Der Tag des Sieges – National- oder Volksfeiertag?

Am 9. Mai wurde in Russland im großen Stil der 70. Jahrestag des Sieges begangen. Im Jubiläumsjahr sollten die offiziellen Veranstaltungen auf höchstem Niveau ausgerichtet werden. Zur traditionellen Militärparade am Roten Platz wurden 68 Staatschefs eingeladen. Anders als 2005 und 2010 sind in diesem Jahr Deutschland und die meisten westlichen Länder der Einladung gefolgt und sind angesichts der russisch-ukrainischen Krise der Gedenkfeier in Moskau ferngeblieben. Hauptteilnehmer und wichtigster Adressat sollte aber die Bevölkerung Russlands werden. Seit Jahren versucht der Kreml den 9. Mai, der an Bedeutung zu verlieren schien, als einen gesamtnationalen Feiertag zu etablieren, der zur Geschlossenheit im Volk beitragen soll. So wurde bei den Vorbereitungen zum 70. Jahrestag des Sieges großer Wert auf Öffentlichkeitsarbeit und mediale Darstellung der Feiern gelegt. Der russischen Medienagentur RBK zufolge wurde mehr als ein Drittel des Gesamtbudgets, das 2015 ganze 7 Milliarden Rubel (rund 120 Millionen Euro) betrug, für PR-Arbeit, Fernsehübertragungen, Internet-Medien und Online-Archive ausgegeben.

Ein Novum bei den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges in Moskau stellte der Massenaufzug eines »Unsterblichen Regiments« dar, an dem neben Präsident Putin Hunderttausende Demonstranten mit den Bildern ihrer Verwandten teilnahmen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten oder gefallen waren. Der Aufzug hatte erstmals am 9. Mai 2012 in Tomsk nach einem Aufruf des unabhängigen Fernsehsenders TV-2 stattgefunden. In den Jahren 2013 und 2014 schlossen sich bereits über hundert Städte in Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken dieser Initiative an. Im Jahr 2015 übernahm der Staat offiziell die Organisation des Aufzuges in Moskau und den Regionen. Trotz der Gerüchte, dass einige Teilnehmer in diesem Jahr sich im Auftrag staatlicher Behörden oder gegen Geld an dem Gedenkmarsch beteiligten, waren das Ausmaß und die geographische Verbreitung der Aktion beeindruckend. Vor dem Hintergrund der gelungenen Gedenkveranstaltung wird in den Blogs über die Bedeutung des 9. Mai für Russland diskutiert. Der kremlnahe Journalist Michail Budaragin äußert sich begeistert über das Entstehen eines gesamtnationalen Feiertages. Der Nationalpatriot Dmitrij Olschanskij argumentiert, dass der 9. Mai sich in Russland allmählich in Richtung der Nationalfeiertage in den USA und Frankreich wandeln solle. Auch der Mitarbeiter des Moskauer Carnegie-Zentrums Alexej Malaschenko plädiert für die Etablierung eines Nationalfeiertages am 9. Mai, fragt sich aber, ob sich dieser auf Dauer halten werde. Der stellvertretende Chefredakteur der Tageszeitung »Moskowskij Komsomolez« Ajder Mushdabajew kritisiert hingegen Stimmen, die sich begeistert zu einer Gedenkveranstaltung äußerten, die von einem Unrechtsstaat organisiert wurde. Der Historiker und Publizist Sergej Medwedew (nicht zu verwechseln mit dem Autor dieser Zeilen) spricht von einem lediglich imitierten Feiertag.

Budaragin: »Wir haben einen Nationalfeiertag«

»[…] Der Tag des Sieges war immer schon ein besonderer. Sogar in den Neunzigern, als die Hälfte des Landes Buße tat, gelang es, die Erinnerung daran zu bewahren. Im Land der fliegenden Händler und zu Helden gewordenen Banditen war das schwer. Nicht einfach war es auch in den 2000er Jahren, als ein gesättigtes, Konsumentenfett ansetzendes Russland sich zum 9. Mai verhielt wie zu einem Dinner im Fünfsternehotel.

Diesmal aber war alles anders.

Die Loyalisten, Etatisten, Wächter – wie auch immer man sie nennen mag – haben einen unangenehmen Charakterzug: Sie (wir, wir, was für ein ›sie‹ kann es da geben) verfallen oft am falschen Ort und zur falschen Zeit in administrative Begeisterung, die selbst die beste Sache verdirbt. Der 9. Mai war lange das Opfer dieses, unseres Mangels, weswegen die Auseinandersetzungen immer so heftig waren, weswegen es so schmerzlich und kränkend war, wenn sich herausstellte, dass der Feiertag – der gute und wahrhafte Feiertag – durch unser Ereifern zunichte gemacht wurde: alle müssen bekämpft, alle von allem überzeugt werden, es muss etwas laut tönendes herausgepresst werden …und das ohne Pause, bis zur Heiserkeit.

Wie sich herausstellte, kann man auch das überwinden.

Am 9. Mai 2015 nahmen Hunderttausende die Portraits ihrer Angehörigen, die gekämpft haben, gefallen sind, verschollen sind, überlebt haben, ein hohes Alter erreicht haben, in die Hände und gingen mit ihnen auf die Straße. Und sie gingen ruhig, mit Freude und Würde, wobei sie all denjenigen, die nicht in den Reihen der Sieger stehen konnten, die Möglichkeit gaben, symbolisch, auf selbst gebastelten Plakaten gen Himmel aufzusteigen.

Es gab Fotos und Zeichnungen, einfach, so schien es, Aufnahmen auf Karton geklebt. Aber eine halbe Million Fotos sorgten für eine unglaubliche Verwandlung von uns allen: Es schien, als ob wir alle zusammen sind, wir Lebenden, wir Echten, und wir können in den Medien (ich bin sehr froh, dass die Zeitung ›Wsgljad‹ schon am 8. Mai alle ihre Kolumnen über jene publizierte, die im Krieg gekämpft haben), in den Blogs, im Gespräch es uns erlauben, uns einfach an unsere Großväter zu erinnern, ohne selbst gegen irgendwen um etwas kämpfen zu müssen.

Einfach so…[…]

Ein Volksfeiertag wurde zu einem Nationalfeiertag. Die Leute kamen zusammen, sahen einander an, erinnerten sich an jeden mit Namen, und es stellte sich heraus, wir gehören zusammen, wir leben hier, wir haben hier viel zu tun, ein gemeinsames Gedächtnis, einen von Herzen kommender Stolz, eine große Geschichte und ein persönliches Foto eines Helden.

Dagegen ist kein Kraut gewachsen.

Ich beobachte aufmerksam diejenigen, die aufgrund ihrer Dienstpflicht oder dem Rufe des Herzens folgend in den sozialen Netzwerken herzerweichend lamentieren: Zu jedem 9. Mai hatten sie einen wer weiß wo in Flammen geratenen ›Buk‹ [das Flugabwehrraketensystem, das während der Militärparaden in mehreren Städten präsentiert wurde; S.M.]; und diese Meldung wurde dann ausgeschlachtet. Vor dem Hintergrund der allgemeinen ruhigen Feierlichkeiten sah das ziemlich ärmlich aus.

Im Übrigen gab es das traditionelle Grummeln: ›Sie haben Eure [St. Georgs]-Bändchen angehängt, sich mit Bändchen behängt, waren betrunken, sie haben nicht gekämpft, Putin hat [das alles für sich] ›privatisiert‹, sie haben Leichenberge geschaffen, die deutschen Frauen vergewaltigt, Stalin hat Kinder gegessen‹. Diese Leier hören wir pausenlos schon seit 10 Jahren. Wen kann sie heute noch ernsthaft berühren? […]

Lasst uns doch so weitermachen, oder? Wollen wir nicht aufhören, uns immer wieder umzudrehen, nach dem Motto: ›Und wie ist es im Westen‹? Wen kümmert es denn am Tag des Sieges, ob Obama und Merkel gekommen sind? […]

Und lasst uns auf Folgendes verzichten: ›Es gibt das Land‹, aber ›wir stehen hier separat, an der Seite‹. Am 9. Mai war es doch ganz deutlich zu sehen: Wir sind das Land. Wir haben nun sogar Feiertage, wie es sich gehört: Der eine ist ein Volksfeiertag – Silvester/Neujahr, der andere ein Nationalfeiertag – der Tag des Sieges. Und beide sind ohne Pathos, sind unsere Feiertage, und man kann sie uns nun nicht mehr nehmen.«

Michail Budaragin in »Wsgljad«, 10.05.2015 <http://vz.ru/columns/2015/5/10/744550.html>

Medwedew: Das Fest ohne Tränen in den Augen: Was mit dem Tag des Sieges passiert ist

»[…] Die Haupteigenschaft der Putin-Ära besteht nicht einmal so sehr in der Machtvertikale, in Repression, Korruption und orthodoxer Renaissance; sie besteht in der Imitation aller Institutionen, der Geschichte, der Erinnerung, der Staatsmacht selbst, sie besteht im Sieg einer symbolischen Ordnung über die Realität und den Menschen. Der 9. Mai ist ebenfalls dieser gigantischen Fälschung zum Opfer gefallen. Auf den Straßen laufen gefälschte Veteranen mit selbstgemachten Orden. Viele von ihnen sind eigentlich keine Kriegsveteranen, sondern Veteranen der KPdSU oder des NKWD/KGB. Das Durchschnittsalter der Veteranen, die zu den Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag des Sieges nach Moskau geladen wurden, beträgt 73 Jahre. Von den Plakatwänden schauen gefälschte Plakate herab, wo Designer, die per Anzeigen gefunden wurden (die ›Aneignung‹ öffentlicher Gelder, die für patriotische Werbung bestimmt waren, ist ein eigenes Thema), Parolen zum Tag des Sieges illustrieren, mit Bildern aus zahlreichen Foto-Datenbanken, mit Bildern von amerikanischen Soldaten, israelischen Panzern oder gar Piloten der [deutschen] Luftwaffe. Im Fernsehen werden kolorierte Fassungen der sowjetischen Filme ›Nur die Alten ziehen ins Gefecht‹ und ›17 Augenblicke des Frühlings‹ gezeigt, in den Kinos laufen ›Stalingrad‹ auf Zelluloid und der trashige Streifen ›Die Sonne, die uns täuschte 2‹ […]. Der Fleischwolf der Putinschen Postmoderne hat den 9. Mai zermahlen und trostloses Hackfleisch produziert. Selbst das Hauptsymbol des Sieges, das St. Georgs-Bändchen, ist zum universellen Markenzeichen geworden, es wird angeklebt, wo es gerade passt, auf Badelatschen und Unterhosen, auf Wodkaflaschen und deutsches Bier. Das St. Georgs-Band ist heute irgendwie zur Weihnachtsdekoration geworden, mit der im Dezember alles vollgehängt wird, weil die Seele ein Fest will.

Jetzt wollen die Menschen auch ein Fest, bekommen aber letztendlich einen Schnuller. Der Erinnerungsort wird zum Ort des Vergessens, und das ist wahrscheinlich das härteste aller Urteile für das derzeitige Regime, das nur Simulacra produziert, der souveränen Demokratie, der Modernisierung, des Imperiums und nun eben ein Simulacrum des Sieges. Man wollte Geschichtspolitik und den Reichsmythos, bekam aber Kitsch und Pop, ›Danke dem Großvater‹ auf der Heckscheibe und ›Die Veteranen des Donbass‹ auf der Mattscheibe. […]«

Sergej Medwedew auf forbes.ru, 08.05.2015 <http://www.forbes.ru/mneniya-column/tsennosti/28806 9-prazdnik-bez-slez-na-glazakh-chto-sluchilos-s-dnem-pobedy>

Olschanskij: Ich erinnere mich an das, was ohne mich war

»Im Netz gab es gestern die zu erwartenden Schändlichkeiten darüber, dass sich das derzeitige Volk mit dem Bändchen einen fremden Feiertag ›angeeignet‹ hat.

Die Veteranen, ja; die Toten auch. Diese Lebenden, Russen, Jungen – nein, das brauchen wir nicht.

Jede nationale Kultur enthält auch Elemente der ›Aneignung‹.

Den amerikanischen 4. Juli, zu dessen Analogon unser Tag des Sieges nun wohl wird, feiern auch nicht gerade dieselben Menschen, die zusammen mit den ›Großvätern‹ Washington und Jefferson gegen die Engländer gekämpft haben.

Es wird aber gefeiert, fröhlich, ausgelassen und ohne jede Hemmung.

Genauso feiern am 14. Juli in Frankreich wohl kaum die echten Teilnehmer des Sturmes auf die Bastille; und man denkt sogar, so fürchterlich das auch sein mag, kaum darüber nach, ob man damals die Bastille überhaupt hätte stürmen sollen.

Ihnen reicht vollauf die Tatsache, dass sie zusammen sind, dass sie Franzosen sind, und dass sie einen allgemeinen französischen Feiertag haben. […]

Alles Schöne und Wichtige auf der Welt, auch eine Nation, eine Kultur, ein Symbol, funktionieren nur dann, wenn Sie etwas, was nicht mit Ihnen selbst, sondern zeitlich und örtlich weit von ihnen entfernt geschah, als etwas eigenes, anverwandtes erleben.

Auf diesen Vorstellungen, aber zugleich auch auf dem wahren Erleben ›beruht eben alles‹. […]«

Dmitri Olschanski auf Facebook, 10.05.2015 <https://www.facebook.com/spandaryan/posts/936608519693300>

Malaschenko: »Feiertag für immer?«

»Wie hat sich unsere Gesellschaft nach einem gesamtnationalen Feiertag gesehnt! Nun erhalten wir ihn anscheinend. Es schien, als ob die theatralisierte, schwerfällige Parade und schließlich das Feuerwerk gestern zu dessen Höhepunkt werden würden. Es kam jedoch anders: Zum Hauptereignis wurde der Aufzug einer halben Million Menschen in Moskau, das ›Unsterbliche Regiment‹. Das ›Regiment‹ hat dem Tag des Sieges das Intime zurückgegeben. Es hat ihn wieder zum Familienfeiertag gemacht (der er früher war), aber auch zu einem Staats-Familienfeiertag. Zuerst war es in Tomsk (man möge mir verzeihen, falls ich mich irre), wo man die Idee hatte, mit Portraits von Verwandten in den Händen zu marschieren. Die Person, die auf die Idee dieser einfachen menschlichen Geste kam, ist ein großer, naturbegabter Polit-Technologe. Es kann natürlich durchaus sein, dass mehrere Menschen eine solche Idee hatten.

Es gab Portraits, es gab den Stolz auf die Verwandten, es gab ›Freude mit Tränen in den Augen‹ – diese Worte verlassen einen nicht. Was es aber nicht gab, das waren Stalin und die Sowjetmacht. Dafür war der Präsident da, der, wie es das Fernsehen sehr professionell gezeigt hat, mit dem Volk ging und wie ein einfacher Teilnehmer des Aufzuges aussah, das heißt, als einer von uns (selbst die unvermeidliche Bewachung war nicht allzu auffällig). Ich würde mich nicht wundern, wenn die Umfragewerte des Präsidenten in jenem Moment 100 % erreicht haben sollten. Ja, das war Populismus, aber ein aufrichtiger Populismus.

Und noch etwas: Eine halbe Million auf den Straßen Moskaus ist eine ernstzunehmende Botschaft an die Opponenten Putins: Sein Regime ist tatsächlich gefestigt, offenbar nicht nur an den Feiertagen. […]

Putin ist es also gelungen, den 9. Mai in einen Nationalfeiertag umzuwandeln. Doch wie wird der im nächsten Jahr, ohne rundes Jubiläum aussehen? Wie lange wird der Sieg in einem Krieg, der immer weiter in die Geschichte rückt, den nationalen Feiertag tragen können? Wir werden es sehen. Noch aber haben wir keinen anderen gesamtnationalen Feiertag, und es ist auch keiner in Sicht.«

Alexej Malaschenko auf Echo Moskwy, 10.05.2015 <http://echo.msk.ru/blog/malashenko/1545924-echo/>

Muschdabajew: Genau auf diese Weise wird Sklaverei konserviert

»Wie einfach haben sie es doch mit uns. Die Methode ist simpel: Dem reflektierenden Menschen wird eine Atmosphäre derart auswegloser Hölle geschaffen, dass es reicht, plötzlich etwas Anständiges zu organisieren, damit alle sich gleich seelenruhig entspannen.

Bei all dem sowjetisch-stalinschen Trash, den politischen Morden, Gefängnissen, dem Krieg mit den Ukrainern, dem obszönen Wahnsinn rund um den Tag des Sieges taucht plötzlich das ›Unsterbliche Regiment‹ auf, das sie dem Fernsehsender TV-2 abgeknöpft haben, den sie [später] selbst (vor unseren hilflosen Augen) dicht gemacht haben. Wir werden nun lieber, munterer, ›weil alles nicht so schlimm ist, weil es Hoffnung gibt, weil ja doch noch etwas Menschliches geblieben ist‹ und so weiter und so fort.

Genau auf diese Weise wird die Sklaverei konserviert. [Uns] Jeden Tag mit Mist zu füttern, im Dreck wälzen zu lassen, zu Vieh zu machen, und manchmal eine Wäsche und etwas Leckeres zu essen gewähren. Und schon sind wir froh (›Das Leben geht weiter!‹). In der Realität aber marschieren wir unter ihrer Führung weiter in die Hölle, dafür aber mit leuchtenden Gesichtern und Portraits der Verwandten in den Händen.

P.S. Ich schimpfe nicht auf das ›Unsterbliche Regiment‹ und will auch nicht ›die Erinnerung verhöhnen‹, falls das jemand noch nicht kapiert hat. Dies ist kein Post über den Tag des Sieges. Um jenen Krieg geht es hier gar nicht.«

Ayder Muzhdabaev auf Facebook, 10.05.2015 <https://www.facebook.com/ayder.muzhdabaev/posts/965786270121915>

Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)


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