Wahlrecht
Erstmals seit vielen Jahren gab es im Vorfeld der Regional- und Kommunalwahlen 2015 keine wesentlichen Änderungen der föderalen Wahlgesetzgebung. Das Hauptfeld für Manipulationen mit Hilfe wahlrechtlicher Bestimmungen hat sich auf die regionale und die lokale Ebene verlagert. In nahezu der Hälfte der Regionen ist die endgültige Fassung des Wahlrechts weniger als einen Monat vor Beginn des Wahlprozesses verabschiedet worden. Bedeutsam waren die Änderungen in der Wahlgesetzgebung hinsichtlich der Bildung der regionalen Parlamente: So wurden u. a. gemischte Wahlsysteme eingeführt, die Anzahl der Direktwahlkreise reduziert, die Anzahl der Abgeordneten geändert oder aber die Direktwahl des Bürgermeisters abgeschafft (beispielsweise in Orjol, Lipezk, Woronesh, Nowosibirsk und Krasnodar).
Für heftige Kontroversen sorgte die Abschaffung der Direktwahl der Bürgermeister, Stadtoberhäupter und Leiter der Kommunalverwaltung, von der die meisten Regionen des Landes betroffen waren. Somit werden bei den diesjährigen Kommunalwahlen in den regionalen Hauptstädten erstmals nur die Abgeordneten des Stadtrates gewählt.
In einigen Regionen (Rjasan und Kurgan) wurde die Möglichkeit der vorfristigen Stimmabgabe anstelle einer Abstimmung mit Hilfe eines Wahlscheins eingeführt. In Tscheljabinsk und Nowosibirsk wurde der Zeitraum zur Nominierung der Kandidaten drastisch verkürzt (auf 24 bzw. 10 Tage). Die wieder eingeführte Möglichkeit »Gegen alle« zu stimmen, die Ende 2013 als positive Antwort der Regierung auf lokale Initiativen im ganzen Land und als Umsetzung des Wählerwillens dargestellt worden war, ist völlig den regionalen Behörden überlassen worden und bestand bei den Kommunalwahlen 2015 letztlich nur in sechs Regionen: in den Republiken Sacha (Jakutien) und Karelien sowie in den Gebieten Belgorod, Kaluga, Twer und Wologda.
Eine weitere Einschränkung bei der Wahrnehmung politischer Rechte bestand in der Einführung von strengeren Vorschriften zur Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen, die im Vorfeld der Wahlen in einer Reihe von Regionen erfolgte. In der Konsequenz wurden zum Beispiel in den Gebieten Wladimir, Kostroma und Kaluga während des Wahlkampfes öffentliche Veranstaltungen der Oppositionsparteien erheblich behindert.
Die oben genannten Veränderungen bei der Durchführung der Wahlen demonstrieren eine manipulative politische Herangehensweise. Sie zielen darauf ab, eine größtmögliche Kontrolle über die Wahlen und deren Ausgang zu sicherzustellen.
Wahlbehörden
Im Vorfeld der Wahlen hat die Zusammensetzung der kommunalen und territorialen Wahlkommissionen erhebliche Veränderungen erfahren. Die bedeutendsten Veränderungen auf der Leitungsebene regionaler Wahlkommissionen gab es in den Gebieten Archangelsk und Kurgan sowie in der Republik Sacha (Jakutien). Diese Veränderungen an der Spitze der Kommissionen sind vor allem auf Verschiebungen in der Exekutive nach einem Wechsel der regionalen Führungsspitze zurückzuführen und lassen somit an der Unabhängigkeit der regionalen Wahlkommissionen von der amtierenden Regionalregierung zweifeln.
Die Arbeit einer ganzen Reihe von Wahlkommissionen, die für die Organisation der Regional- und Kommunalwahlen zuständig waren, weist ernsthafte Mängel hinsichtlich ihrer Transparenz und der Gewährleistung einer korrekten Nominierung von Kandidaten und Parteilisten auf.
Wahlkommissionen auf allen Ebenen sowie die regionalen und kommunalen Behörden unterteilten politische Parteien klar in Organisationen »erster Klasse« (im Parlament vertretene und regierungsfreundliche Parteien) und »zweiter Klasse« (die sogenannte außersystemische Opposition). In manchen Regionen schufen die Wahlkommissionen für einige Kandidaten gezielt Hindernisse bei der Vorbereitung der Registrierungsunterlagen, um dadurch ungleiche Startbedingungen zu schaffen. Auf der Ebene der territorialen und lokalen Wahlkommissionen hatten Kandidaten, Parteien und Wahlbeobachter Schwierigkeiten, die richtigen benötigten Registrierungsformulare und -dokumente zu finden. In einigen Fällen stießen sie sogar auf den Unwillen der Wahlkommissionen, den Kandidaten oder Parteien diese Unterlagen zur Verfügung zu stellen.
Es herrscht eine offensichtliche Ungleichbehandlung von Kandidaten, die von politischen Parteien aufgestellt wurden und jenen, die sich selbständig nominiert hatten. Letztere erhalten, anders als Kandidaten von Parteien, in der Regel keine Einweisung oder Unterstützung bei der Zusammenstellung der notwendigen Unterlagen.
Wahlbeobachtung
Golos verweist mit Nachdruck auf die mangelnde Möglichkeit, die anstehenden Wahlen im Auftrag gesellschaftlicher Organisationen zu beobachten. Neue Gesetzesbestimmungen, eingeführt am 24. November 2014, sehen vor, dass zusätzlich zu Bürgern ausländischer Staaten, Personen ohne Staatsangehörigkeit und ausländischen Organisationen nun auch internationale Organisationen, internationale gesellschaftliche Bewegungen und nichtkommerzielle Organisationen, die als »ausländische Agenten tätig sind« und als solche registriert wurden, »nicht berechtigt [sind], Handlungen zu unternehmen, die die Nominierung eines Kandidaten oder einer Kandidatenliste, die Wahl eines registrierten Kandidaten, die Initiative für ein Referendum oder dessen Durchführung oder das Erzielen eines bestimmten Wahlergebnisses oder Ausgangs eines Referendums, oder sich in anderer Form an einer Wahl- oder Referendumskampagne zu beteiligen« (§ 3 Abs. 6 des Föderalen Gesetzes »Über die grundlegenden Wählerrechte und das Recht zur Teilnahme an einem Referendum für Bürger der Russischen Föderation« i. d. Fassung vom 24.11. 2014).
Bei den jetzt beobachteten Wahlen war eine Wahlbeobachtung durch gesellschaftliche Organisationen nur durch das regionale Wahlgesetz des Gebietes Kostroma sowie bei Kommunalwahlen im Gebiet Lipezk erlaubt.
Im Vorfeld der Wahlen sind in verschiedenen Regionen verstärkter Druck und Einschüchterungsversuche gegen gesellschaftliche Wahlbeobachter zu beobachten gewesen. Am 7. Juli 2015 fanden in den Privatwohnungen von Grigorij Melkonjanz, dem stellvertretenden Direktor von Golos, von Roman Udot, einem führenden Experten von Golos, sowie von Tatjana Trojnowa, der Direktorin der Interregionalen Stiftung Golos, Hausdurchsuchungen statt. Dabei wurden Unterlagen und Bürogeräte beschlagnahmt. Im weiteren Verlauf dieses Tages wurde auch das Moskauer Golos-Büro durchsucht. Die Hausdurchsuchungen wurden von der Regionalverwaltung Samara des russischen Innenministeriums geleitet und standen offiziell im Zusammenhang mit einer seit längerem betriebenen Verfolgung der Golos-Sektion in Samara. Im Februar 2015 war Ljudmila Kusmina, die Leiterin der Golos-Sektion in Samara, der Steuerhinterziehung beschuldigt worden. Die Steuerbehörden hatten behauptetet, Kusmina schulde dem Staat Steuern in Höhe von 2 Millionen Rubel (rund 40.000 US-Dollar) auf ein Zuwendungen für die Arbeit von Golos zwischen 2010 und 2012.
Nominierung und Registrierung der Kandidaten
Beim Prozess der Kandidatennominierung für die Gouverneurswahlen gab es keine ernsten Schwierigkeiten. Die Kandidaten bei diesen Wahlen müssen sich die Unterstützung der kommunalen Abgeordneten sichern und dabei den sogenannten »kommunalen Filter« überwinden. In keiner der Regionen hat auch nur einer der Kandidaten diese Hürde ohne das Wohlwollen des amtierenden Gouverneurs und der Partei »Einiges Russland« nehmen können. Darüber hinaus ist der reale Wettbewerb bei den Gouverneurswahlen derart schwach, dass die Amtsinhaber ihre Mitbewerber nicht ernstlich fürchten müssen.
Parteiinterne Vorwahlen, die sogenannten »Prajmeris«, sind bei den Wahlen zu den regionalen Parlamenten mittlerweile Teil des Wahlprozesses, obwohl dieses Verfahren nicht durch die Wahlgesetzgebung vorgegeben oder reguliert wird.
Die Vorwahlen der Partei »Einiges Russland« wurden in einer Reihe von Regionen unter dem offensichtlichen Einsatz administrativer Ressourcen und öffentlicher Mittel durchgeführt. Darüber hinaus wurden diverse Unregelmäßigkeiten registriert. So wurden zum Beispiel kommunale und staatliche Angestellte zur Stimmabgabe genötigt (insbesondere in den Regionen Krasnodar, Wladimir, Iwanowo, Samara und Nowosibirsk), es wurde Druck auf die Wahlmänner ausgeübt (im Gebiet Irkutsk), Personen gaben in mehreren Wahllokalen Stimmen ab (Gebiet Kostroma), es wurden »gruppenweise« Stimmen abgegeben, die »Wähler«-Beteiligung wurde »aufgebläht« (Gebiet Kostroma), es wurde bei den Verzeichnissen der Wahlmänner manipuliert (Gebiet Woronesh), Wahlmänner wurden rechtswidrig vorübergehend an einem (anderen) Wohnort angemeldet (Gebiet Irkutsk), es wurden Wahlmänner »herangekarrt« (Leningrader Gebiet und Gebiet Woronesh), »Wähler« wurden bestochen (Gebiete Woronesh, Kostroma und Nishnij Nowgorod), die offiziellen Ergebnisse wurden (auch auf den eigens dafür eingerichteten Internetseiten) nur mit erheblicher Verzögerung bekanntgegeben (Gebiet Iwanowo, Region Krasnodar), Ergebnisse wurden augenscheinlich gefälscht.
Für Parteien, die über kein »Parlamentsprivileg« verfügen (im Parlament vertretene Parteien, Parteien, die bei den letzten Wahlen zur Staatsduma mehr als drei Prozent errungen haben und Parteien, die mit mindestens einem Abgeordneten in einem Regionalparlament vertreten sind), stellt die Sammlung von Unterstützerunterschriften die wichtigste Etappe des Wahlprozesses dar. Schwierige rechtliche Vorgaben wie auch gelegentlicher böser Wille seitens der Wahlkommissionen sowie Widerstand durch die Regionalregierung und die Polizeibehörden haben die Unterschriftenkampagnen von »RPR-PARNAS«, der »Bürgerinitiative« und der »Demokratischen Koalition« erschwert (u. a. in Kostroma und Magadan).
Dadurch haben es »RPR-PARNAS« und die »Bürgerinitiative« nicht geschafft, bei Regional- und Kommunalwahlen ihre Kandidatenlisten registrieren zu lassen. Eine Ausnahme ist das Gebiet Kostroma, wo die Kandidatenliste von »RPR-PARNAS« mit Ilja Jaschin letztlich doch registriert wurde. Insgesamt ist die Anzahl der Parteien, die schließlich an den jetzigen Wahlen teilgenommen haben, im Vergleich zur Anzahl der Parteien, die Kandidaten aufgestellt haben, drastisch zurückgegangen. Dies gilt insbesondere für Parteien, die sich in Opposition zur derzeitigen Regierung befinden.
Wahlkampffinanzierung
Die von den Parteien und Kandidaten eingesetzten Finanzierungsmechanismen verhinderten, dass Wähler umfassenden Zugang zu Informationen darüber erhielten, wer hinter den Kulissen die Personen finanziell unterstützt, die um die Machtposten streiten. Zur Verschleierung der tatsächlichen Quellen nutzen Kandidaten eine Reihe von Methoden, indem sie bspw. zusätzliche Glieder in die Spender-Empfänger-Kette einbauen.
Diese Verschleierungsmechanismen erlauben es den Kandidaten mit administrativen Ressourcen, Haushaltsmittel und öffentliche Gelder für ihre Wahlkämpfe einzusetzen. In einigen Fällen haben Nichtregierungsorganisationen, die Mittel von föderalen und regionalen Behörden erhalten hatten, für die Wahlkämpfe von Kandidaten von »Einiges Russland« gespendet (z. B. in Samara und Kursk).
Darüber hinaus macht es die mangelnde Transparenz der Finanzen möglich, dass viele Kandidaten und Parteien Mittel aus dem Ausland erhalten, was eine Verletzung des Wahlrechts bedeutet. Angesichts des sich dieses Jahr fortsetzenden Trends dürfte sich nach dem 13. September die Anzahl der wiedergewählten Gouverneure, deren Wahlkampf durch ausländische Sponsoren finanziert wurde, tatsächlich erhöhen. Das System ausländischer Finanzierung funktioniert über russische Unternehmen, die Mittel an Wahlkampfbudgets spenden und die z. T. über mehrere Stufen – von Unternehmen besessen oder kontrolliert werden, die beispielsweise in Zypern oder den Britischen Jungferninseln registriert sind. Größte Nutznießer der Finanzierung aus dem Ausland sind Kandidaten von »Einiges Russland« sowie die Regierungspartei selbst.
Stiftungen, die politischen Parteien nahestehen, und die einen beträchtlichen Teil der finanziellen Ressourcen sammeln, sind nicht verpflichtet, den Wählern gegenüber Informationen über die tatsächlichen Spender offenzulegen. Spenden von Einzelpersonen dienen oft zur Verschleierung der eigentlichen Spender.
Wahlkampf
In der Wahlkampfphase sind massiv und weit verbreitet administrative Ressourcen eingesetzt worden. Diese werden nicht nur zugunsten einzelner Kandidaten und Parteien eingesetzt, sondern auch zur Gewährleistung einer hohen Wahlbeteiligung, und um Druck auf andere Akteure auszuüben.
Zu beobachten war, dass Amtsträger bei der Ausübung ihrer Geschäfte Wahlwerbung zugunsten einzelner Kandidaten und Parteien betrieben, dass »Kandidaten der Administration« – vorgeblich bei der Ausübung ihrer beruflichen Pflichten – zu Wahlkampfzwecken auftraten, dass Haushaltsmittel und andere öffentliche Ressourcen für offizielle Veranstaltungen mit offensichtlichem Wahlkampfcharakter eingesetzt wurden, und dass auf »administrativ abhängige« Wähler Druck ausgeübt wurde.
Politisch motiviert und voreingenommen war das Vorgehen von Polizei- und Justizbehörden gegenüber bestimmten Kandidaten oder ganzen Wählervereinigungen (Parteimitglieder, Mitglieder von Wahlkampfstäben).
Mit Heranrücken des Wahltages häuften sich Zwischenfälle, bei denen rechtmäßige Wahlkampfaktivitäten bestimmter, in der Regel oppositioneller oder eine merkliche Konkurrenz für die amtierende Regierung darstellender Kandidaten und Parteien behindert wurden. In solchen Situationen hatten es die Polizeibehörden nicht nur nicht besonders eilig, sondern waren oft schlichtweg untätig, ungeachtet des Umstandes, dass es bei diesen Zwischenfällen oft zu Randalen oder sogar zu Bedrohungen für Leib und Leben von Wahlkämpfern und Mitgliedern der Wahlkampfstäbe kam.
Festzustellen waren auch Hindernisse für öffentliche Wahlkampfveranstaltungen, die bewusst von den Behörden oder in Abstimmung mit ihnen geschaffen wurden, wobei auch staatliche und kommunale Einrichtungen und Unternehmen mitwirkten.
Übersetzung: Hartmut Schröder