Der Ausbruch der Ukraine-Krise als kollektiver Schock
Der Ausbruch und die dramatische Zuspitzung der Ukraine-Krise haben die öffentliche Diskussion der vergangenen anderthalb Jahre in Deutschland nachhaltig geprägt. Sowohl bei den politischen Eliten als auch in der Bevölkerung ist noch immer Fassungslosigkeit darüber zu spüren, dass innerhalb weniger Monate »der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist« und längst überwunden geglaubte Freund-Feind-Schemata die politische Debatte erneut beherrschen. Im Zentrum der Diskussion steht die Rolle Russlands: Wie ist das Verhalten der russischen Regierung zu erklären? Welche Schuld trägt sie an der Eskalation der Krise, welche Ziele verfolgt sie dabei? Und welche Konsequenzen sollte die deutsche Politik gegenüber Russland aus diesen Entwicklungen ziehen? Es ist bezeichnend für den deutschen Diskurs, dass diese Fragen sehr unterschiedlich, teils offen gegensätzlich bewertet und beantwortet werden. Die gesamte Debatte und nicht zuletzt die kontroversen Interpretationen haben dazu geführt, dass sich die Wahrnehmung Russlands in der deutschen Öffentlichkeit seit Herbst 2013 deutlich verändert hat.
Am Beginn dieser Entwicklung stand ein Schock, der die politischen Akteure und das zunächst weitgehend unbeteiligte Publikum in der Bundesrepublik gleichermaßen erschütterte: Die heftige russische Ablehnung der geplanten Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union (EU) und der Ukraine beim Gipfel in Vilnius im November 2013 kam für die deutsche Öffentlichkeit völlig überraschend. Im Vorfeld dieses im letzten Moment gescheiterten Vertragsschlusses hatte sich kaum jemand vernehmbar Gedanken über eine mögliche Reaktion der russischen Regierung gemacht. Vielmehr hatten Politiker und Medien vor allem darüber diskutiert, ob die Ukraine tatsächlich politisch reif sei für eine engere Anbindung an die EU. Dabei hatte nicht zuletzt das Schicksal der aus vornehmlich politischen Gründen inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko die Öffentlichkeit bewegt, und auch die desolate Wirtschaftslage und das hohe Korruptionspotential in der Ukraine hatten immer wieder Zweifel an der »EU-Tauglichkeit« der ehemaligen Sowjetrepublik laut werden lassen.
Die plötzliche Weigerung des damaligen ukrainischen Staatspräsidenten Viktor Janukowytsch, seine Unterschrift unter das von der EU angebotene Assoziierungsabkommen zu setzen, kam folglich völlig unerwartet. Janukowytschs Begründung, er habe die von Russland angedrohten Konsequenzen für sein Land nicht riskieren können, löste in Deutschland Unverständnis aus und entfachte zugleich Sympathie für die Demonstranten des Euro-Maidan in Kiew, die gegen diesen abrupten Kurswechsel protestierten. Offensichtlich hatten weder die politisch Verantwortlichen in Berlin (und Brüssel) noch die deutsche Publizistik damit gerechnet, dass Russland das Assoziierungsabkommen ernsthaft als Überschreitung einer roten Linie interpretieren könnte, wie der russische Staatspräsident Wladimir Putin seither immer wieder betont. Dementsprechend geschockt und ratlos reagierten zunächst Politiker und Öffentlichkeit in Deutschland auf die dramatischen Ereignisse, die sich nach dem gescheiterten Gipfel von Vilnius in der Ukraine sowie nach dem Sturz der Regierung Janukowytsch Ende Februar 2014 zwischen der Ukraine und Russland abspielten. Die russische Annexion der Krim im März, der Ausbruch militärischer Gewalt zwischen ukrainischen Nationalisten und Separatisten in der Ostukraine und die Eskalation dieser Kämpfe unter offensichtlicher Beteiligung russischen Militärs im Sommer 2014 führten immer wieder zu der Frage: Wie hatte es nur so weit kommen können? Während weitgehend Einigkeit darüber herrscht, dass »all das nie hätte passieren dürfen«, entwickelten sich sehr rasch verschiedene Erklärungsansätze, bei wem die Hauptverantwortung für die dramatische Zuspitzung der Auseinandersetzungen zu suchen sei.
Die Polarisierung der öffentlichen Meinung
Positiv ist festzuhalten, dass die allgegenwärtige Bestürzung über den massiven Gewaltausbruch in der Ostukraine zu einer intensiven und anhaltenden Auseinandersetzung mit den Ereignissen selbst, und zumindest teilweise auch mit den dahinterliegenden komplexen politischen Problemen in den beiden größten Nachfolgestaaten der Sowjetunion führte. Die angespannte Krisendiplomatie der Bundesregierung wurde (und wird) von einer lebhaften, meist ernsthaft geführten gesellschaftlichen Diskussion über die Lage in Osteuropa begleitet, wie sie in der deutschen Öffentlichkeit seit den 1990er Jahren nicht mehr stattgefunden hatte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auf dem ersten Höhepunkt der Krise zwischen Dezember 2013 und April 2014 beschäftigten sich allein im öffentlich-rechtlichen Fernsehen 30 Talkshows mit verschiedenen Aspekten des Themas. Offensichtlich existiert – ungeachtet widerstreitender Ursachenanalysen und Handlungsempfehlungen – nach wie vor ein gesellschaftlicher Konsens über die große Bedeutung, die die politischen Entwicklungen in der Ukraine und zumal in Russland für Deutschland haben.
Die Einigkeit endet indes bei der Frage, welche politischen (Fehl-)Entscheidungen die Ukraine-Krise ausgelöst haben und welche Akteure vornehmlich für die Zuspitzung des Konflikts verantwortlich sind. Auch mögliche Lösungsvorschläge werden in der Öffentlichkeit äußert kontrovers diskutiert. Bemerkenswert ist hierbei weniger, dass die Meinungen bei einem derart komplexen Thema auseinandergehen, als vielmehr, wie rasch sich nach der ersten, kurzen Phase verbreiteter Ratlosigkeit und Bestürzung zwei antagonistische Positionen konsolidiert haben, die seither die nahezu ausschließliche Deutungshoheit über die Ursachen für und mögliche Auswege aus der Krise beanspruchen. Im Zentrum steht dabei die gegensätzliche Einschätzung der Rolle Russlands: Während die eine Seite im russischen Präsidenten Wladimir Putin den Hauptverantwortlichen für die Eskalation des Konflikts sieht, deutet die andere Seite dessen Handeln in erster Linie als Reaktion auf die fortgesetzte Verletzung legitimer russischer (Sicherheits-)Interessen durch den Westen. Die meisten Äußerungen in der deutschen Debatte zur Ukraine-Krise lassen sich im Kern auf eine dieser beiden Positionen zurückführen.
Das eine Lager, zu dem die Mehrzahl der Regierungspolitiker und führende Medienvertreter zu rechnen sind, werfen der russischen Führung vor, sie nutze die aktuelle Krise zur Durchsetzung rücksichtsloser Großmachtpolitik auf Kosten des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine. Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die kaum verdeckte finanzielle und militärische Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine destabilisiere das Land die Region und bedrohe damit letztlich die gesamte europäische Friedensordnung. Da dieser Erklärungsansatz dem heutigen Russland eine Rückkehr zu der aggressiven sowjetischen Außenpolitik in den Zeiten des Kalten Krieges unterstellt und daraus meist ableitet, dass auch der Westen wieder vermehrt auf Abgrenzung und eine Politik der Stärke gegenüber Russland setzen solle, werden Vertreter dieser Position mitunter als (neue) Kalte Krieger apostrophiert.
Demgegenüber rechtfertigen Vertreter der Gegenposition, die oft unter dem Label »Russlandversteher« zusammengefasst werden, die Politik Putins als nachvollziehbare Reaktion auf die wahrgenommene Demütigung und/oder Bedrohung des Landes durch die westliche Staatengemeinschaft. Die Hauptschuld für die Zuspitzung der Krise liege demnach bei der EU, die mit dem vorgeschlagenen Assoziierungsabkommen für die Ukraine ihren wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Machtanspruch bis unmittelbar an die Grenzen Russlands ausdehnen wollte. Damit habe sie die russische Bedrohungsperzeption weiter angeheizt, die infolge der Osterweiterung der NATO und der EU entstanden sei. Auch wird darauf verwiesen, dass die Bevölkerung der Krim einen Anschluss an Russland mehrheitlich befürworte, so dass hier das Selbstbestimmungsrecht des Volkes gegen den staatlichen Souveränitätsanspruch der Ukraine stehe. Insbesondere kritisieren Vertreter dieser Position die westlichen Sanktionen gegen Russland sowie den Ausschluss des Landes aus der G8 im Zuge der Ukraine-Krise und interpretieren sie als Indizien für die fortgesetzte westliche Strategie der Schwächung und Ausgrenzung Russlands.
Obwohl sich die hier notwendigerweise verkürzt dargestellten Extrempositionen »Kalte Krieger versus Russlandversteher« nicht immer in dieser Radikalität gegenüberstehen, handelt es sich doch um zwei weitgehend inkompatible Deutungsmuster. Das zeigt die Polarisierung der deutschen Öffentlichkeit, die aus Meinungsumfragen hervorgeht: Während mindestens die Hälfte der Befragten in erster Linie Russland für die Zuspitzung der Ukraine-Krise verantwortlich macht, sehen zwischen 20 und 30 Prozent die Schuld hauptsächlich auf der Seite des Westens bzw. bei der gegenwärtigen EU-affinen ukrainischen Regierung (<http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/FAZ_Ma__rz_Russland.pdf>; <http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/FAZ_April_2014_Russland.pdf>, veröffentlicht in der FAZ). Noch klarer ist die Spaltung, wenn die Frage allgemeiner formuliert wird und nicht auf die Gewalteskalation in der Ostukraine rekurriert. So konnten im März 2015 47 Prozent der Befragten »nachvollziehen, dass sich Russland vom Westen bedroht fühlt«, während 50 Prozent diese Aussage verneinten (<http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2015/maerz/>). Insgesamt zeigen die ausgewerteten Umfragen eine leichte Ungleichverteilung der beiden skizzierten Lager innerhalb der Bevölkerung: Der Anteil der Russlandversteher liegt in Ostdeutschland um rund fünf bis zehn Prozentpunkte höher als in der alten Bundesrepublik; zudem finden sich darunter überproportional viele Anhänger der Partei »Die Linke« sowie der rechtspopulistischen AfD.
Der veränderte Blick auf Russland
Die Ukraine-Krise hat die Einstellung der deutschen Öffentlichkeit gegenüber Russland nicht nur polarisiert, sondern sie hat das Russlandbild auch bereits nachhaltig verändert. Das gilt sowohl für die Beurteilung der innenpolitischen Situation des Landes als auch für die Wahrnehmung der russischen Rolle in Europa und der Welt. Neben den inhaltlichen Einschätzungen sind hierbei insbesondere die sprachlichen Veränderungen des öffentlichen Diskurses aufschlussreich.
Zunächst fällt auf, wie sich der Blick auf die Person und die politische Rolle Wladimir Putins gewandelt hat. Der autokratische Führungsstil und die pompöse Selbstinszenierung des russischen Staatschefs waren schon vor Beginn der Krise vielfach Gegenstand kritischer Berichterstattung. In jüngster Zeit jedoch ist mitunter geradezu eine Dämonisierung seiner Rolle zu beobachten, bei der zudem kaum noch zwischen der Person, dem Amt und dem von ihm regierten Land unterschieden wird. Wladimir Putin wird mit Russland gleichgesetzt, und er wird als Personifizierung einer aggressiven russischen Großmachtpolitik porträtiert (Eines von vielen möglichen Beispielen für diese Gleichsetzung ist das viel zitierte Spiegel Cover »Stoppt Putin jetzt« vom 28. Juli 2014, Nr. 31). Im Ergebnis verbreitet sich nicht nur ein zunehmend negatives, sondern vor allem auch ein extrem monolithisches Russlandbild. Nicht länger die russische Regierung oder gar der autoritär regierende Staatspräsident ist für eine bestimmte Politik verantwortlich zu machen, sondern das gesamte Land. Hier werden Erinnerungen an die Hochzeit der Kalten Krieges wach, als der US-amerikanische Staatspräsident Ronald Reagan die Sowjetunion pauschal als »Reich des Bösen« titulierte.
Darüber hinaus verstellt eine derartig personalistische Engführung der öffentlichen Debatte den Blick auf die vielschichtigen Motive der russischen Ukraine-Politik. So bringen die Vertreter beider eingangs skizzierter Lager das gegenwärtige Vorgehen der Regierung Putin kaum in Verbindung mit der innerrussischen Protestwelle, die sich in den Jahren 2011/12 gegen dessen (erneute) Präsidentschaft formiert hatte. Dabei gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die Eskalation der Ukraine-Krise dem russischen Staatspräsidenten eine willkommene Möglichkeit bietet, um der schwindenden Unterstützung in Teilen der russischen Gesellschaft durch patriotische Solidaritätsappelle zu entgegen. Geht man davon aus, dass der außenpolitische Konfliktkurs Russlands sowohl gegenüber dem südlichen Nachbarland als auch gegenüber dem Westen zumindest teilweise innenpolitisch motiviert ist, spielt die skizzierte Polarisierung des deutschen Russland-Diskurses diesen Interessen unmittelbar in die Karten: Je stärker die komplexe politische Wirklichkeit auf die Erklärungsmodelle der Russlandversteher oder – in diesem Fall noch wirkungsvoller – der Kalten Krieger reduziert wird, desto einfach lassen sich auch in der deutschen Öffentlichkeit längst überwunden geglaubte Feindbilder wiederbeleben.
Wie »erfolgreich« diese Strategie bereits wirkt, lässt sich an jüngeren deutschen Meinungsumfragen zur Wahrnehmung Russlands ablesen. Während vor dem Ausbruch der Ukraine-Krise annähernd zwei Drittel der Befragten bei Meinungsumfragen angaben, Russland sei keine Gefahr für Deutschland, und über die Hälfte eine weitere Vertiefung der Beziehungen zwischen beiden Ländern befürworteten, sahen im April 2014 55 Prozent der Befragten Russland sehr wohl als Bedrohung für Deutschland, und nur noch 32 Prozent machten sich für eine enge Kooperation mit dem Nachbarn im Osten stark (<http://www.ifd-allensbach.de/uploads/tx_reportsndocs/FAZ_April_2014_Russ land.pdf>, veröffentlicht in der FAZ vom 15.4.2014). Noch deutlicher wird der Eindruck einer self-fulfilling prophecy, wenn man diese veränderte Wahrnehmung einer möglichen russischen Bedrohung mit der Einschätzung der Bedeutung Russlands in der Weltpolitik korreliert. So stieg die Zahl der Deutschen, die Russland für eine Weltmacht halten, laut Umfragen des Instituts für Demoskopie Allensbach von 45 Prozent im Jahr 2008 auf 67 Prozent im März 2015 (<http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/deutsche-geben-putin-schuld-an-ukraine-konflikt-13489423.html>, FAZ vom 17.3.2015).
Fazit
Auch wenn die längerfristigen Auswirkungen der Ukraine-Krise auf die Wahrnehmung Russlands noch nicht absehbar sind, lässt sich bereits jetzt konstatieren, dass das Thema in der deutschen Öffentlichkeit nach wie vor eine enorme Aufmerksamkeit findet. Es hat sich ein intensiver Diskurs entwickelt, an dem neben den politischen Eliten auch breite Bevölkerungskreise über die unterschiedlichsten Kanäle teilnehmen. Diese Debatte ist indes von einer starken Polarisierung geprägt, die eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Rolle Russlands in dem Konflikt erschwert. Die Spaltung der Öffentlichkeit in zwei antagonistische Lager leistet der Herausbildung und Verfestigung eines eindimensionalen Russlandbildes Vorschub, das letztlich zur Wiederbelebung des alten Feindbildes aus der Zeit des Kalten Krieges führen könnte.