Am 30. September hat das russische Militär Luftangriffe auf Positionen der Terror-Miliz »Islamischer Staat« durchgeführt. Die Operation begann bereits wenige Stunden nachdem der russische Föderationsrat verfassungsgemäß die Zustimmung zum Einsatz russischer Truppen im Ausland erteilte. Kurz nach den ersten Luftangriffen erschienen erste Meldungen über zivile Opfer, die das russische Verteidigungsministerium sogleich dementierte und zu »Informationsangriffen« erklärte. Der Pressesprecher des Präsidenten Dmitrij Peskow teilte mit, alle Luftangriffe seien mit Damaskus abgestimmt. Politiker, Publizisten und Blogger diskutieren den neuen Einsatz des Militärs durch den Kreml, schätzen innen- und außenpolitische Risiken ein und vergleichen den Militäreinsatz in Syrien mit dem Afghanistan-Krieg der Sowjetunion. Es meldeten sich u. a. der Publizist Alexander Prochanow, der Politikwissenschaftler Stanislaw Belkowskij, der Chef der Republik Tschetschenien Ramsan Kadyrow, der Publizist Alexander Morosow, der Wirtschaftsexperte Alexander Rasuwajew, sowie der Investigativjournalist Jewgenij Lewkowitsch zu Wort.
Prochanow: Gott schütze Euch, russische Piloten!
»Syriens Präsident Baschar al-Assad hat Russland um militärische Hilfe bei dem Kampf mit dem Kalifat gebeten. Putin hat beim Föderationsrat einen Antrag auf einen Auslandseinsatz der Streitkräfte Russlands gestellt. Der Föderationsrat hat die Genehmigung erteilt. Nun hängen am Unterleib der russischen Bomber Raketen und Bomben für Luftschläge gegen Ziele, die vom IS kontrolliert werden.
Schon werden Stimmen über imperiale Ambitionen Russlands laut – es wird von russischer Expansion geredet, von einem weiteren Afghanistan. All das ist entweder pazifistische Verirrung oder heimtückische Propaganda. Denn der IS bedeutet schon heute einen Angriff auf strategische Grenzen der Russischen Föderation. Und die Verteidigung dieser Grenzen erfolgt nicht nur am Stadtrand von Damaskus, wo bereits die Geschosse des IS detonieren, sondern auch im Nordkaukasus und in Zentralasien.
[…]
Wollen wir etwa wirklich dass sich eine Riesenexplosion in den Regionen Zentralasiens zusammenbraut, deren Splitter in Richtung Russland fliegen werden? Begreifen wir es wirklich nicht, dass es den IS bis zum Nordkaukasus und weiter zum Wolga-Gebiet zieht? Das können wir nicht zulassen. Daher auch die Entscheidung unserer Regierung über einen Einsatz der Streitkräfte Russlands jenseits der Landesgrenzen.
[…]
Erst vor kurzem hatte Obama verkündet, dass über der Menschheit drei furchtbare Übel schweben. Das seien der IS, Ebola und Russland. Russland wurde von den Amerikanern dämonisiert, wurde dem IS und seinem fürchterlichen Angriff auf die Menschheit gleichgestellt. Die Amerikaner haben jedoch davon abgesehen. Bei der Vollversammlung der UNO haben sich Putin und Obama Hände geschüttelt und mit Gläsern voll Wein angestoßen. Danach zogen sie sich zu einer geschlossenen Sitzung zurück und kamen überein, das Vorgehen zu koordinieren.
Und schauen Sie sich Europa an. Arrogant und überheblich hat es Russland all die Jahre mit seinen Vorwürfen angegriffen. Nun ist Europa traumatisiert; nach Europa sind Massen von Einwanderern und Flüchtlingen geströmt. Das ist Ergebnis der fürchterlichen Explosion in Nordafrika und den arabischen Staaten. Auch Merkel versteht, dass ein Sturz Assads zu einer nächsten Einwanderungswelle führen wird, und sagt nun, dass Assad ein akzeptabler Akteur sei und man ihn während der Nah-Ost-Verhandlungen berücksichtigen solle. Franzosen und Italiener pflichten ihr bei. […]
Wie werden sich die Ereignisse weiter entwickeln? Schaffen wir es, innerhalb kürzester Zeit den IS zu stoppen und zu zerschlagen? Werden wir es nach einem Sieg über den IS schaffen, ein zweites Jalta zu versammeln, die in der Welt angehäuften Widersprüche zu beseitigen und das internationale Leben zu harmonisieren? […]
Gott schütze Euch, russischen Piloten! Der Sieg sei Euer!«
Alexander Prochanow am 2.10.2015 auf izvestia.ru; <http://izvestia.ru/news/592469#ixzz3nVjuO5Dw>.
Belkowskij: Luftangriff Putins in Syrien mit Obama abgesprochen
»Liebe Freunde und Mitfühlende,
heute wurde viel über die Frage debattiert, ob Russland seinen Einsatz in Syrien mit den USA abgestimmt hat, im Rahmen des jüngsten Gesprächs zwischen W.W. Putins und B.B.H. Obama.
Meiner Meinung nach wurde er natürlich abgestimmt.
Die USA haben Russland ungefähr Folgendes gesagt: Wenn Ihr, Kinderchen, bereit seid, mit euren [Streit]Kräften und auf Eure Kosten, u. a. auf Kosten Eurer zahlreichen billigen Menschenleben, unsere schmutzige Arbeit zu machen, haben wir nichts dagegen. Und dann müssen wir abwarten, was dabei rauskommt.
Weder Liebe, noch die Rückkehr zur Weltordnung von Jalta und Potsdam, noch eine Aufhebung der Sanktionen im Gegenzug für die Zerschlagung des IS sind von Washington versprochen worden.
Geht zum IS, besiegt ihn, wenn Ihr könnt. Danach werden wir weiterreden.
Putin aber scheint von Euphorie gepackt. Als ob er dort jemanden eins in die Fresse verpasst hätte.
Danke für die entstandenen Unannehmlichkeiten«
Stanislaw Belkowskij am 30.09.2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/joshua.raynolds/posts/954205227958403>.
Kadyrov: Ich unterstütze den Syrien-Einsatz des Präsidenten Putin
»Ich unterstütze voll und ganz den Beschluss des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin zum Einsatz der Streitkräfte Russlands zur Bekämpfung der Terroristen in Syrien. Ich bin der Überzeugung, dass das Böse in der eigenen Höhle liquidiert werden muss. Wir können nicht warten, bis sie in unsere Städte und Dörfer kommen. Das Vorgehen Russlands findet in der muslimischen Welt breite Unterstützung, denn der Iblis-Staat stellt den ärgsten Feind des Islams dar. Seine Banditen töten vor allem Muslime und zerstören Heiligtümer. Wichtig ist, dass Russland streng nach den Normen des Völkerrechts vorgeht. Der Präsident Syriens hat um Hilfe gebeten. Wir haben positiv entschieden. Amerika, Australien, Frankreich und andere benehmen sich wie Räuber. In Syrien sind Berater vonnöten. Wenn der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Russlands, Wladimir Putin, den Befehl erteilt, sind wir bereit, schon morgen Spezialisten von Weltniveau, die im Westen ihresgleichen suchen, zur Verfügung zu stellen. Wir haben Erfahrung und Kenntnisse. Natürlich fällt dem Präsidenten die Entscheidung nicht leicht, russische Streitkräfte in einem anderen Land einzusetzen. Wir haben uns bis dato auf die diplomatischen und politischen Kanäle beschränkt, um auf die Situation einzuwirken. Aber Amerika und seine Partner gießen nur Öl ins Feuer, statt den Brandherd zu löschen. Und dieser Brandherd liegt gleich nebenan. Deswegen konnte Russland nicht mehr länger warten. In dieser Situation müssen wir alle innenpolitischen Diskussionen vergessen und Präsident Putin, unsere Streitkräfte, unsere Piloten, die an vorderster Front stehen, entschlossen unterstützen!«
Ramsan Kadyrow 30.09.2015 auf vk.com <https://vk.com/ramzan?w=wall279938622_71490>
Morosow: Kadyrow erntet höllische Dividenden
»Syrien. Zum einen, Kadyrow (und überhaupt unsere gesamte, bildhaft gesprochen, »Moskauer Zentralmoschee«) erntet wieder höllische Dividenden, weil er nun ein wichtiges Regulierungselement darstellt. Zweitens, streicht Schoigu Dividenden ein (denn »die Armee funktioniert«). Drittens, Vater Wsewolod Tschaplin hat süße Träume, denn orthodoxe Ritter in russischen Fliegern, die den richtigen Islam gegen den falschen verteidigen – das bedeutet schlichtweg eine Erfüllung des Traums vom »muslimisch-orthodoxen Dress-Code«. Und dann noch die Transformation von unten des Populismus von »Die Krim ist unser« zu »Syrien ist unser«; das ist ein großer Erfolg Putins. Schließlich wurden bei »Die Krim ist unser« quasi die eigenen geschlagen, Verwandte, könnte man sagen. Nun sind es irgendwelche unbekannten »IS-Faschisten«.
Und dann rücken auch die Wahlen näher, zunächst 2016 [die Duma-Wahlen, d. Red.] danach die Präsidentschaftswahlen. Das bedeutet, dass die politische Klasse (anders ausgedrückt: »jede dahergelaufene Sau«) sich noch aktiver am Wettbewerb bei der Zurschaustellung eines »Hurra-Patriotismus« und dem Lärm um Siegesbotschaften beteiligen muss… Ungefähr so sehen wohl die politischen Folgen aus.«
Alexander Morosow am 1.10.2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=1020484932 4097373&id=1367268883>.
Rasuwajew: »Syrien ist unsere Selbstverteidigung«
»Die Schläge der russischen Luftwaffe in Syrien haben zwangsläufig die potentiellen Gefahren, mit denen Russland möglicherweise konfrontiert wird, in den Vordergrund gerückt. Die Gefahr terroristischer Anschläge, die wir allmählich vergessen hatten, wird nun wieder zur Realität. Natürlich werden die russischen Sicherheitsdienste alles tun, um unser Land vor Terroranschlägen zu schützen. Ein negatives Szenario kann aber nicht ausgeschlossen werden. Die alternativ begabten Blogger und Politologen haben bereits verkündet, dass die russische Regierung am vergossenen Blut einfacher russischer Bürger Schuld sein wird. […]
Unsere Liberalen haben sich schon ins Zeug gelegt, Syrien mit Afghanistan zu vergleichen. Vor diesem Hintergrund wird übrigens der Afghanistan-Krieg erneut mit Lügen und Dreck übergossen. Von daher erscheint es sinnvoll, sich daran zu erinnern, was der Afghanistan-Feldzug war, und worin der wesentliche Unterschied zum Syrien-Einsatz besteht.
Während der Perestroika wurde das Thema Afghanistan-Krieg zu einer mächtigen Informations-Waffe, um das sowjetische Reich zu zerstören. Insbesondere unsere Verluste wurden dabei immer wieder thematisiert. Dabei ist die Zahl [der Gefallenen], prozentual zu den Militärangehörigen, die an diesem Krieg beteiligt waren, sehr klein: Laut offiziellen Statistiken sind 620.000 sowjetischer Soldaten [über die Jahre, d. Red.] in Afghanistan eingesetzt gewesen; die Verluste lagen bei 15.051. Die Verluste der Mudschaheddin schwanken stark, lagen aber wohl zwischen 1 und 2 Millionen. Mir, einem Menschen mit imperialen Ansichten, gefällt dieses Verhältnis der Verluste auf jeden Fall.
Eine weitere Lüge ist der Mythos, dass der Krieg in Afghanistan die Wirtschaft der UdSSR untergraben habe. Eine Steigerung der Verteidigungsausgaben und des Militärbudgets fördert immer das Wirtschaftswachstum. Dessen ungeachtet war Afghanistan aber ein lokaler Konflikt und sein Einfluss auf die Wirtschaft der Sowjetunion war sehr gering. Die Wirtschaft der UdSSR wurde durch das von der Gorbatschowschen Politik verursachte Chaos und den Fall der Erdölpreise ruiniert.
Nun aber der Hauptunterschied:
Afghanistan war ein gewöhnlicher imperialer Krieg, wie ihn alle Imperien zu allen Zeiten führten. Syrien ist russische Selbstverteidigung. Wir konnten einfach nicht mehr warten und haben als erste zugeschlagen. Hinter denen stehen die Schaitane und die NATO, hinter uns Gott und die Wahrheit«.
Alexander Rasuwajew am 4.10.2015 auf odnako.org; <http://www.odnako.org/blogs/afganistan -bil-voynoy-imperii-siriya-nasha-samooborona/>
Lewkowitsch: Ich will das nicht verstehen
»Ich lese, lese über Syrien. Ich lese die Klugen, die sich mit der Frage auskennen, die, die sich nicht so gut auskennen und die, die sich überhaupt nicht auskennen, die Offiziellen, die Nichtoffiziellen, die, die bezahlt sind, und die, die aus vollem Herzen schreiben. Ich verstehe gar nichts. Besser: Ich weigere mich zu verstehen. Das alles übersteigt meinen Verstand.
Die letzten eineinhalb Jahre mischt mein Land sich mit Waffen ein, auf fremdem Territorium, bombt, zermalmt mit Panzern, erschießt und entführt. Wenn ich diese Bilder sehe, will ich mich mit Eurer Mathematik nicht beschäftigen, ich finde das einfach nur ekelhaft. Dieses Gefühl muss man, im Gegensatz zu jeder, auch der »gesündesten« Analyse, noch nicht erklären (ich hoffe jedenfalls, dass man es nicht muss). Es gibt Waffen als Mittel zur Verteidigung und es gibt sie als Mittel zum Angriff. Und Punkt, für mich.
Ja, ich weiß, dass sich fast die ganze Welt schon so verhält. Ich lebe aber in Russland. Und für mich ist das unzweifelhaft ein erschwerender Umstand. Ich bin kein Vertreter des amerikanischen Bösen, ich bin Vertreter des russischen [Bösen], so hat es sich ergeben. Und wenn es schon so ist, dann sind wir nicht in der Lage, den Präsidenten auf friedlichem Wege zum Abzug der Truppen aus welchem Territorium auch immer zu zwingen, selbst dann nicht, wenn wir uns das alle plötzlich in der Theorie wünschten. Es fehlen schlichtweg die Instrumente. […] Die amerikanische Geschichte kennt Beispiele, als solche Instrumente funktionierten. Dies hat natürlich den Hunderttausenden verkrüppelten Schicksalen nicht geholfen, aber es hat zumindest nicht Hunderttausende weiterer hervorgebracht. Wir bringen nur Böses, einfach, mit Beifall, ohne Umsicht, selbst ohne eine theoretische Möglichkeit, zu bremsen. Also… Ich will mir Euer Syrien nicht einmal näher ansehen. […]«
Jewgenij Lewkowitsch am 1.10.2015 auf Facebook; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid =10203445510857899&id=1816653547>
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin
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