Fast zwei Wochen hat man in Russland Silvester und orthodoxe Weihnachten gefeiert. Alle Staatsangestellten, Lehrer und Ärzte hatten bis zum 11. Januar frei. Auch die meisten Journalisten waren im Urlaub, so dass es in den russischen Medien außer kurzen Meldungen kaum Nachrichten gab, die die Erholung der russischen Bürger hätten beeinträchtigen konnten. Angesichts der aussichtslosen Wirtschaftslage und der Ratlosigkeit der Regierung hinsichtlich des sinkenden Rubelkurses konnte Russland dann aber doch nicht völlig entspannt ins neue Jahr blicken. Außenpolitische Spannungen, niedrige Erdölpreise und flächendeckende Kürzungen des Staatetats lassen kaum jemandem die Hoffnung, dass das Schaltjahr Ruhe und Wohlstand ins Land zurückbringt.
Während im russischen Netz 2015 oft gerätselt wurde, wann endlich Russland das Tal der Wirtschaftskrise erreicht haben wird, begann das neue Jahr mit der Debatte, wie lange das überhaupt noch so weitergehen kann und was das Land eigentlich nach Putin erwartet. Der Auslöser der Debatte war ein Beitrag des Exil-Oppositionellen Garri Kasparow, der auf Grund von Schuldzuweisungen an das russische Volk rasch für Aufsehen sorgte. Der Ex-Schachweltmeister schlägt vor, nach dem Rücktritt Putins keine Wahlen mehr durchzuführen, sondern das Land zunächst von der alten Elite zu »reinigen« und die Gesellschaft darüber aufzuklären, was die Sowjetunion und die Putin-Ära für das Land bedeutet hat. Der Menschenrechtler Alexej Tabalow stimmt Kasparow zu, fragt sich aber, wer die »Entsowjetisierung« und »Entputinisierung« durchführen soll. Der Journalist Oleg Kaschin kritisiert Kasparow wegen dessen kompromissloser Position gegenüber dem russischen Volk und betont, dass Russland eine Opposition, die demokratische Wahlen fürchtet, nicht brauche. Der kremlnahe Experte Dmitrij Orlow beruhigt seine Freunde auf Facebook und weist darauf hin, dass man sich angesichts der hohen Zustimmungswerte und guten Chancen für Putin bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 keine Sorgen über die politische Zukunft Russlands machen muss. Der Philosoph Alexander Rubzow prognostiziert in der Zeitung »Wedomosti« nach der Putin-Ära ein bitteres Ende, das mit der Krise nach dem Zerfall der Sowjetunion vergleichbar sein werde.
Kasparow: Russland nach Putin
«Die Geschichte zeigt, dass das Scheitern eines aggressiven außenpolitischen Kurses für Diktaturen wie das Regime Putin zum Auslöser für explosionsartige Proteste im Lande führt. Ich habe bereits gesagt, dass die Abkehr von einer imperialen Konzeption für Russland eine Aufgabe von grundsätzlicher Bedeutung darstellt. Wir müssen jetzt das tun, was vor 25 Jahren versäumt wurde, und zum Ausdruck bringen, wie der Staat namens Russland aussehen soll. Das Land sollte eine Impfung gegen den Virus des Imperialen erhalten und endgültig den Phantomschmerz der »verlorenen Größe« loswerden. Genau auf diese imperialen Illusionen zielt das Putinsche Regime ab und sichert sich trotz steigender sozialer und wirtschaftlicher Spannungen die Unterstützung eines Großteils der russischen Gesellschaft. Die Menschen müssen endlich begreifen, dass all diese Dinge miteinander verbunden sind. Es steht fest, dass Russland nach dem Untergang von Putins Regimes eine »Reinigungsphase« braucht., bei der die Menschen verstehen müssen, dass für alles – für die Unterstützung Putins, für Georgien, für die Krim und den Donbass – eine Zeche zu zahlen ist. Deutschland und Japan haben einen furchtbaren Preis für den angezettelten Weltkrieg gezahlt und die 70 Jahre lang erhaltene Impfung wirkt.
Unsere Aufgabe ist, nicht zuzulassen, dass Russland einen ebenso hohen Preis zahlen muss; dass es aber einen Preis gibt, das müssen die Menschen verstehen. Sie werden unangenehme Dinge darüber hören müssen, was geschehen ist, und darüber, dass sie faktisch die Verbrechen des Regimes unterstützt haben. Sie müssen einsehen, dass das Land mit ihrer Erlaubnis ausgeraubt wurde und der Wiederherstellungsprozess ähnlich viel Zeit kosten wird, wie das Rauben angedauert hat. Aus diesen Gründen empfinde ich es als sinnlos, direkt nach dem Untergang des Regimes Putins Wahlen durchzuführen. Nach Putin werden nämlich diejenigen kommen, die den Versuch unternehmen werden, das Volk zu »trösten« und im selben Zuge die volle Verantwortung auf den »Diktator« und sein nächstes Umfeld abzuwälzen, frei nach dem Motto, es habe einige übertriebene Härten und Abweichungen vom Gesetz gegeben. Das sind aber alles andere als übertriebene Härten. Das Regime Putin ist der Nachfolger eines totalitären Regimes, das die Blüte der Nation vernichtet hat. Das Regime Putin ist die Fortsetzung einer verbrecherischen Organisation namens »WTschK-OGPU-NKWD-KGB-FSB« [Tscheka–Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung–Volkskommissariat des Innern–Komitee für Staatssicherheit–Föderaler Sicherheitsdienst]. Wir brauchen nicht nur unser historisches »Nürnberg«, das den Verbrechen der kommunistischen Diktatur eine juristische Bewertung gibt, sondern auch reale Strafprozesse für die Architekten und Handlanger des heutigen Regimes. Im Grunde braucht man eine totale »Entsowjetisierung« und insbesondere eine »Ent-KGBisierung« der Gesellschaft, denn mit dem ideologischen Nachlass der KPdSU sind wir mehr schlecht als recht fertig geworden Die Tatsache aber, dass die Gesetzesverächter heute im Kreml, in der Duma und anderen Korridoren der Macht sitzen, ist in erster Linie die Folge davon, dass die KGB-Archive immer noch geschlossen sind.«
Garri Kasparow am 2. Januar 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/KasparovHome/posts/1023697990986155>.
Tabalow: Wer wird aber die »Entputinisierung« führen?
»Ich bin mit fast allem einverstanden. Ich würde nur von meiner Seite hinzufügen, dass man nicht wieder denselben Fehler begehen darf, den Jelzin seinerzeit begangen hat: Er hat keine Lustration [»Durchleuchtung« und ggf. Entfernung politisch vorbelasteter Staatsangestellter; d. Red.] durchgeführt. Es ist nicht möglich, ein neues Land mit den alten Eliten aufzubauen!!! Deswegen muss die Lustration streng sein und in allen Bereichen durchgeführt werden: Regierung, politische Parteien, Medien, Hochschulen, Macht- und Sicherheitsorgane, Gerichte. Das einzige, was mir bei Kasparow nicht so ganz klar ist: Wenn man direkt nach Putin keine Wahl durchführen soll, wer wird die Macht ausüben und die »Entsowjetisierung«, »Entkommunisierung«, »Entputinisierung«, etwas wie Nürnberg und die Lustration durchführen? Eine Provisorische Regierung?, Eine externe Verwaltung? Wer?«
Alexej Tabalow am 10. Januar 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/alexey.tabalov/posts/1194369017258864>.
Kaschin: Nach Putin brauchen wir keine »gute Diktatur«
»[…] Sehr gute Idee – sehr gut in dem Sinne, dass genau so proputinsche Flugblätter zu verfassen wären: Man fokussiert dabei nicht auf die Situation jetzt, sondern darauf, dass die »Reinigungsphase« erst morgen beginnt und dann niemand ungeschoren bleibt. Unter den überzeugten Anhängern des heutigen Regimes ist übrigens diese These in der Tat sehr verbreitet: Ja, Putin ist in vielem schlecht; es gibt aber das Risiko, dass es ohne Putin noch schlimmer wird. Nun tritt Kasparow auf die Bühne und sagt: Ja. ja, auf jeden Fall wird es schlimmer; ich werde alles tun, damit es schlimmer wird, da könnt ihr sicher sein.
Dabei hat ja niemand Zweifel, aber warum muss man es denn noch schlimmer machen? Die Verantwortung für Putin den Russen aufzuerlegen, das ist so eine Logik im Stalinschen Stil, eine, mit der diejenigen ins Lagern geschickt wurden, die in deutscher Gefangenschaft gewesen waren. Unfreiheit gegen Unfreiheit, Unfreiheit im Quadrat, Unfreiheit um der Unfreiheit Willen, das ist sinnlose und absurde Grausamkeit. Kasparow glaubt, dass die Russen das verdient haben Es ist sein Recht, das zu meinen. Es ist aber auch das Recht der Russen in einem Russland nach Putin, die Ansicht von Garri Kasparow zu missachten, umso mehr, als sie es verdient, dass man sie missachtet. […]
Viel wichtiger ist aber, dass die Herrschaft Putins in sechzehn Jahren nie das Ergebnis einer freien Wahl der Russen war: 1999 hat eine bestimmte Person Putin zum Nachfolger ernannt. Das System der administrativen, propagandistischen und polizeilichen Unterdrückung der Gesellschaft wurde bereits in den Neunzigern in Russland etabliert und ist seither noch nicht ins Stocken geraten. Der Verweis auf Putinsche Wahlen als Beleg einer allgemeinen Unterstützung Putins ist ein ebensolcher Zynismus wie Putinsche »Umfragen« zur Stromversorgung der Krim. Wenn das System Putin den Russen irgendwelche Vorzugsrechte gewährt hätte (Etwa ganz konkret: «Wir haben JuKOS ausgeplündert und hier, verehrte Russen, haben Sie alle hundert Dollar pro Person, jetzt sind Sie alle Teilhaber«; oder aber: »Hier bekommen Sie alle ein Grundstück auf der Krim, nun gehört die Krim Ihnen.«), dann hätte es noch einen Sinn ergeben, über kollektive Verantwortung zu diskutieren. So aber beschränkt dieses System die Freiheit der Russen, nimmt ihnen die Wahl und unterdrückt sie. Und dafür sollen die Russen auch noch die Zeche zahlen?
Putinsche und »mehr als Putinsche« Charakteristika bei den Putin-Kritikern weisen darauf hin, dass sie dieselbe Angst haben, wie Putin sie zweifellos verspürt. Die Angst, die Macht zu verlieren; die Angst, sich unmittelbar einem ungelenkten politischen Prozess gegenüber zu sehen. Die Versuchung, eine »schlechte« Diktatur durch eine »gute« auszutauschen ist Idealismus und Schweinerei zugleich […]
Zukunft bedeutet eben auch deshalb Zukunft, damit man nicht die notorischsten und bösartigsten Merkmale der Gegenwart dorthin mitschleppt. Eine Opposition, die Angst vor der Demokratie und dem Volk hat, ist eine schlechte, eine untaugliche Opposition. Wenn man Gedanken über das zukünftige Bild Russlands anstellt, sollte man nicht mit der Suche nach Schlupflöchern beginnen, die den Machterhalt auf eine Art garantieren würden, wie Putin derzeit seine Macht erhält.«
Oleg Kaschin am 14. Januar 2016 auf svoboda.org; <http://www.svoboda.org/content/article/27470299.html>.
Orlow: Wir werden weiter in der Putin-Ära leben
»[…] Eine erstaunliche Debatte beginnt da, meine Freunde, eine Debatte über »Russland nach Putin«. Der Grad der Unterstützung für Putin in der Gesellschaft ist sehr hoch – das ist allgemein bekannt. Recht offensichtlich ist auch, dass die sozialen und wirtschaftlichen Probleme, wenn sie sich verschärfen, eine entsprechende Proteststimmung hervorrufen und weiter hervorrufen werden. Es ist ein Leichtes zu prognostizieren, dass diese Proteststimmung in eine Unzufriedenheit mit den Regionaladministrationen (in einigen Regionen) und dem einen oder anderen Regierungsbeamten führen wird.
Und Putin? Ich bin der Überzeugung, dass er, selbst wenn seine Umfragewerte ein wenig eine Korrektur nach unten erfahren würden, ohne große Schwierigkeiten bei der Wahl 2018 den Sieg erringen wird. Der Präsident hat mehrmals selbst zu verstehen gegeben, dass er seine Teilnahme an den Wahlen 2018 nicht ausschließt. Angesichts seiner bekanntermaßen zurückhaltenden Äußerungen, kann man getrost annehmen, dass die Entwicklung der Dinge bereits vorentschieden ist. Die Verfassung setzt hier keine Einschränkungen. Folgerichtig würde das Thema »Russland nach Putin« erst im Jahr 2022 aktuell werden. Wir haben in der Putin-Ära gelebt, leben in ihr und werden in der Putin-Ära leben[…]«
Dmitrij Orlow am 11. Januar 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/dmitry.orlov.35/posts/759323914173720>.
Rubzow: Back from the USSR, zweite Runde
»[…] Wie auch immer man die Lage bewertet, erwartet uns in der mehr oder weniger nahen Zukunft eine zweite Auflage einer Form der Transformation, die dem Übergang aus der UdSSR ins neue Russland ähneln könnte, mit noch einem »Jelzin«, neuen »Neunzigern« usw. Das wird man durchmachen müssen, selbst wenn nach Putin das Land (oder was davon übrigbleibt) in eine noch seltsamere Form rutscht. Früher oder später werden wir wieder an der Wegscheide stehen, auf das eine oder andere besser vorbereitet als damals Anfang der Neunziger, aber auch, ohne in dieser Zeit der verratenen und nichtsnutzig konsumierten Freiheit etwas zu haben. […]
Einen Staat im eigentlichen Sinne gibt es nach wie vor nicht. Es sind dieselben Prothesen, die von einer schattenwirtschaftlichen Korporation gesteuert werden, die allgegenwärtig ist, aber keinerlei Verantwortung trägt, wie seinerzeit die KPdSU (dabei zieht heute der Führer die Funktionen und Befugnisse beinahe der ganzen Partei an sich). Die Wirtschaft der politischen Disziplin wurde von einer Kumpel- und Vetternwirtschaft abgelöst, was noch weiter von einem gleichwertigen Austausch entfernt ist. Die Korporation ist nicht in der Lage abgelöst zu werden und verantwortlich zu sein, deswegen steht ihr ein Abgang bevor, der nicht einfach sein wird, wonach der Staat auf bislang unklarer Grundlage wiederaufgebaut werden muss […]. Mit dem imperialen Pomp bricht auch dieser aggressive, offensive Kollektivismus zusammen. Das Sozialwesen zerfällt in Atome, die wohl allerhöchstens durch ein Pathos des Überlebens inspiriert werden. Die »von den Knien aufgestandenen« werden sich wieder in ihre Höhlen verkriechen und die zu einem unmöglichen Preis erkaufte nationale Würde verfluchen. Der Triumph des patriotischen Kollektivismus wird in einem Unbehagen über den jüngsten Zusammenschluss enden: Ehrliche Patrioten werden einander meiden und die Augen abwenden. Wenn die Vorräte dann zur Neige gehen, werden die aus den Machtstrukturen und die Propagandisten die ersten Überläufer sein[…].«
Alexander Rubzow 14. Januar 2016 auf vedomosti.ru; <http://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2016/01/15/62 4084-metafizika-vlasti-novii-ishod-sssr>.
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)