesetze über die Krim dem Völkerrecht entsprechen. Hier ist insbesondere relevant, dass Russland die gegenwärtigen Grenzen der Ukraine völkerrechtlich anerkannt hatte.
Die Verletzung des Gewaltverbots hätte einer Anerkennung der Krim als unabhängigem Staat entgegengestanden. Außerdem verlief das Referendum über die Unabhängigkeit auf der Krim nicht frei, fair und friedlich, wie vom Völkerrecht gefordert. Letztlich sind keine Menschenrechtsverletzungen durch den ukrainischen Staat dokumentierbar, die den Einsatz der Streitkräfte rechtfertigen würden. Damit wäre die Aufnahme der Krim nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch verfassungswidrig. Dazu hat das Verfassungsgericht geschwiegen.
Die Antwort von Verfassungsgerichtspräsident Sorkin
Die Antwort des Verfassungsgerichtspräsidenten in der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta unter dem Titel »Das Recht – und nur das Recht« (Nr. 6631, 24.03.2015; <http://www.rg.ru/2015/03/23/zorkin-site.html>) fügt sich in eine Reihe von rechtspolitischen Essays, die er dort seit Jahren in loser Folge veröffentlicht. Sie geben einen guten Einblick in die Gedankenwelt des Mannes an der Spitze des Verfassungsgerichts und erklären oder ergänzen die Urteile des Verfassungsgerichts. So warnt Sorkin regelmäßig vor Chaos und Untergang. Abschreckende Beispiele sind für ihn die Instabilität und wirtschaftliche Not der 1990er Jahre in Russland. Entsprechend wichtig sei der Schutz des Staates, des Garanten für Stabilität. Der starke Staat ist für ihn Voraussetzung für Stabilität und Wohlergehen, er verhindert den bellum omnium contra omnes. Insofern warnt er wiederholt auch die Opposition, den Staat als die Voraussetzung für Freiheit nicht zu schwächen. In diesem Sinne lehnt er auch die farbigen Revolutionen in den postsowjetischen Staaten ab. Auf Kritik am Verfassungsgericht reagiert Sorkin zum Teil sehr persönlich und pathetisch. Für Aufsehen hatte beispielsweise bereits seine Auseinandersetzungen mit der ehemaligen Verfassungsrichterin Tamara Morschtschakowa gesorgt.
Die Antwort an Lukjanowa überrascht gleichwohl aufgrund des besonders scharfen Tones, den Sorkin hier anschlägt. Seine Argumentation ist deutlich konservativer und antiwestlicher als früher. Der gesamte Text ist stark alarmistisch gehalten. Für Sorkin geht es in der Diskussion um nichts weniger als »das Schicksal Russlands«. Er schreibe »keinen politischen, sondern […] einen philosophischen, ja sogar existenzialistischen Aufsatz«. Sein Einwand, er schreibe als »Bürger Russlands« soll die Ausnahmesituation noch unterstreichen. Die Zeit, sich mit Fachdiskussionen unter Juristen aufzuhalten, sei, so Sorkin, vorbei.
Der Artikel konfrontiert den Leser mit einer Reihe an Lukjanowa gerichteter Fragen, die Sorkin direkt oder indirekt selbst beantwortet. Der erste Komplex beschäftigt sich mit der Frage, was die Gesellschaft zusammenhält. Über die Jahrhunderte sei Russland durch ein geistiges Band (duchownyje skrepy) zusammengehalten worden. Der von Sorkin hier verwendete russische Begriff ist ein alter Begriff, der für einen Rechtswissenschaftler ungewöhnlich ist. Er beschreibt die geistigen Grundlagen, oder, einfacher gesagt, den sozialen Kitt, der die Menschen verbindet. Der Begriff war erstmals von Präsident Putin in dessen Ansprache an die Föderalversammlung 2012 in die politische Debatte eingebracht worden. Auch Putin hatte beklagt, dass der Gesellschaft die geistige Bindung fehle. Konkret ging es Putin damals um Barmherzigkeit und Mitgefühl.
Heute verbinde das Recht die Gesellschaft, anstelle von Ideologie oder Orthodoxie, so Sorkin. Das mache das Recht so besonders wichtig. Ohne das Recht bliebe im postideologischen Zeitalter lediglich »das unendliche Chaos, der Abgrund der Asozialität«. Diese Feststellung verbindet er mit einem Vorwurf an die, wie er schreibt »sogenannte aufgeklärte Schicht der Gesellschaft«, zu der er auch Lukjanowa rechnet. Ausgangspunkt ist für Sorkin erneut der Verfassungsbruch Jelzins 1993, mit dem dieser die neue russische Verfassung auf den Weg gebracht hatte. Nachdem keine Einigung über die Rolle von Präsident und Parlament in der neuen russischen Verfassung greifbar war, hatte Jelzin am 21. September 1993 das Dekret Nr. 1400 unterschrieben, mit dem die Verfassungsreform diktiert, das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt wurden. Schon am nächsten Tag erklärte das Verfassungsgericht unter dem bereits damals amtierenden Verfassungsgerichtspräsidenten Sorkin das Dekret für verfassungswidrig. Darauf löste Präsident Jelzin im Oktober 1993 das Verfassungsgericht ebenfalls per Dekret auf. Jelzin warf dem Gericht vor, das Land durch die Einmischung in den politischen Kampf an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht zu haben. Erst zwei Jahre später entstand es neu. Beobachter sehen in dieser Erfahrung Sorkins eine Erklärung für die seither auffallende Zurückhaltung des Gerichts, politische Fragen juristisch zu entscheiden. Auch in dem aktuellen Beitrag beschreibt Sorkin das Dekret Nr. 1400 noch einmal als tiefgreifend rechtswidrig. Daraus macht er nicht nur Jelzin, sondern der nach seiner Auffassung mit dem »geliebten charismatischen Präsidenten« solidarischen »aufgeklärten Schicht« einen Vorwurf. Er beschuldigt sie, durch ihre Solidarität mit Jelzin Russland 1993 verraten und in die Krise gestürzt zu haben, indem sie Demokratie und Gerechtigkeit über das Gesetz gestellt habe. Die Folge seien die problematische Privatisierung, große soziale Härten und blutige Konflikte gewesen. All dies führt er auf das rechtswidrige Dekret Nr. 1400 zurück.
Daraus zieht Sorkin eine Parallele zum Majdan. Ausführlich beschreibt er die angebliche Rechtswidrigkeit des Regierungswechsels und die Gewalt in der Ukraine. Die neue Regierung sei von der ukrainischen Verfassung nicht gedeckt. Wie die gesamte aufgeklärte Schicht Russlands verschließe auch Lukjanowa vor diesen ukrainischen Rechtsverletzungen die Augen.
Noch deutlichere Kritik richtet er an den Westen, der die Rechtsverletzungen in der Ukraine provoziert habe, wie auch damals den Rechtsbruch Jelzins. Er sieht den Majdan als vom Westen unterstützten verfassungswidrigen gewaltsamen Putsch. Russland habe daher zum Schutz der Bürger auf der Krim gehandelt. Sorkin beruft sich hier auf das im Völkerrecht neue Instrument der Schutzverantwortung, der sogenannten responsibility to protect, die die Vereinten Nationen berechtigt, zum Schutz der Menschenrechte einzugreifen, wenn ein Staat seine Bürger nicht schützen kann.
Insofern habe das Verfassungsgericht im Geiste der Verfassung entschieden, als es den ukrainischen Rechtsbruch bestrafte. Kritik am Verfassungsgericht zeugt für Sorkin nicht nur von einer falschen Rechtsauffassung, sondern von geopolitischer Naivität. Darüber hinaus attestiert er Lukjanowa »eine negative Haltung gegenüber der Macht«. Mit dieser Haltung werde sie indes Teil eines geopolitischen Spiels, in dem es darum gehe, Russland zu schwächen. Ihre Rechtsauffassung eine sie mit ihren westlichen Verbündeten und ziele darauf, Russland zu zerstören. Er macht sie quasi zur Volksfeindin.
Sorkin schließt mit einer Warnung. Er erlebe gegenwärtig eine Invasion durch westliche Fehlinformationen, durch postmoderne westliche Propaganda, die er mit den »barbarischen Invasionen« des Deutschen Ordens oder der Armee Napoleons nach Russland gleichsetzt. Dagegen gelte es, das Recht zu schützen.
Bewertung
In seinem Essay setzt sich Sorkin deutlich intensiver mit dem Völkerrecht auseinander als das Verfassungsgericht in der Krim-Entscheidung. Doch auch er wiederholt hier die einschlägigen Rechtfertigungen der russischen Politik und Diplomatie. Auf die vorgeworfenen Verfassungsverstöße geht er nicht ein. Insgesamt argumentieren Lukjanowa und Sorkin auf völlig unterschiedlichen Ebenen. Während Lukjanowa in ihrem Hauptteil rein juristisch argumentiert, bleibt Sorkin weitgehend pathetisch-politisch. Während Lukjanowa detailreich und stringent Verstöße des russischen Verfassungsrechts nachzuweisen sucht, macht Sorkin den Verfassungsbruch im Zusammenhang mit dem Kiewer Regierungswechsel zum zentralen Ereignis. Weil dieser Rechtsbruch zu Chaos und Zerstörung führe, sei das Recht insgesamt in Gefahr. Angesichts der allgemeinen Gefahr für das Recht, sei eine juristische Debatte über Verfassungsverstöße bei Maßnahmen gegen das größere Unrecht selbstzerstörerisch. Seine Argumentation hinsichtlich des Regimewechsels in Kiew bleibt jedoch pauschal. Mit Gegenargumenten setzt er sich nicht auseinander.
Auch wenn sein Einwand hinsichtlich des verfassungswidrigen Handelns von Jelzin richtig bleibt, sind seine Folgerungen daraus krude. Bedrohlich klingt seine Warnung vor dem Westen und der aufgeklärten Schicht in Russland, die er zu einer Art Fünfter Kolonne, zu ausländischen Agenten, zu Unterstützern des Westens erklärt. Sie werden zu Feinden Russlands, zur Gefahr für die Stabilität des russischen Staates und mithin zur Gefahr für das Recht. Dass Oppositionelle von diesem Verfassungsgericht keinen Schutz erwarten können, wird überdeutlich. Der Gerichtspräsident will vielmehr den Staat vor den Oppositionellen schützen. Lukjanowas juristisch argumentiertem Vorwurf, die Verfassungsbrüche des Verfassungsgerichts führten Russland in die Barbarei, setzt Sorkin die barbarische Invasion aus dem Ausland entgegen, die sein Verfassungsgericht aufhalten will, in dem es den Staat stärkt. Da nur das Recht den Staat zusammenhalten kann, dürfe Recht den Staat nicht schwächen.
Fazit
Sorkins Ausführungen entsprechen in der rechtlichen Bewertung dem erwähnten Appell der Völkerrechtler. Beide Dokumente geben den offiziellen russischen Standpunkt wieder. Während es durchaus zahlreiche jüngere russische Juristen gibt, die zum Beispiel im Internet offen Kritik an der offiziellen russischen Rechtsauffassung zur Krim-Frage äußern, bleiben die juristischen Eliten traditionell auf Seiten der Macht. Lukjanowa als profilierteste Kritikerin ist da bisher eine Ausnahme. Insgesamt aber vertreten die rechtswissenschaftlichen Eliten die Argumentation der staatlichen Propaganda und generieren so zusätzliche Legitimation für die Politik. Auch das Urteil des Verfassungsgerichts soll offensichtlich dazu dienen, der staatlichen Politik mit einem bestätigenden Urteil zusätzliche Legitimität zu verschaffen. Der Schlagabtausch zwischen Lukjanowa und Sorkin zeigt aber auch, dass die russische Rechtswissenschaft kein homogener Monolith ist. Wenn der Kreis der Juristen, die offen Kritik an der Rechtmäßigkeit der russischen Außenpolitik üben, auch klein ist, und sich die führenden Vertreter des Fachs schützend vor die Politik stellen, ohne dass eine tiefgehende juristische Debatte geführt würde, so zeigt Lukjanowa, dass es neben den staatsloyalen Juristen eben tatsächlich noch eine zweite Gruppe von Juristen in Russland gibt, die Recht unabhängig von staatlichen Zwängen denken. Für die staatlichen Eliten bleiben sie allerdings Fremde, »Andersdenkende«, Feinde…