Sexismus-Debatte

Ende März ist in den unabhängigen Medien und sozialen Netzwerken eine heftige Debatte zum Thema Diskriminierung von Frauen entbrannt. Auslöser dafür war ein misslungener Tweet der unabhängigen Online-Zeitung »Medusa«, der als Beitrag zu einer neuen Serie der FAQ-Karteikarten zum Thema »Sexismus auf Twitter« gedacht war und Männern Anweisungen erteilt, »wie man Tussis nicht beleidigen soll«. Kurz darauf bat ein Großteil der Autoren, die an der Publikation mitgewirkt hatten, ihre Namen aus dem Text zu streichen. Das Thema hat die liberale Öffentlichkeit in zwei Lager gespalten. Die eine Gruppe, unter denen auch einige Menschenrechtler sind, sehen in der Bezeichnung »Tussi« keine Diskriminierung, finden den Tweet lustig und letztlich solch eine ernsthafte Debatte in Zeiten einer zunehmend repressiven Politik Putins und des Krieges in der Ukraine für nicht angemessen. Die andere Gruppe spricht hingegen von einer Verharmlosung von Sexismus, mit welcher Frauen selbst in aufgeklärten Kreisen Tag für Tag konfrontiert sind. Es meldeten sich unter anderem zu Wort der Blogger und Photograph Ilja Warlamow, die Bloggerin Katja Kermlin, die Feministin Bella Rapoport, der Blogger und IT-Experte Anton Nosik und der Journalist Michail Fischman. In der staatlichen Presse fand die Debatte kaum Beachtung.

Ilja Warlamow: Warum unsere Frauen besser sind

»In letzter Zeit sind die Kämpfer gegen Sexismus aktiver geworden. Ich wollte gerade einen äußerst wichtigen post vorbereiten, warum die Mädels in Russland die schönsten sind. Nun habe ich Angst, ihn zu veröffentlichen. Noch vor einer Woche wäre es ein gewöhnlicher, harmloser Beitrag gewesen. Nun riskiere ich, dass wildgewordene Feministinnen mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen. Andererseits muss jemand das Weiße weiß nennen, das Schwarze schwarz und die maßlosen Sektierer stoppen.

Die Feministinnen werden mir selbstverständlich Sexismus vorwerfen. Macht nichts, das wäre zum Teil gerecht. Ja, ich finde, dass eine Frau eine Frau sein soll, und ein Mann ein Mann. Und ich schäme mich nicht. Es gibt keine Gender-Gleichheit und es kann auch keine geben, und all eure Versuche, die Geschlechter gleich zu machen sind zum Scheitern verurteilt. Ihr versucht, die Natur zu ändern; das wird euch nicht gelingen. Natürlich könnte es, vielleicht in vielen Generationen, euch tatsächlich gelingen, durch geschlechtliche Selektion die Unterschiede zwischen den Geschlechtern so weit es geht zu verwischen, das wird aber nicht zu unseren Lebzeiten passieren. Und es ist gut, dass ich das nicht sehen werde. […]

All dieses Gejammer über Diskriminierung der Geschlechter finde ich völlig an den Haaren herbeigezogen. Ja, es gibt stellenweise Diskriminierung, doch die wird durch natürliche Unterschiede der Geschlechter ausgelöst, und nicht durch die Stereotypen der Männer. Ja, ich will, dass meine Assistentin eine junge Frau ist und der Bodyguard (falls ich nach diesem Beitrag einen brauche) ein Mann.

Wenn Sie durch die Länder des siegreichen Feminismus, durch Europa oder die USA reisen, dann haben Sie bestimmt gemerkt, dass dort mit den Frauen etwas nicht in Ordnung ist. Sie sind dort unattraktiv. Woran liegt das? Sie sind durch 50 Jahre […] Feminismus, der im Westen schon besonders hässliche Formen angenommen hat, dahin gebracht worden,. Als Ergebnis schämt sich die Frau eine Frau zu sein. ›Wenn der Mann haarig ist und stinkt, warum kann ich das nicht auch? Warum darf ich mich nicht anziehen, wie es gerade kommt und im Stehen pinkeln?‹, denkt die europäische Frau. Sie hören auf, auf sich zu achten, übernehmen männliche Verhaltensformen und verlieren schließlich dadurch ihre Anziehungskraft. Sie scheuen sich, sich wie eine Frau zu kleiden, sie schämen sich für ihre Schwächen, es nervt sie, wenn Männer versuchen, um sie zu werben. In den USA hat das richtig ungesunde Formen angenommen: das sog. ›Sexual Harassment‹, wenn also jede Handlung des Mannes als Geschlechter-Diskriminierung eingestuft werden kann. Die abgehetzten Männer sind dazu gezwungen, dieses Produkt des Feminismus zu konsumieren und können ihm nicht entgehen.

Zum Glück hält sich unsere Gesellschaft noch. Unsere Frauen schämen sich nicht, Frau zu sein und das ist wunderbar. Sie können schwach und kapriziös sein, man kann im Café für sie bezahlen, ihnen die Tür öffnen, [im Original durchgestrichen: ›sie nach Hause schicken, um Borschtsch zu kochen und Kinder zu gebären‹]. Und niemand wird Dich dafür verurteilen. Deswegen sind unsere Frauen besser. […]«

Ilja Warlamow auf Livejournal, 25.03.2015 <http://zyalt.livejournal.com/1307622.html>

Katja Kermlin: Russland braucht kaum Feminismus

»[…] Wenn ich meinen ausländischen Freunden erzähle, wie schlecht es bei uns um die grundlegenden Menschenrechten bestellt ist, füge ich unbedingt hinzu: mit Ausnahme der Frauenrechte. Mit den Frauenrechten ist in Russland alles in Ordnung. Hier heben sich dann die Augenbrauen der Gesprächspartner, sie sperren den Mund auf und stürzen sich auf mich, um mir zu beweisen, dass die Gender-Diskriminierung das größte Problem Russlands sei. Ich lächle […] und bestehe weiterhin darauf: So sehr braucht Russland den Feminismus nun auch wieder nicht.

Im Westen war das eine völlig andere Geschichte. Bei uns bekamen die Frauen so viele Rechte, wie sie nur mitnehmen konnten. Möchtest du studieren? – Welcome! Arbeiten? – Leg los, meine Liebe, mit jeglicher, schwerster und widerlichster Arbeit. Kämpfen? – Hier ist die MP. Du willst Familienoberhaupt werden, versteht sich, wer sonst könnte das werden. Zieh dich an, wie du möchtest – in den Läden gibt es zwar überhaupt nichts, aber die Länge des Rockes und die Tiefe des Ausschnitts regen niemanden auf. Nein, ich lüge, sie regen die Omas vor deinem Haus auf, die sind aber – trara! – auch keine Männer. Abtreibung? Ach und weh, aber du hast ein Recht darauf.

In einigen der nationalen Republiken ist die Lage nicht so prickelnd, weswegen ich bereit bin anzuerkennen, dass der Kampf für Frauenrechte beispielsweise in Tschetschenien und Dagestan sehr sinnvoll ist. In Saratow aber, ist es dort einer Frau untersagt, ohne Begleitung auf den Markt zu gehen? […]

Bei uns ist mit den [Frauen]Rechten alles in Ordnung. Es hat im Geschäftsleben nie Gender-Diskriminierung gegeben, von Anfang an, bis die besten westlichen Unternehmenspraktiken zu uns herüberschwappten, mit ihrem diversity, women’s clubs, girls get it first. Was ist eigentlich gender diversity? Das ist, wenn der Mann keinen Job kriegt, weil es heißt: ›Sorry, wir haben schon zu viele Männer‹.

Einmal hat man mir in einem großen internationalen Unternehmen empfohlen, dem Women’s club beizutreten, worauf ich antwortete, dass das der abscheulichste Vorschlag ist, der mir je in meiner Karriere untergekommen ist. Die Zuhörer waren schockiert. Ich erklärte, dass ich keine Sonderbedingungen brauche, um den Männern Konkurrenz zu machen. Und dass gerade die Verkündung solcher Bedingungen die kränkendste Diskriminierungsform ist, gegen die ich offen kämpfen will. Dass ich in diversen russischen Unternehmen gearbeitet und in einer männlichen Bauarbeiter-Genossenschaft mit äußerst hohem Härtegrad angefangen habe. Und dass ich nirgendwo und noch nie mit einer derart entwürdigenden Unternehmens-Prozedur konfrontiert worden bin, nur weil ich eine Frau bin […]

Fast hätte ich mein Lieblingswort des letzten Jahres vergessen: Objektivierung. Objektivierung bedeutet, wenn eine Frau Regisseurin, Schriftstellerin, Sängerin, Philosophin, Produzentin oder Medienmanagerin ist, aber ausschließlich als Sexobjekt wahrgenommen wird. Das passiert insbesondere dann, wenn die Frau wie eine Göttin aussieht, ihre Filme aber niemand gesehen hat, ihre Texte scheiße sind, oder sie unter Philosophie prätentiösen Quatsch versteht, den sie aus einigen Büchern zusammengestellt hat. Selbst wenn die Frau eine geniale Neurochirurgin ist, kann sie und hat das volle Recht, sexuelle Wünsche zu wecken.

[…] Lasst uns also nicht schon an einem Punkt beleidigt sein, wo es keinerlei Absicht gab. Unser Geschlecht ist eine aufregende Eigenschaft. Bei dem Versuch, sich zu wehren, sollte man es nicht blindwütig aus der Persönlichkeit rausstreichen. Insbesondere dann nicht, wenn gerade gar keiner angreift.«

Katja Kermlin auf Facebook, 10.03.2015 <https://www.facebook.com/photo.php?fbid=1571118536469527>

Bella Rapoport: Der gewöhnliche Sexismus

»[…] Journalisten, Blogger, SMM-Leute [Social Media Marketing] verstehen wahrscheinlich, dass ihr Leserkreis ungefähr zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen besteht. Sie sprechen aber nur die erste Gruppe direkt an und weisen der zweiten die Rolle schweigender Beobachter zu, wenn sie über Frauen in der dritten Person sprechen, vorschlagen, Frauen als Objekt der Betrachtung und Bewunderung wahrzunehmen, negative Stereotype über Frauen verbreiten oder Anreden wie ›Muschiki‹ (›Jungs‹) verwenden. Frauen werden selbst oft zum Sprachrohr eines allseits gewohnten und bequemen Ansatzes. So beispielsweise die populäre Bloggerin Katja Kermlin, die sich anscheinend für Menschenrechte einsetzt, und die in einem unheimlich populär gewordenen Beitrag darüber, dass es bei uns um die Menschenrechte schlecht bestellt, mit den Frauenrechten aber alles derart in Ordnung sei, dass man von der Süße der weiblichen Existenz geradezu Diabetes bekommen kann. […]

Statt die Anstrengungen auf Reflexion und die Entwicklung von Empathie zu richten, versuchen die Anhänger der Wahrung von Menschenrechten und liberalen Werten den Frauen, die etwas als beleidigend empfinden, einzureden, dass sie mit Konstrukten in ihren Köpfen sprechen würden und keinen Sinn für Humor hätten. Vertreter progressiver Medien behandeln Versuche, Sexismus in eine Reihe mit Phänomenen wie Rassismus oder Antisemitismus zu rücken, mit Ironie. Und das in einer Welt, in der nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation jede dritte Frau physischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt ist. In der Welt, nicht nur in Saudi-Arabien. Überall.

Sexismus erscheint nicht deshalb kein so ernsthaftes Problem zu sein wie andere Diskriminierungsformen, weil es kein ernstes Problem wäre, sondern, weil alle Sphären Bereiche, Schichten und Informationsräume derart von ihm durchdrungen sind, dass alle, einschließlich derjenigen, die unter Sexismus leiden, diesen für die Regel halten. Er wird durch viele, selbst durch die fortschrittlichsten Medien ohne jede Absicht transportiert – und aus reiner Gewohnheit wiedergegeben. Er wird von Angehörigen jener Milieus transportiert, in denen eine ähnliche Rhetorik in Bezug auf andere (wegen ihrer Rasse oder Nationalität) diskriminierte Gruppen als jenseits des Anständigen sowie als marginalen Medien und deren Publikum vorbehalten gilt.

Das Problem verdient eine ernsthaftere und intensivere Diskussion, als ein Gespräch darüber, wer wem in den Mantel hilft. Die fehlende Stimme der Frauen ist zugleich Folge und Grund ihrer Enthumanisierung, die in leichter Form durch Wörtern wie ›tjolka‹ [›Tussi‹; S.M. (bzw. wörtlich ›weibliches Kalb, Jungkuh‹, d. Red.)] und in schwerer Form durch massenhafte Gewalt ihren Ausdruck findet. Wenn anerkannt wird, dass Sexismus Diskriminierung ist, müsste man sich bewusst, aufmerksam und schmerzhaft an seine Ausrottung machen. Es hat jedoch niemand Lust, sich damit zu befassen.«

Bella Rapoport auf <colta.ru>, 24.03.2015 <http://www.colta.ru/articles/media/6755>

Anton Nosik: Kreuzzug gegen den Sexismus

»Die in ihrer Dummheit frappierende feministische Attacke in der gestrigen Colta amüsierte durch die Bekräftigung einer frischen und funkensprühenden Analogie. In einer Frau eine Frau zu sehen, so stellt es sich heraus, das ist das Gleiche wie Antisemitismus. Über eine Frau laut zu sagen, dass du in ihr eine Frau siehst, bedeutet so viel wie Holocaust. […]

In Wirklichkeit geht es bei dieser Geschichte überhaupt nicht um Gender, Feminismus, weibliche Hysterie und jedes Maß überschreitende politische Korrektheit. Es ist lediglich eine anschauliche Illustration einer Wahrheit, die viele nicht sehen und nicht begreifen wollen. Totalitarismus wird nicht vom Mars auf die Erde geholt und nicht in den Laborröhrchen irgendeiner einer beliebigen Fabrik, nennen wir sie mal ›Uralwagonsawod‹, gezüchtet. Totalitäres Denken steckt in jedem von uns irgendwo im Hinterkopf. Bei jedem Individuum (nicht nur in der Herde) ist ein latentes Bedürfnis vorhanden zu entlarven, zu geißeln, zu brandmarken, ›die Bösen‹ und Feinde der Menschheit ans Tageslicht zu zerren. Als Knüppel taugt hier irgendeine völlig beliebige Ideologie, eine religiöse, politische, nationalistische. Der Feminismus ist für diese Bedürfnisse genau so gut geeignet und ein Instrument für diese Zwecke wie der Islam oder der Eurasismus.

Das Bild wird immer nach dem gleichen Muster gemalt. Es gibt eine Menge von Gerechten (Frauen, Rechtgläubige, wahre Arier/Eurasier). Es gibt eine äußerst mächtige böse Kraft, die sie zu verderben, zertreten, zu erniedrigen und zu beleidigen versucht (Sexisten, Gotteslästerer, Juden/Atlantiker). Proofs werden leicht und locker aufgepumpt: Tolokonnikowa [eine Aktivistin von Pussy Riot] ist Sexistin, die getöteten, französischen Karikaturisten bedrohen die Muslime von Grosnyj, die Rothschilds und Chodorkowskijs sammeln für einen Kreuzzug gegen die Heilige Putinsche Rus vor. Und schon tanzt der Kongress.

Die Sache mit der Kolumne bei Colta ist einfach ein in hohem Maße chemisch reines Laborexperiment: wie aus dem ganz harmlosen Menschenrechtsthema vom Schutz der Frauen vor Alltagsgewalt […] ein case für diabolische Intoleranz konstruiert wird. Aufgebaut wird er nach denselben Mustern, nach denen Hitler seinerzeit den Genozid an den Sudetendeutschen und 66 Jahre später der Sender ›Rossija‹ eine tödliche Bedrohung der Krimtataren durch Schläger des ›Rechten Sektors‹ erfunden haben. Weil der Mechanismus zur Schaffung von Intoleranz immer gleich ist. Ganz wie die Hirnteile, die solch eine Predigt anregen soll.

Das ist keine Story über Feminismus, Dugin, Hitler, politische Korrektheit oder ›Tolerastie‹. Das ist eine Geschichte über archaisches Bewusstsein, das unbedingt auf ein ›Feindbild‹ angewiesen ist und eine ›Green Card‹ fürs 21. Jahrhundert sucht. Und sie mit einfachen Manipulationen stets findet«.

Anton Nosik auf Livejournal, 25.03.2015; <http://dolboeb.livejournal.com/2791306.html>

Michail Fischman: Medusagate. »Wie der Sexismus in Russland funktioniert«

»In der Diskussion über Sexismus, die von den Ufern der antisexistischen Karteikarten der ›Medusa‹ ausging, gibt es offensichtliche und weniger offensichtliche Dinge. Selbst die offensichtlichen Dinge brechen in auf den ersten Blick erstaunlicher Weise den gewohnten Meinungskonsens unter denjeningen russischen Bürgern auf, die sich für fortschrittlich und modern halten. Die einen beharren darauf, dass über ›Tussis‹ zu twittern grundsätzlich lustig ist. Die anderen, unter denen auch bekannte Feministinnen zu finden sind, stimmen ihnen sogar zu, zumindest in dem Sinne, dass der langwierige Kampf gegen Sexismus aus wichtigeren Schlachten besteht, und dass es sich nicht lohnt, Zeit und Kraft für solch einen Quatsch verschwenden.

Das unmittelbare Gespräch über ›Tussis‹ – Darf man oder darf man nicht? Ist es peinlich oder nicht? – ist natürlich an sich wichtig, weil es zeigt, dass es in Bezug auf Sexismus keine festen Regeln gibt und sogar dem fortschrittlichen gesellschaftlichen Bewusstsein nicht ganz klar ist, worum es geht. In Bezug auf Antisemitismus, Rassismus, Homophobie ist es offensichtlich, warum man dagegen kämpfen muss; in Bezug auf Genderdiskriminierung ist aber nicht einmal ganz klar, was das in der Realität bedeutet.

Von ›Medusa‹ beispielsweise brauchen Sie keinen Scherz über die Hautfarbe von Barak Obama erwarten. Das ist das Vorrecht von deren Nachfolger bei ›lenta.ru‹ [Viele Mitarbeiter von Medusa hatten früher, bei lenta.ru gearbeitet; d. Red.] (sowie von einiger Abgeordneten, Gouverneuren der annektierter Gebiete und beinahe der gesamten ›auflagenstarken‹ Presse). Der Leserschaft von ›Medusa‹ ist äußerst wichtig, dass dort keine solchen Scherze zu erwarten sind und ›Medusa‹ weiß darum; das ist ihr ›selling point‹, wie man im Marketing sagt. Eben hierdurch definieren sich sowohl das Medium, als auch seine Leserschaft und der Autor dieser Zeilen unter anderem als aufgeklärter, fortschrittliche Teil der Gesellschaft, der sich dem zunehmenden Fundamentalismus und die allgemeine Barbarei entgegenstellt. Der Kampf gegen Sexismus – und das ist absolut klar – gehört noch immer nicht zur Liste der Qualitätsmerkmale eines anständigen Menschen, weil das Verständnis für diesen Begriff offensichtlich nicht da ist. […]

Es ist wichtig zu verstehen, dass der Kampf gegen die Genderdiskriminierung keineswegs eine Ansammlung von genau vorgeschriebenen Regeln und von oben herabdiffundierten Wörtern ist, die plötzlich nicht mehr laut gesagt werden dürfen. Es ist ein kompliziertes und bewegliches System sozialer Selbstzensur, das nicht einfach so, um seiner selbst willen existiert, sondern mit einem bestimmten gesellschaftlichen Ziel, nämlich Frauen Sicherheit zu geben, indem gegen Aggression und Gewalt vorgegangen wird. […]

Politische Korrektheit erwächst aus dem Verständnis, dass es zwischen sexistischen Scherzen, dem ›Harassment‹ auf der Straße und der Zahl der Vergewaltigungen und Morde letztlich ein direkter Zusammenhang besteht – ein Zusammenhang, den wir nicht deshalb nicht spüren, weil es ihn in Russland nicht gibt, sondern weil unsere Gesellschaft zerrissen und zudem noch vom Staat unterdrückt ist. Als ob die Männer nicht nebenan trinken und ihre Frauen und Kinder verprügeln, sondern in irgendeiner anderen Realität, die im Wesentlichen aus den (übrigens sehr erschreckenden) Daten von Rosstat [der russischen Behörde für Statistik]; d. Red.] besteht. Wir sind von vornherein überzeugt, dass es leider im Prinzip nicht möglich ist, diesem parallelen Russland zu helfen, und durch das Aufhören mit Witzen über Tussis und Blondinen schon gar nicht. […]

Das bedeutet aber keineswegs, dass Fortschritt nicht möglich ist. Und umso wichtiger und nützlicher ist die nun endlich erfolgte Diskussion über ›Tussis‹. Politische Korrektheit, die auf erlebten und reflektierten Fällen aufbaut, ist deutlich nachhaltiger und stabiler. Vor kurzem haben wir gesehen, welche Wirkung Präzedenzfälle haben. Hier ein Beispiel: vor zwei Jahren hat der Staat eine homophobe Kampagne unternommen und ist auf eine Reaktion gestoßen. Es gab Debatten, die berühmte Ausgabe von ›Afischa‹ mit den Coming-Outs erschien, was zur Folge hatte, dass sich die Grenzen der Toleranz gegenüber Schwulen in den fortschrittlichen Teilen der Öffentlichkeit merklich geweitet haben, und das dank des Widerstandes als Reaktion auf den unerträglichen homophoben Trend, der von oben angesagt wurde.

Jetzt wird sich etwas Ähnliches wiederholen. Wir werden sehr bald sehen: diejenigen, die Scherze über ›Tussis‹ harmlos und einfach nur lustig finden, werden unter unseren Facebook-Freunden weniger werden. Da braucht man nicht einmal mehr neue Karteikarten.«

Michail Fischman auf <slon.ru>, 26.03.2015 <https://slon.ru/posts/49724>


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