Der Nobelpreis für Literatur ist 2015 an die sowjetische und belorussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch verliehen worden. Die russischsprachige Autorin wurde von der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften »für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt« geehrt. Sie war zuvor bereits 2005 mit dem Buchpreis der US-amerikanischen Literaturkritiker, 2011 mit dem polnischen Ryszard-Kapuścinski-Preis für literarische Reportagen und 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Alexijewitsch ist eine der meist gelesenen russischsprachigen Autoren in der Welt und gilt als Klassiker russischer zeitgenössischer Literatur.
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 im westukrainischen Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) geboren und zog als kleines Kind in die Belarussische Sowjetrepublik um. Sie studierte Journalismus in Minsk, arbeitete nach dem Studium als Korrespondentin lokaler Zeitungen und sammelte Erinnerungen von Kriegszeugen in Belarus – in derjenigen Sowjetrepublik, die am meisten unter der deutschen Besatzung gelitten hatte. Bereits in ihrem ersten Buch »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«, das nach langen Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Zensur erst 1985 erschien, entwickelt Alexijewitsch ihr eigenes literarisches Genre. Sie befasst sich mit der Alltagsgeschichte sowjetischer Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg und schildert anhand von Memoiren, Interviews und Reportagen die dunkelsten Kapitel des Lebens in der Sowjetunion. Ihre engagierte Dokumentarprosa lässt diejenigen Menschen zu Wort kommen, die sonst niemanden interessierten, beispielsweise Frauen und Mütter der im sowjetischen Afghanistan-Krieg gefallenen Soldaten in dem Buch »Zinkjungen« oder Zeugen der Atomkatastrophe in ihrem Werk »Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft«. In ihrem letzten Buch »Secondhand-Zeit« veröffentlicht Alexijewitsch »Stimmen einer Utopie«, zusammengesetzt aus Monologen ihrer Zeitgenossen über den Zerfall der Sowjetunion und den Umbruch der 1990er Jahre in unterschiedlichen postsowjetischen Ländern.
Seit Anfang der 2000er Jahre lebt Alexijewitsch in Italien, Frankreich und Deutschland. Sie kritisierte stets autoritäre Regime im postsowjetischen Raum, vor allem Aleksandr Lukaschenka, dem sie einen brutalen Umgang mit der Opposition in ihrem Heimatland vorwarf. Nach der Krim-Annexion wurde auch der russische Machthaber Putin wegen der Aufstachelung der »russischen Welt« zu einer Offensive gegen die prowestliche Kiewer Regierung immer wieder von der Schriftstellerin harsch kritisiert. Vor wenigen Tagen sprach sie in einem Interview über ihre eigene Identität: sie sei ein Teil der »belorussischen Welt«, möge aber sehr die »gute, humanistische russische Welt«. Nur mit der »Welt von Berija, Stalin, Putin und Schoigu« verbinde sie nichts, so Alexijewitsch.
Die Nachricht über die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2015 an Alexijewitsch spaltete erneut die Öffentlichkeit in Russland. Die Blogger fragen sich, ob Alexijewitsch als eine russische Schriftstellerin gelten könne, und worin diese berüchtigte russische Welt überhaupt bestehe. Wegen der »antirussischen Haltung« der Nobelpreisträgerin wurde die Preisvergabe in den national-patriotischen Kreisen Russlands überwiegend mit Skepsis aufgenommen. Protagonisten des neuen russischen Nationalismus, der Schriftsteller Sachar Prilepin und der Publizist Jegor Cholmogorow, werfen der Nobelpreisträgerin Russophobie vor und kritisieren das Nobelkomitee für eine politische Entscheidung, die eine Art Antwort auf die Außenpolitik Putins darstelle. Die demokratisch orientierten Journalisten und Blogger reagierten mit Verwunderung auf die Kritik der russischen Patrioten bezüglich der Preisvergabe an eine russischsprachige Autorin. Der Fernsehjournalist Nikolaj Swanidse und der Philosoph Kirill Martynow sehen gerade in der Antikriegsliteratur Alexijewitschs die wahre »russische Welt«. Der Blogger Dmitrij Bawyrin empört sich über die Äußerungen der Patrioten, Alexijewitsch sei russophob, und sagt, fast alle Klassiker russischer Literatur, von Pushkin bis Tolstoi, könnten wegen ihrer Kritik an der russischen Gesellschaft auch als russophob gelten. Der Theaterregisseur Pawel Rudnew betont, dass in der »russischen Welt« nicht die Wahrheit über die eigene Geschichte als Wert zähle, sondern allein Loyalität (gegenüber den Regierenden).
Martynow: » ›Nein zum Krieg‹, das ist in diesem Jahr die Nobel-Botschaft an die Welt.«
»Alexijewitsch, das ist eine sehr alte und wichtige Geschichte. Das war eine Autorin, die über das ganz Harte, Schwarze geschrieben hat, worüber man unbedingt hätte schreiben sollen, von dem sich die russische Gesellschaft aber stets verschämt abwendete, während man versuchte, über die Runden zu kommen und Geld zu verdienen: über den beschämenden Krieg, über den Verrat aus an den eigenen Leuten, über Angst und Schmerz, und auch über den Versuch der Heroisierung von Dingen in der Vergangenheit, die eigentlich Anlass zur Trauer sind.
Ich habe mich oft an Alexijewitsch erinnert, als ich davon sprach, dass Russland über den Krieg in Afghanistan geschwiegen hat, und dass das eine große Schande ist. Die Amerikaner haben Tausende Bücher über Vietnam, wir haben nur ungelenke Erinnerungen der »Afghanen« [ehem. sowjetische Soldaten mit Kriegserfahrung in Afghanistan; d. Red.] und das Schweigen. Aber eben auch Alexijewitsch!
Sie war Symbol der russischen ignorance: Sie hat zwar über das Wichtigste geschrieben, war aber nur eine Schriftstellerin der zweiten Reihe, Verfasserin von unbequemer, schwer lesbarer »Dokumentar-Prosa«, etwas ab vom Schuss – als ob das Volk, die Russen, immerfort andere, interessantere Themen oder Dramen gehabt hätten.
Und jetzt hat sie den Preis bekommen, merkwürdig: Vor meinen Augen widerfährt das zum ersten Mal einem Menschen, der diesen Preis durch sein Leben verdient hat.
›Nein zum Krieg‹, das ist in diesem Jahr die Nobel-Botschaft an die Welt.«
Kirill Martynov am 08.10.2015 auf Facebook <https://www.facebook.com/kmartynov/posts/1082163501817417>
Prilepin: Der Literaturnobelpreis an Alexijewitsch ist Antwort des Westens auf die souveräne Politik Russlands
»[…] Im Grunde hätten sie auch Wasil Bykow den Preis verleihen können. Der hat seinerzeit das sowjetische Regime gehasst und hatte viele Fragen an Russland, war aber ein großer Schriftsteller. Und Belarusse. Aber es geht ja nicht um Literatur. […]
All die russischen Westler, Liberalen und [fortschrittsgläubigen] Progressisten, die jetzt frohlocken, sollten sich wohl besser bewusst machen, dass sie zusammen mit dem übrigen Russlands verachtet werden, aber wozu sollten die sich das bewusst machen? […]
Vor fünf, sechs Jahren habe ich in Paris gesagt, und davor auf der Buchmesse in London (Lew Danilkin und Basinskij waren dabei, sie können das bezeugen), dass der Nobelpreis sich an die russische Literatur erinnert, sobald russische U-Boote vor Europa herumschwimmen. ›Gebt [den Preis] mal ohne die U-Boote‹ habe ich damals gescherzt. […]
Sie müssen verstehen: Dieser Preis entspringt dem Gefühl einer enormen Erniedrigung. Erst die Olympischen Spiele, danach die Krim, dann wurden die DNR [»Volksrepublik Donezk«] und die LNR [»Volksrepublik Luhansk«] praktisch aus dem Territorium der Ukraine ausgegliedert. Jetzt Syrien, die Bomben, die vom Kaspischen Meer aus fliegen, wohin sie wollen. Besser gesagt: dorthin, wohin es befohlen wird. Irgendeine Antwort musste man ja geben. Dabei verfiel man dann auf die ungeschickteste, ärmlichste Variante: nämlich den Preis an eine gute Journalistin zu vergeben, die vor allem durch ihre – selbst für ihre Gleichgesinnten – erstaunlich banalen Interviews mit dem Refrain bekannt ist: ›Russland hat alle getötet, getötet, getötet, hat immer getötet und wird töten; haltet dieses Übel auf; diese Sklaven werden nie aufhören, Sklaven zu sein; da gibt’s Stalin und Popen, und Sie wissen ja, wie das endet; und besonders ich weiß es genau‹. […]
Eigentlich ist das ein Preis an Russland. An seine Unabhängigkeit, seinen Einfluss, seine Rolle in der Welt. Wir können diese Unabhängigkeit und diese Rolle abgeben. Macht nichts. Aber – was für eine Ansage!.
Dreißig Jahre lang hatte man ja kaum ernsthaft vorgehabt, den Preis [an Alexijewitsch] zu verleihen. Und nun: Ein Jahr Arbeit, und schon konnte der Schuss losgehen. Gelobt sei Swetlana Alexijewitsch, Genossen!
Am Tag der Preisverleihung war ich ausnehmend guter Laune, obwohl ich auch sonst kaum meckere. Ich habe sogar Champagner getrunken. Wir haben das geschafft. Übrigens, wollen Sie eine Prognose? Im nächsten Jahr wird der Preis an irgendeine Person aus der dritten oder fünften Reihe vergeben. Man hat ja so gut begonnen, da muss man doch im Rhythmus bleiben… und da wird es dann schon nicht mehr um Russland gehen. Zu Russland soviel: Es wird [den Preis] auch bekommen. Und nicht nur ein Mal. Man muss nur im selben Geiste weitermachen. Wo sind übrigens unsere U-Boote?«
Sachar Prilepin am 09.10.2015 auf izvestia.ru <http://izvestia.ru/news/592832>
Swanidze: Antwort an Prilepin
»Ein russischer Schriftsteller kann nicht Militarismus predigen und lehren, kann den Krieg nicht lieben, vermissen, jaulend danach verlangen und das dann Patriotismus nennen.
Swetlana Alexijewitsch liebt Menschen, hat Mitleid mit ihnen. Gerade deswegen hat sie den Nobelpreis bekommen, und nicht Sie [Prilepin], und nicht Limonow, und nicht Prochanow.
Und ich bitte Sie, nicht jeden Krieg – von Afghanistan bis Syrien – als Vaterländischen zu verkaufen. Vor allem nicht als Großen Vaterländischen.«
Nikolaj Swanidse am 12.10.2015 auf Echo Moskwy <http://echo.msk.ru/blog/svanidze_n/1639024-echo/>
Cholmogorow: »Über die russophobe Alexijewitsch und das philologische Spital«
»Den Jubel unserer Demokratie-Schizos kann man nachvollziehen. Sie sind der absoluten Überzeugung, dass die bleichgesichtigen Brüder ihnen einen gewaltigen Rammbock gegen das »Regime« zurechtgelegt haben. Das Problem ist nur, dass die Reputationsmaschine kaputt gegangen ist. Zum einen, aus objektiven Gründen: Schließlich kann man ja nicht ewig Preise an politisch korrekte drittklassige Leute vergeben, wenn neben ihnen beispielsweise Tom Stoppard, das non plus ultra der gegenwärtigen Eliten-Literatur, oder George Martin, sein Pendant für die Massenliteratur, auf der Liste stehen.
Wissen Sie noch, wer im letzten Jahr den »Nobel«[-Preis] für Literatur bekommen hat? Und wer im vorletzten? Der »Weltliteraturpreis« von Nobel ist zu einem philologischen Hospiz geworden und interessiert insofern niemanden mehr. Der zweite Grund ist der, dass die »Helden der liberalen Händeschüttler« in Russland, außerhalb ihres eigenen engen Kreises, immer weniger von Interesse sind.
Dank westlicher Stiftungen und Preise bastelt sich die russische Opposition eine Parallelwelt, in der Swjaginzew, Nemzow und Alexijewitsch die Köpfe beherrschen. Und sie hoffen, durch Kundgebungen und Abrams [US-amerikanische Kampfpanzer vom Typ M1; d. Red.] irgendwann diese parallele Welt dem ganzen Volk aufzudrängen, wie eine zweite, falsche Erinnerung.
Doch soweit wird es nicht kommen. Die Niederlage des »arabischen Frühlings« hat gezeigt, dass es nicht einmal gelingt, selbst Gesellschaften mit weniger entwickeltem Kulturpotenzial dieses »Kaugummi« aufzunötigen. Russland haben sie jedoch schon unwiederbringlich verloren. Ihm [Russland] sind sie schlichtweg gleichgültig. […]
Selbst wenn unser Volk enttäuscht werden sollte, wird es deshalb Nawalnyj, Poroschenko und Alexijewitsch nicht stärker zugeneigt sein. […]«
Jegor Cholmogorow am 09.10.2015 auf Livejournal.com <http://holmogor.livejournal.com/6876169.html>
Bawyrin: Wenn Alexijewitsch russophob ist, dann sind fast alle russische Klassiker auch russophob
»Hallo, seid ihr noch ganz dicht? Wenn Alexijewitsch russophob ist, dann ist fast das ganze »goldene Zeitalter« der russischen Literatur russophob. Habt ihr den jungen Puschkin vergessen? Und das »ungewaschene Russland« Lermontows? Die Stadt Glupow [der Dummköpfe] von Saltykow-Schtschedrin? Habt ihr die Tagebücher von Turgenjew gelesen? Und »Hadschi Murat« von Tolstoi? Ganz zu schweigen von Pasternak und Dowlatow. Was bleibt denn dann »echt Russisches«, wenn die Vorliebe für Anzüge und Uniformen zur Grundbedingung wird? Dostojewskij, Tjuttschew, Leskow (bei letzterem sind Zweifel angebracht, da er wie ein Rohrspatz auf die ROK [Russische Orthodoxe Kirche] schimpfte). Ein großer Schriftsteller ist in der Regel Regime-Kritiker. Nicht nur in Russland, sondern auch in den USA, wo viele große Schriftsteller bezeichnenderweise nach links tendierten und das offizielle Washington nicht mochten.«
Dmitri Bywarin am 09.10.2015 auf Facebook <https://www.facebook.com/bavyrin/posts/971430386249902>
Rudnew: Der einzige und unerschütterliche Wert scheint Loyalität zu sein
»Die Reaktion der professionellen Patrioten auf die Preisverleihung an Alexijewitsch bestätigt nur, was ohnehin offensichtlich ist. Alexijewitsch ist Autorin von zwei Büchern über die Tragödie des Großen Vaterländischen Krieges, dessen Gedenken die Verfechter eines starken Staates tränenreich den Eid geschworen haben. Sie hat Hunderte lebende Zeitzeuginnen befragt; die Schriftstellerin hat sie zum Sprechen gebracht. Nun stellt sich aber heraus, dass
die russische Sprache mit ihrer Bedeutung für die Welt nicht von Wert ist.
Die Wahrheit des einzelnen Menschen kein Wert ist.
Die Geschichte des Landes jenseits ideologischer Mythen wertlos ist.
Die Erinnerung an den Krieg keinerlei Wert darstellt.
Als einziger und unerschütterlicher Wert bleibt Loyalität. Loyalität, und weiter nichts.«
Pawel Rudnew am 10.10.2015 auf Facebook <https://www.facebook.com/pavel.rudnev.9/posts/10204992647717680>
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)