"Kascha" oder: Am Anfang war die Sowjetunion

Von Jens Siegert (Moskau)

Am Anfang war die große Sowjetunion. So ungefähr muss eine – zugegeben etwas polemische – Beschreibung des Gedankenbreis beginnen, der gegenwärtig in den Köpfen vieler Menschen in Russland herumschwappt.

Wie oft, wenn man das Heute verstehen will, hilft auch hier ein Blick zurück. Der sowjetische Dissident und Schriftsteller Alexander Sinowjew beschrieb 1978 im gleichnamigen Roman den Homo Sovieticus, den direkten Vorgänger der heutigen Russen. Der sowjetische Mensch des Romans ist ein Opportunist, der jegliche Verantwortung scheut. Gleichzeitig hat er ein idealisiertes Bild vom Westen, den er wegen Zensur und Reiseverbots aber nicht aus eigener Erfahrung kennt. Dass der Westen von der staatlichen Propaganda verteufelt wird, macht ihn nur noch attraktiver.

Selbstverständlich erwies sich nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung der Grenzen für Menschen, Waren und Informationen die idealisierte Vorstellung vom Westen als verfehlt, der erträumte Himmel auf Erden war weit diesseitiger und weltlicher. Zudem gingen in Russland (wie auch in den anderen selbstständig gewordenen Sowjetrepubliken) in den 1990er Jahren einige der hässlicheren Teile westlichen Lebens eine reichlich monströse Symbiose mit den Überbleibseln sowjetischen Lebens ein. Zwar waren die Menschen plötzlich sehr frei. Aber die politischen und gesellschaftlichen Freiheiten wurden schnell von einem dysfunktionalen Staat und einem dysfunktionalen Markt erstickt. Demokratie blieb auf der Strecke. Der (in vielem immer noch sowjetische) Staat zog sich nicht nur aus dem Privatleben und der Wirtschaft der Menschen zurück, er verschwand auch aus vielen Bereichen der Daseinsvorsorge. Das nutzte eine kleine Gruppe von neuen, ja, wie soll man sagen, doch, es waren Unternehmer, die, gemeinsam mit Teilen der staatlichen Elite, oft auch in Personalunion, einen großen Teil der ja immer noch enormen, in der Sowjetunion fast ausschließlich vom Staat kontrollierten Reichtümer unter sich aufteilten. Wenige wurden sehr reich. Viele wurden immer ärmer. Übrig blieben Armut, Korruption und sehr viel Unsicherheit.

Die heutige, ähnlich emotional aufgeladene Ablehnung des Westens (und besonders seiner Kulmination USA) hat hier ihre Wurzeln. Sie ist ohne die, im Wortsinn »Ent-Täuschung« vor allem in den 1990er Jahren (die zudem von sehr vielen Menschen in Russland als Erniedrigung erlebt wurde oder zumindest im Nachhinein als Erniedrigung gedeutet wird) kaum erklärbar und verstehbar.

Nun haben seit dem Ende der Sowjetunion alle Menschen in Russland zumindest theoretisch (also so sie wollen und es sich leisten können), die Möglichkeit in den realen Westen zu reisen. Viele (wenn auch im Landesmaßstab eine Minderheit) haben das getan und tun das auch immer noch. Nicht wenige der Reisenden, aber auch einige der Nichtreisenden sind zu dem vernünftigen Schluss gekommen, dass der echte Westen schlechter ist als der zuvor imaginierte, vor allem aber komplizierter und widersprüchlicher. Dass er mitleidend und solidarisch sein kann, aber eben auch eigennützig und hart ist. Kurz, dass die dort herrschende Freiheit eine Chance ist, an der man arbeiten muss, die zwar keine Garantien bietet, dass aber dennoch eine Chance immer noch besser ist als keine Chance.

Andere, und das ist gegenwärtig die große Mehrheit der Menschen in Russland, sind vom real nach Russland gekommen Kapitalismus abgestoßen. Das dürfte unter anderem daran liegen, wie der britische Historiker Tony Judt sagt, dass in Russland (wie auch sonst in Mittel- und Osteuropa) nach 1989 die »smarten Neoliberalen die Möglichkeit [nutzten], die Dissidenten abzutun und sich gleichzeitig mit ihnen zu schmücken«. Die Dissidenten lieferten der an die Macht gekommenen Mischung aus Markt-Liberalen und reformbereiten sowjetischen Funktionären moralische Autorität, während sie selbst oft in politischer und ökonomischer Naivität verharrten. Ökonomische Naivität war aber nicht nur unter Dissidenten verbreitet, sondern auch in großen Teilen der Bevölkerung. In der Spiegelung der sowjetischen Plan- und Mangelwirtschaft war zu Sowjetzeiten die weit verbreitete Illusion gewachsen, im Kapitalismus ginge es darum, dass (noch einmal Tony Judt) »ein Brauer vor allem gutes Bier brauen muss«, während das Entscheidende doch war, »dass sich sein Bier gut verkauft«. Von dieser Illusion haben sich die Nachfolger der sowjetischen Herrschaftselite sehr viel schneller verabschieden können als die »Dissidenten« (hier verstanden als diejenigen, die in erster Linie an Demokratie glaubten und glauben). Die neu-alten Herrscher verstehen es (bis heute und weil Machtzynismus schon immer ihr Hauptgeschäft war) viel besser, ihr Bier zu verkaufen als welches zu brauen.

Die wichtigste Verkaufsmethode ist dabei weiterhin eine (weitgehend) monopolisierte staatliche Propaganda. Allerdings wurde sie gründlich »modernisiert«. Sie besteht nun zum einen nicht mehr darin, den Menschen einzutrichtern, wie gut und schön es doch zu Hause sei und dass nur hier und von hier aus eine lichte und glückliche Zukunft zu erwarten sei. Das würde ohnehin kaum mehr jemand glauben. Vielmehr erfahren die Menschen in Russland tagein, tagaus, dass es dort, im Westen auch nicht besser ist als in Russland. Überall das gleiche, trübe Bild. Allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Zu Hause erwartet niemand (mehr) etwas anderes. Dort aber tue man (und vor allem der Staat) so, als ob es dort besser wäre, als ob dort Demokratie herrsche. Das weiß die Staatspropaganda besser. Zur Trübseligkeit kommt im Westen, so bläut sie den Menschen ein, also noch Unaufrichtigkeit, ja geradezu unverschämte Lüge. Das macht das Trübe zu Hause ein wenig heimeliger und lässt es in der Fremde noch unwirtlicher erscheinen.

Der zweite Trick geht noch tiefer. Er besteht darin, gar nicht erst Gewissheit zuzulassen. Das ist sozusagen eine postmoderne Herrschaftstechnik. Die Herrschaft behauptet nicht mehr (in erster Linie), sie sei gut, sondern dass es so etwas wie »gute Herrschaft« gar nicht gebe. Zu allem und jedem behaupten die staatlichen Propagandisten das eine und auch sein Gegenteil. Und oft noch etwas Drittes. Alles ist im Fluss, nichts ist mehr sicher. In dieses antiaufklärerische Gebräu lässt sich dann alles mischen, jede noch so obskure Idee, jede noch so konspirative (Welt-)Erklärung. Die Moskauer Buchhandlungen sind längst ein Spiegelbild dieser Methode. Neben wenigen seriösen Werken stehen und liegen dort in Massen pseudowissenschaftliche Machwerke. Je monströser die Idee, umso besser verkauft sie sich.

Die Folge ist in vielen Köpfen das, was auf russisch mit »Kascha«, (deutsch: »Brei«) umschrieben wird. Diesen Brei kann man so wenig analysieren und fein chemisch in seine Bestandteile auflösen wie den Brei in den Köpfen deutscher »Aluhüte«. Tatsächlich sind sie sich sehr ähnlich. Dieser Brei ist (fast) nicht verständlich. Er besteht aus sich oft gegenseitig ausschließenden, im Wortsinn unfassbaren Zutaten. Ich will deshalb lieber versuchen, ihn erfahrbar zu machen, indem ich ihn, wie eine Art Gedankenstrom, fließen lasse. Dieser Gedankenstrom beruht auf persönlichen Erfahrungen, dem regelmäßigen (und hoffentlich noch nicht schädlichen) Konsum russischer Medien und sehr vielen Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Menschen, von denen nicht wenige eher politikfern sind.

Also: Am Anfang war die große Sowjetunion. Die haben die Juden gegründet. Sie haben den Zar ermordet und das große Russische Imperium und den Rechten Glauben zerstört und den Gulag organisiert. Aber die Russen haben natürlich trotzdem weiter geglaubt. Heimlich. Dann kam ein großer russischer Herrscher (wenn auch georgischer Herkunft). Der hat die (von den Juden gegründete) Sowjetunion zusammen geschweißt, all die Ukrainer, Kaukasier, Zentralasiaten und andere Brudervölker des großen russischen Volkes.

Nach einiger Zeit war das nicht schlechter als vor der Revolution. Alle liebten einander und niemand war reich oder klaute zuviel. Das hat den europäischen Faschisten nicht gepasst und sie haben die friedliebende Sowjetunion unter ihrem großen russischen Führer (georgischer Herkunft) angegriffen. Die sowjetischen Völker unter Führung der Russen aber haben die europäischen Faschisten besiegt (weshalb sie für immer die besten Antifaschisten sind). Und das, trotzdem all diese Ukrainer, Kaukasier und sonstigen Verrätervölker (die die Russen eigentlich lieben) mit den Faschisten kollaboriert haben. Nach dem Sieg über die Faschisten aber waren die Russen großherzig, haben allen verziehen, wie gute Eltern es eben mit ihren Sprösslingen, selbst den missratenen, tun, und sie alle lebten wieder brüderlich und schwesterlich in der nun noch größeren und noch mächtigeren Sowjetunion.

Das war die schönste Zeit der Sowjetunion, auch wenn die Führung nach dem großen Russen (georgischer Herkunft) immer weiter degradierte. Immer weniger ließen die Führer bei den Russen, immer mehr verteilten sie auf die (undankbaren) Brüdervölker. Aber das war damals letztendlich unwichtig, denn alle lebten ja gemeinsam, friedlich in einem großen Vaterland. Und alle liebten einander. Und niemand klaute. Aus heutiger Sicht war diese späte Sowjetunion das Paradies. Sie war es trotz Knappheit und Langeweile. Sie war es wegen Knappheit und Langeweile. Wegen der Knappheit war sie so gerecht, wie der Kapitalismus (jetzt wissen wir es, damals wollten wir es nicht glauben!) ungerecht ist. Und weil sie groß war. Eine echte Großmacht. Gefürchtet. Dann haben die Amerikaner die große Sowjetunion zerstört. Aus Angst und aus Eifersucht. Zwar sind die Amerikaner blöd und schwach. Und die Russen sind klug und stark. Aber zu gutmütig. Einen Moment lang waren sie nicht wachsam genug und schon war es passiert. Die Amerikaner nutzten erst einen schwachen Generalsekretär (der den Russen das Trinken verbieten wollte, der Verräter!), um dann die Russen dazu zu bringen, sich einem ehemaligen Bezirksvorsitzenden der großen Kommunistischen Partei unterzuordnen (dem das Trinken sichtlich Freude bereitete). Jener Kommunistischen Partei, die von Juden gegründet worden war, um das große Russische Imperium zu Fall zu bringen, das noch besser als die Sowjetunion war, weil es russisch und rechtgläubig war (weshalb es ja von den Juden zerstört wurde).

All die Brüdervölker, denen es in der Sowjetunion so gut gegangen war, und die eigentlich gar keine echten Völker waren, wurden unabhängig. O.k. nicht alle, aber die meisten. Und die, die unabhängig wurden, die wollten das eigentlich gar nicht, es wurde ihnen nur von den Amerikanern und ihren eigenen korrupten Eliten eingeredet (die gar keine richtigen Eliten waren, sondern kleine Banditenbanden, fast schon Faschisten). Von der Sowjetunion blieb allein die Russische Föderation, der der ehemalige Bezirksvorsitzende einredete, sie müsse nun auch unabhängig sein. Wovon und von wem eigentlich, weiß man nicht. Als Folge verarmte das arme Russland und alle fingen an zu klauen, was nicht niet- und nagelfest war. Und alles andere auch. Und verkauften alles den Amerikanern. Und den Europäern. Die führten sich auf, als hätten sie einen Krieg gewonnen. Dabei war es die Friedensliebe der Russen, die den Kalten Krieg beendet hatte, den der Westen nun immer weiter führte. Das war erniedrigend. Genauso wie das Trinken des sich nun Präsident nennenden ehemaligen Bezirksvorsitzenden, der auch noch das eigene Parlament beschießen ließ.

Im Land rührten sich weitere Verräter-Völker. Und es war noch erniedrigender, dass die guten, schlauen, brüderlichen und schwesterlichen Russen, die all diese Schlangen an ihrer Brust genährt hatten, damit nicht fertig wurden. So schwach waren sie. So erniedrigend war das.

Irgendwie besann sich der ehemalige Bezirksparteikomiteevorsitzende dann in seinem Suff zumindest für einen Moment und schlug den Russen einen Nachfolger vor, den alle sofort von ganzem Herzen lieb gewannen, weil er den ganzen Dieben aus der Zeit des ehemaligen Bezirksvorsitzendenpräsidenten auf die Finger haute und all die krummnasigen Terroristen aus den Bergen noch bis auf den Abtritt verfolgte. Gleichzeitig und weil sie zu Hause nicht solche gesund-tatkräftig-markigen Präsidenten hatten, wollten viele der Brüdervölker (die ja eigentlich keine eigenen Völker sind) wieder zurück in die Sowjetunion. Da es die aber nicht mehr gab, wollten sie mindestens in die Russische Föderation, die ja unter dem neuen Liebling-Präsidenten fast schon wieder so mächtig wie die Sowjetunion geworden war oder zumindest so gläubig wie das Russische Imperium, eigentlich aber wie beide zugleich, was noch besser war.

Weil die Amerikaner immer schwächer und dümmer wurden und es nicht ertragen konnten, dass der neue Liebling-Präsident Russland wieder groß machte, fingen sie an, die gesetzlichen Regierungen der Nachbarbrüdervölker (die ja eigentlich gar keine Völker sind) zu stürzen. Besonders eines, das brüderlichste der Brüdervölker tat sich da hervor. Die (blöden und schwachen) Amerikaner brachten das Volk (das kein Volk ist) also (zweimal) auf den Maidan, verteilten Kekse und stürzten (zweimal) den gesetzmäßigen Präsidenten. Aber da wachte der russische Teil dieses Nichtvolks auf und erinnerte sich, wie schön und warm es doch im Schoß von Mütterchen Russland gewesen war. Und der Liebling-Präsident half ihnen und empfing sie mit offenen Armen in der Russischen Föderation, der Erbin der großen Sowjetunion, geschaffen von den Juden, die dazu das Russische Imperium zerstört hatten.

Ist doch klar, dass die (immer blöderen und immer schwächeren) Amerikaner dieses neue Russland und seinen Liebling-Präsidenten hassen müssen. Wie ihre (weniger blöden aber noch schwächeren) europäischen Vasallen, die aber immerhin noch gerettet werden könnten, würden sie nur endlich erkennen, dass nicht die (immer blöderen und immer schwächeren) Amerikaner ihre wahren Freunde seien, sondern das große, warmherzige, friedliebende, einzigartige russische Volk mit seinem genialen Liebling-Präsidenten.

Ungefähr so war das.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog http://russland.boellblog.org/.

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