Über die Spaltung der Gesellschaft und die Rückkehr zur UdSSR
Darja Polygajewa (Village): Ich würde mit Ihnen gern darüber sprechen, wie sich unsere Gesellschaft nach den Ereignissen auf der Krim verändert hat. Sie haben vor Kurzem eine Umfrage durchgeführt, aus der hervorgeht, dass die Russen sich nicht mehr für ihr Land schämen: Nur noch 18 % der Befragten stimmen der Ansicht zu, dass »in Russland jetzt Dinge vor sich gehen, die mich dazu zwingen, mich für das Land zu schämen«. Woher kommt dieser Stimmungswandel?
Lew Gudkow: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass sich eine Gesellschaft in zwei Jahren nicht von Grund auf ändern kann, und wohl auch in zehn oder fünfzehn Jahren nicht. Gesellschaft, das ist eine riesige Menge von Leuten, die auf eine bestimmte Art und Weise organisiert ist und eine unglaubliche Trägheit besitzt. Wir stellen gewisse Schwankungen bei den Stimmungslagen fest, doch sind dies keine Veränderungen der grundlegenden Strukturen in der Gesellschaft. Die wichtigsten Institutionen, das, was das Unbewusste in der Gesellschaft ausmacht, das ändert sich nur sehr langsam. Wir reproduzieren in hohem Maße Bewusstseinsstrukturen nicht nur aus sowjetischer, sondern sogar aus vorsowjetischer Zeit. Wenn Sie Saltykow-Schtschedrin lesen, dann werden Sie erkennen, wie dauerhaft die Grundstrukturen der Gesellschaft sind. Er hat beispielsweise lange vor Orwell von Zwiedenken gesprochen, die aus einer repressiven und unentwickelten Gesellschaftsstruktur heraus entstehen.
V.: In den letzten zwei Jahren, in der »Zeit nach der Krim«, entstand der Eindruck, dass es in der Gesellschaft eine Spaltung gegeben hat, auf der einen Seite diejenigen, die »für die Krim« sind, und auf der anderen Seite jene, die dagegen sind. Man hat das Gefühl einer Konfrontation.
L.G.: Spaltung ist vielleicht zu viel gesagt. Die massive antiwestliche Propaganda hat ja nicht erst im Zusammenhang mit der Krim begonnen, sondern bereits nach den Massenprotesten 2011/12. Ziel der Propaganda war es, die Protestbewegung in der Gesellschaft zu diskreditieren. Die antiwestliche und antiliberale Kampagne war Grundlage der antiukrainischen Propagandawelle. Diese war ein Versuch, dem ukrainischen Regime den Stempel »Faschismus« aufzudrücken und jene Haltungen zu diskreditieren, durch die diese Bewegung motiviert war: Annäherung an den Westen, Aufbau eines Rechtsstaates, Änderung des korrupten Regimes.
Die Propaganda erdrückte jede Unterstützung für Parolen der Protestbewegung, die eine erhebliche Breite hatte: 2012 hatten sich rund die Hälfte der Russen deren Losungen anschließen können. Alexej Nawalnyjs berühmter Formulierung » ›Einiges Russland‹ ist die Partei der Gauner und Diebe« stimmten in der Spitze rund 45 % der Befragten zu, ungefähr ebenso viele, 40–45 %, lehnten sie ab; es gab also ein gewisses Gleichgewicht. Anschließend ging die Unterstützung zurück, auf 41 %, noch später dann erinnerten sich die Leute nicht mehr daran. Die Propaganda hatte die Aufmerksamkeit auf den Mythos einer Konfrontation Russlands mit der restlichen Welt gelenkt, auf das Gefühl, dass uns alle angreifen würden und wir uns »von den Knien erheben« und Widerstand leisten. Dieses Gefühl des Drucks klammerte jede Kritik an der Regierung aus, alle Probleme des Alltagslebens und der aufkommenden Wirtschaftskrise – und es ließ das Niveau der Selbstachtung steigen: »Seht her, wir sind wieder wer!«. Das Gefühl, dass man als Nation bravourös vorpresche, wurde künstlich gefördert, indem ein mythischer Feind nach dem anderen auftauchte. Erst gab es die »ukropy« [iron. f. »ukrainische Patrioten«], dann die »amerikosy« [dt. ungefähr: »Amis«], dann irgendwelche Islamisten, und dann kamen die türkischen Tomaten gerade recht.
V.: Sie meinen also nicht, dass es eine Spaltung der Gesellschaft gegeben hat?
L.G.: Wir haben es nicht mit einer Spaltung zu tun, sondern mit einem Erregungszustand. Das ist keine Änderung der Bewusstseinsstruktur, sondern einfach ein Registerwechsel. Sie werden sich ja auch nicht in Ihrem tiefsten Innern ändern, wenn Sie durch etwas erschreckt werden, wenn ihr Adrenalin ausgeschüttet wird. Der emotionale Aufschwung wird durch eine negative Mobilisierung künstlich gestützt, schwächt sich nun aber wieder ab. Ich würde hier eine Unterscheidung vornehmen, und zwar zwischen den emotionalen Bewertungen, der Intensität, mit der sie geäußert werden, und der Bereitschaft, für seine Überzeugungen einzustehen. Selbst auf dem Höhepunkt der antiukrainischen Kampagne waren höchstens zehn Prozent der Russen bereit, etwas dafür zu geben: die Kosten zu tragen, zum Beispiel, oder in den Donbass zu fahren oder die eigenen Kinder dorthin zu schicken. Eine Mehrheit von 70 % aber sagte: »Nein, sollen doch die da oben zahlen«.
V.: Wie dem auch sei – wir alle tragen jetzt die Kosten: Wir stehen unter Sanktionen und stecken in der Wirtschaftskrise. Wenn ich das richtig verstehe, gehen die Umfragewerte der Regierung dadurch aber nicht zurück.
L.G.: Sie gehen nicht zurück, weil die Russen ein völlig anderes Verhältnis zur Politik haben. Politik, das ist eine andere Existenzebene, zu verstehen als große Vergangenheit, heroische Geschichte. Putin ist dort im Ranking von »Forbes« ein einflussreicher Führer von Weltrang. Wenn man jedoch aus dem internationalen Kontext in den innerrussischen wechselt, stellt sich heraus, dass Putin Chef eines höchst korrupten Regimes ist und weder beim Kampf gegen den Terror noch bei der Verbrechensbekämpfung besondere Erfolge vorzuweisen hat. In der Wirtschaft stehen die Zeichen auf Scheitern.
V.: Die Russen nehmen ihn aber nicht als Chef eines korrupten erfolglosen Staates wahr…
L.G.: Weil ihre gesamte Erfahrung aus der Sowjetzeit stammt, die Erfahrung, sich in einem repressiven Staat einzurichten, der Unwillen, sich aus seiner Nische hervorzuwagen, Verantwortung für die Lage der Dinge im Land zu übernehmen, sich in der Politik und im öffentlichen Leben zu beteiligen. Daher dominiert die Vorstellung von der Landesführung als einer völlig anderen Gruppe von Menschen, die ihren eigenen Interessen nachgehen und die nicht zu beeinflussen ist. Die Staatskasse ist unersättlich, ein Fass ohne Boden. Können Sie auf Entscheidungen in Russland Einfluss nehmen?
V.: Direkt? Natürlich nicht.
L.G.: Können Sie auf die Verteilung [der Haushaltsmittel] Einfluss nehmen? 2016 werden unsere Ausgaben für Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung zurückgefahren, die für den Sicherheits- und Machtapparat jedoch steigen. Können die Leute dieses Verhältnis beeinflussen? Natürlich sind sie der Meinung, dass das Geld für die Sozialpolitik und die Entwicklung der Infrastruktur ausgegeben werden sollte, aber wer hört schon auf sie?
V.: Wenn die Leute verstehen würden, wie die Mechanismen der Zusammenarbeit mit der Regierung in anderen Staaten funktionieren, wenn sie verstünden, dass es eine Staatsduma gibt, die ihre Interessen vertreten soll…
L.G.: Die Leute denken, dass die derzeitige Regierung die Interessen der Sicherheits- und Machtapparate, der Oligarchen und der Bürokratie bedient und nicht die Interessen der großen Mehrheit vertritt. Daher denkt die große Mehrheit: Der Zar ist weit und wir sind nur kleine Leute.
V.: Wenn die Leute das verstehen, warum unterstützen sie dann eine solche Regierung?
L.G.: Weil es keine Vorstellung von einer Verbindung zur Regierung und von deren Verantwortlichkeit gibt. Demokratie ist eine besondere Art Staatsgebäude. Sie ist nicht nur eine politische Konstruktion, sondern auch ein bestimmter Typ von Kultur, in der die Leute über ein Gefühl der eigenen Würde verfügen, und über ein Recht auf die Ansicht, dass die Staatsmacht, die Regierung von ihnen abhängt. Bei uns ist es genau entgegengesetzt. Die Leute sind das Verbrauchsmaterial der Staatsmacht, und so verhalten sie sich auch. »Mögen – mehr noch als andere Betrübnisse – an uns vorüberziehen der Herren Zorn und der Herren Liebe« – so sieht das Lebensprinzip aus.
V.: Sie ziehen eine Verbindung zwischen diesem Lebensprinzip und den Erfahrungen der Sowjetzeit. Aber es ist doch inzwischen eine neue Generation groß geworden, die die Sowjetmacht nicht mehr erlebt haben. Warum haben auch die solche Ansichten?
L.G.: Weil die wichtigsten Institutionen, unabhängig von Generationswechseln, erhalten bleiben. Wichtig ist die Struktur der Gesellschaft, also die beständig wirkenden Regeln, Was ist eine soziale Institution? Es ist ein hartnäckiges System von Wechselbeziehungen, das sich unabhängig von individuellen Menschen in seinem Bestand reproduziert. Es ist ein rigides System von Regeln, die die Leute befolgen, ohne darüber nachzudenken oder in der Lage zu sein, sie zu ändern. Wichtig ist nicht, dass neue Generationen kommen, sondern die Frage, wie neue Generationen diesen Regeln unterworfen werden. Das ist ein Effekt, der in der russischen Literatur hervorragend beschrieben ist. Erinnern Sie sich, was mit dem jungen Helden in Gontscharows »Eine alltägliche Geschichte« passiert? Mit dem Laufe der Zeit bleibt nur wenig von dem Idealismus und der Romantik jenes Menschen aus der Provinz, der nach Petersburg kommt und dort seinen Dienst antritt. Ein solches systematisches Brechen junger Leute geschieht auch in unserer Zeit. Woher nehmen Sie die Vorstellung, dass die jungen Leute andere Ansichten hätten?
V.: Nun, sie haben nicht das Leben in der Sowjetzeit erfahren.
L.G.: Und wenn schon. Hat sich die Haltung zur Staatsmacht etwa so gravierend verändert? Drängt es die jungen Leute, sich für ihre Vorstellungen einzusetzen? Gab es 2011/2012 etwa unter den Protestierenden viele junge Menschen?
V.: Es gab viele.
L.G.: Und ich sage, dass es nicht viele waren. Wir haben seinerzeit Umfragen durchgeführt, und die meisten der Protestierenden waren zwischen 45 und 55 Jahre alt. Junge Menschen waren dort nur zu 12–15 % vertreten. In Wirklichkeit hat dort eine Generation schon gereifter, gebildeter Menschen protestiert, die bereits einen gewissen sozialen Status erreicht hatten und nun verstanden, was ihnen bei einer weiteren Präsidentschaft Wladimir Putins droht. Die jungen Leute blieben jedoch recht passiv und unbeteiligt. Alle sozialen Veränderungen setzen dann ein, wenn die Jungen in das gesellschaftliche Leben eingreifen, aber bei uns geschieht das nicht. Die Jugend will Geld verdienen und gut und fröhlich leben.
V.: Warum ist der Anteil der Leute, die verstehen, worauf das alles hinausläuft und wie die Staatsmacht strukturiert ist, in Russland so gering? Die Leute wollen einfach nicht denken?
L.G.: Ja, weil denken gefährlich ist. Das ist keine aktuelle Furcht, sie entstammt nicht den Erlebnissen der letzten Jahre. Das ist eine versteinerte Furcht, eine vertraute, gewohnte, die noch auf die Sowjetzeit zurückgeht, ja sogar auf noch frühere Zeiten. Wenn man dieses Knäuel aufdröselt, ergibt sich ein recht komplexes Bild.
Beginnen wir damit, dass alles Gerede über die Perestroika, davon, dass 1991 bei uns eine Revolution stattgefunden habe, meiner Ansicht nach keiner Kritik standhält. Die grundlegenden Institutionen, die die Struktur der Gesellschaft sichern, haben sich gar nicht so radikal verändert. Am stärksten haben sich natürlich die wirtschaftlichen Beziehungen gewandelt. Zu einem gewissen Grad haben sich Marktmechanismen etabliert, auch wenn jetzt eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung auszumachen ist. 1999, nach all den Reformen, betrug der Anteil des Staates an den Vermögenswerten, sagen wir mal, etwas mehr als ein Viertel. Heute kontrolliert der Staat fast 60 %. Der staatliche Anteil an der Wirtschaft hat also drastisch zugenommen, und dementsprechend ist auch der Staatsapparat angewachsen, wie auch das, was bei uns fälschlicherweise als Mittelschicht bezeichnet wird. Dennoch ist das keine Planwirtschaft, sondern eine Art Staatskapitalismus mit marktwirtschaftlichen Elementen.
Das System der Kommunikationswege hat sich verändert, auch rein technisch gesehen. Es gibt jetzt Dinge, die hat es früher nicht gegeben: Handys, Internet… Die Massenkultur hat sich verändert, sie wird nicht mehr wie zu Sowjetzeiten zensiert, niemand schreibt einem vor, was zu veröffentlichen ist. Ich meine hier nicht die Informationsmedien, denn gerade da ist die Zensur in vollem Umfang wieder eingeführt worden, wenn auch keine so totale wie in der UdSSR.
Insbesondere hat sich der Massenkonsum verändert, in diesem Bereich hat es wirklich einen revolutionären Wandel gegeben. Die Struktur der Staatsmacht jedoch, und die Institutionen, auf die sie sich stützt, also die Gerichte, das Rechtssystem, Polizei und Justiz, die Armee und das Bildungssystem, die sind praktisch unverändert geblieben. Die Bezeichnungen hat man ausgetauscht, aber die Konstruktion einer zentralisierten, von der Bevölkerung in keiner Weise kontrollierten Staatsmacht ist vollständig erhalten geblieben. Daher läuft jetzt der Rückschritt, also eine Reproduktion sowjetischer Praktiken, derart reibungslos ab.
Einige Veränderungen gibt es natürlich auch in diesem Bereich, es gibt nicht mehr »Gosplan« [staatliche Wirtschaftsplanungsbehörde der UdSSR], es gibt nicht mehr den Verfassungsartikel, der das Monopol und die Führungsrolle der KPdSU festschreibt. Ein politischer Wettbewerb ist aber auch nicht entstanden, und da es keinen Pluralismus gibt, wird in der öffentlichen Meinung keine Diskussion zu der Frage geführt, wie denn die Ziele der nationalen Entwicklung aussehen könnten, mit welchen Mitteln und um welchen Preis diese Ziele erreicht werden sollten, und wer für die Umsetzung verantwortlich sein soll. Dieser ganze Bereich ist der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit schlichtweg entzogen worden. Das Regime hat sich gleichsam das Recht angeeignet, monopolartig von kollektiven Werten und Interessen zu reden, wobei alles andere, so das Regime, Teufelswerk ist: entweder Liberale, oder Schreihälse, oder fünfte Kolonne.
Da nun dieser ganze Bereich unterdrückt wurde, ist die Problematik im Bewusstsein der Leute praktisch abgeschaltet. Hat denn irgendjemand die Frage gestellt, warum es zu [dem Einsatz in] Syrien gekommen ist? Wozu wir »türkische Ufer« brauchen? Niemand, alle schweigen. Zu welchem Preis wird der Krieg geführt? Davon redet niemand. Wenn wir die Russen hierzu fragen, ist es schlicht und einfach so, dass sich die Mehrheit weigert zu antworten, weil sie keine Meinung dazu hat; die wird nirgends repräsentiert. Das ist ein sehr wichtiges Moment: Was sind die Quellen für Meinungen, wenn es in der Gesellschaft keine Vielfalt gibt, keine Diskussion, keine unterschiedlichen gewichtigen Standpunkte?
Über die Wirksamkeit der Propaganda
V.: Deshalb ist die Propaganda in Russland so effektiv?
L.G.: Die Propaganda funktioniert wegen dreier sehr wichtiger Bedingungen. Eine habe ich schon genannt, das Umlenken von alltäglichen Fragen auf mythologisierte. Damit aber diese Umlenkung erfolgen kann, müssen zwei wichtige Punkte gegeben sein. Zum einen muss das Gefühl einer wachsenden Krise im Land erzeugt werden, ein Gefühl, dass wir uns einer Katastrophe nähern. Eine solche Atmosphäre führt dazu, dass in der Gesellschaft Angst und Ungewissheit entstehen. Die Propaganda reproduziert systematisch solche Situationen, allein schon dadurch, dass sehr viele Fragen überhaupt nicht erörtert werden. Das Regime trifft Entscheidungen, ohne diese zu erklären oder die Leute in Kenntnis zu setzen. Daher befinden sich die Menschen die ganze Zeit in einem gewissen Erwartungszustand: Jetzt werden die Preise erhöht und das Rentenalter angehoben, die Betriebskosten der Wohnungen werden steigen, das Parken wird kostenpflichtig… Dieses Gefühl chronischer Verwundbarkeit und Schutzlosigkeit gegenüber dem Regime und allen seinen Entscheidungen erzeugt eine ständige, latente Alarmiertheit und die Erwartung, dass etwas Übles kommt. Eine weitere Bedingung ist die Diskreditierung aller nicht offiziellen Informationsquellen: Man kann niemandem trauen, alle sind Schweine.
Man ist verunsichert und jede Position, die von der offiziellen abweicht, wird in Zweifel gezogen. Und was kann jemand zu dem sagen, was in der Ukraine geschehen ist, auf dem Maidan oder im Donbass, wenn er alle Informationen nur über die Glotze bezieht? Er weiß genau, dass die Preise steigen, weil er das selbst überprüfen kann, aber was kann er über die Misshandlung adoptierter Kinder in Amerika wissen? Er kann es nur glauben, oder auch nicht – überprüfen kann er es nicht. Dadurch ist in der Gesellschaft ein Gefühl des Halb-Glaubens, Halb-Misstrauens entstanden, und die Wahrnehmung, dass alle lügen.
Darüber hinaus arbeitet die Propaganda jetzt mit der Idee der Einheit: »Du und ich sind vom selben Blut, wir sind Brüder.« Ungefähr das Gleiche meint das Wort »Faschismus«, denn »fasces« bedeutet »Rutenbündel«, »Bund«. Worauf gründete sich der patriotische Aufschwung? Es wurde die Idee der geteilten Nation eingeführt: »Die Krim ist unser«, »Die Krim hat schon immer zu Russland gehören sollen«, »Wir müssen unsere Landsleute schützen, ganz gleich, ob sie in einem anderen Staat leben«, »Wir haben das Recht, uns in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen«. Es wird die im Grunde archaische Vorstellung von einer Einheit des Blutes, der Herkunft etabliert, die alle Gedanken an Institutionen, an internationales Recht und an Moral nivelliert. Das führt die Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft ins äußerst Primitive.
V.: Was Sie da beschreiben, gilt für die Mehrheit der Russen, die keinen Zugang zu alternativen Informationsquellen haben. Aber es gibt ja auch Leute, die nicht so oft oder überhaupt nicht fernsehen. Betrachten die alles, was vor sich geht, mit kritischerem Bewusstsein?
L.G.: Vor zwölf, dreizehn Jahren hat man noch sagen können, dass sich Internetnutzer hier von allen anderen erheblich unterscheiden. Heutzutage, da 55 oder mehr Prozent der Russen das Internet täglich nutzen, sind alle Unterschiede verwischt. Zudem sind unter ihnen noch weniger Leute zu finden, die sich für Politik interessieren. Was meinen Sie, wie viele Russen haben zu alternativen Informationsquellen griffen, um einen anderen Standpunkt zu dem kennenzulernen, was im Donbass oder auf dem Majdan geschieht?
V.: Ein Prozent?
L.G.: Allerhöchstens anderthalb; das ist weit weniger als die Fehlergrenze unserer Messungen.
V.: Es gehört einfach nicht zur Gewohnheit unserer Mitbürger, sich Informationsquellen gegenüber kritisch zu verhalten und Informationen aus unterschiedlichen Medien zu beziehen…
L.G.: Es fehlt das Interesse. Worin liegt denn der Sinn der Mobilisierung rund um die Annexion der Krim? Sechzig Prozent der Russen unterstützten das Vorgehen der Regierung, das war nicht das Problem. Die Krim hat die Bevölkerungsteile gespalten, die die Parolen des Bolotnaja-Platzes [der Proteste 2011/2012; d. Red.] teilt: Durch diese Operation unterstützt nun ein sehr großer Teil der Leute, die eine negative Haltung zur Regierung gehabt hatten, die Putinsche Politik.
In Spitzenzeiten haben 87 % der Russen die Entscheidung [zum Vorgehen auf der Krim] gutgeheißen, dagegen waren nur 7 %. Die Gegner der Annexion sind gebildet und zwischen 40 und 50 Jahre alt, verfügen über einen großen Kreis an Informationsquellen; sie schämten sich für die Entscheidung der Regierung. Eine große Mehrheit unterstützte diese Entscheidung, weil sich dort sowjetische Haltungen als sehr relevant erwiesen. Das Gefühl, zu einer Großmacht zu gehören, denn das war es, was hinter der Eingliederung der Krim stand, kompensierte das chronische Gefühl der Erniedrigung, der Verwundbarkeit und der fehlenden Sicherheit im sozialen Bereich. Hier geht es um das, worüber wir am Anfang gesprochen haben: eine Reduzierung des Schamgefühls oder eine Erhöhung des Stolzes. Das sind keine voneinander getrennten Gefühle, sondern kommunizierende Röhren.
Wir erforschen dieses Thema seit 1989 und fragen in regelmäßigen Abständen: »Worauf sind Sie stolz?« und »Wofür schämen Sie sich?«. Wir sehen, dass es die gleichen Antworten gibt: ein großes Land, aber wir leben arm und verroht. Wir sind auf den Sieg im Krieg stolz, auf die Raumfahrt, die Literatur, und schämen uns für Armseligkeit, Grobheit, die Abhängigkeit von der Staatsmacht, für Armut und Rückständigkeit. Das Gefühl der Teilhabe an einer Großmacht und einer großen Vergangenheit kompensiert das alltägliche Gefühl der Erniedrigung.
Ausländer sagen manchmal: »Das ist schizophren, das passt doch nicht in einem Kopf zusammen!«. Es ist aber genau so: Es sind zwei Seiten ein und desselben Komplexes. Nur, dass im einen Fall der Mensch sich wie ein einzelnes, isoliertes Wesen fühlt, und im anderen fühlt, dass er Teil einer Mythologie historischer Ereignisse ist, bei denen nicht einzelne Menschen handeln oder wirken, sondern Mächte, Geopolitik, die große Geschichte; da ist kein Platz für kleine Probleme. Dieser Kompensationsmechanismus funktioniert auf allen Ebenen, zu Sowjetzeiten gab es sogar folgendes Lied: »Dafür bauen wir Raketen und haben den Jenissej gestaut«.
Über die Krise und Bereitschaft zum Protest
V.: Sie haben gesagt; dass trotz der allgemeinen Unterstützung für die Eingliederung der Krim 70 % der Russen nicht bereit waren, dafür zu bezahlen. Wie ist jetzt deren Haltung zur Wirtschaftskrise?
L.G.: 70 % der Russen meinen, dass im Land eine tiefgreifende und langandauernde Krise beginnt. Wann sie beendet sein wird, können die meisten nicht sagen. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen reagieren unterschiedlich auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Am schwersten haben es die Geringverdiener, für die das größte Problem die steigenden Lebensmittelpreise darstellen, denn die Inflation hat dort die Zwanzig-Prozent-Marke überschritten. In anderen sozialen Gruppen verzichtet man auf Reisen in die Türkei oder nach Ägypten, nicht nur wegen der Terroranschläge, sondern auch, weil das Geld fehlt. Andere verzichten auf teure Medikamente oder Arztbesuche, wiederum andere auf den gewohnten Korb an Lebensmitteln. Noch jemand sagt: »Unser Kühlschrank ist nicht kaputt, wir kaufen noch keinen neuen.«
Gleichzeitig lässt sich sagen, dass die Leute gewisse Reserven an Geduld und Hoffnung haben. Es gibt da die Ansicht, dass das Land ungefähr von 2002 bis 2012 so gut gelebt hat wie noch nie in seiner Geschichte. Natürlich war die Verteilung [des Wohlstands] höchst ungleichmäßig: Die besser Situierten bekamen das größere Stück vom Kuchen. Dennoch ist der Lebensstandard bei allen gestiegen, und das hat für eine Gewissheit gesorgt, dass es immer so sein werde. Die Verdienste hierfür wurden Putin zugeschrieben – vor allem hierauf beruht sein Ansehen. Der angesammelte Speck bleibt und lässt die Leute geduldig sein.
V.: Und wen macht man für die Verschlechterung der Wirtschaftslage verantwortlich?
L.G.: Anfangs nannten die Leute als Grund für die Krise die gesunkenen Ölpreise. Der zweite wichtige Faktor sind nach Meinung der Russen die Sanktionen des Westens, an denen der Westen die Schuld trage. Der dritte Grund, der immer häufiger genannt wird, sind die Kosten für die Krim. Das meinen bereits 20–25 % der Befragten.
V.: Und die Vertreter der Staatsmacht Russlands werden von den Bewohnern des Landes nicht dafür verantwortlich gemacht, dass es zur Krise kam?
L.G.: In dieser Situation wirkt ein Entlastungsmechanismus, der das Regime von der Verantwortung befreit. Zum einen ist den Leuten nicht klar, dass man auf dieses Regime einwirken kann. Zum anderen haben die Leute gelernt geduldig zu sein. Wir nennen diesen Mechanismus reduzierende Adaption, wenn nämlich jemand sich an eine Situation anpasst, indem er seine Ansprüche senkt. Ausdauer ist hier nicht nur die Fähigkeit, etwas physisch zu ertragen, es bedeutet eine Absenkung der Ansprüche an das Leben, und dementsprechend auch an die Regierung.
Im vergangenen Herbst herrschte wegen des Rubelverfalls schlichtweg Panik, doch zum Januar 2015 war es der Regierung gelungen, den Rubelkurs zu stabilisieren; da atmeten alle auf und sagten: »Na, die Krise ist wohl vorbei«: Die Krise ist zwar noch nicht vorbei, aber es gibt keine Panik mehr. Die Menschen gewöhnen sich an die Idee, dass sich alles langsam verschlechtern wird, und sie bleiben dennoch duldsam. Das bedeutet nicht, dass einzelne Gruppen sich nicht »hochgehen« werden. Ein Beispiel sind die Fernfahrer. Der Mittelstand tobt zwar noch nicht, ist aber schon wütend.
V.: Sind angesichts der Krise Proteste möglich?
L.G.: Proteste wird es geben, aber sie werden unterschiedlicher Art sein. Die Frage ist, ob es eine Bewegung geben wird, die sie koordiniert. Proteste an sich sind nicht schlimm. Das Regime wird mit ihnen auf jeden Fall, sei es mit geringerem oder größerem Aufwand, fertig werden. Was das Regime konsequent nicht zulassen will, das ist die Idee einer organisierten, geschlossenen Protestbewegung.
V.: Der Protest der Fernfahrer wurde ja, wenn ich das richtig verstehe, von einer Mehrheit der Moskauer unterstützt?
L.G.: Er wurde von 70 % der Moskauer gutgeheißen. Eine russlandweite Umfrage haben wir bislang noch nicht durchgeführt.
V.: Könnte es vor den Dumawahlen im Herbst 2016 zu Protesten kommen?
L.G.: Ich werde hier keine Spekulationen anstellen: Ich weiß es nicht. Schließlich wäre das von konkreten Anlässen abhängig. Bislang – wenn man sich unsere Daten anschaut – ist erkennbar, dass die Bereitschaft, sich an einer Protestbewegung zu beteiligen, eine flach abfallende Kurve bildet.
Über die Umfragewerte des Regimes
V.: In letzter Zeit sind die Umfragewerte der Staatsduma gestiegen. Die Zustimmung liegt jetzt bei rund 50 %. 2011 waren es 37 %. Warum?
L.G.: Das ist der Krim-Effekt, der sich genauso lange halten wird, wie der Mobilisierungszustand andauert.
V.: Kann »Einiges Russland« jetzt ebenfalls einigermaßen anständige Umfragewerte vorweisen?
L.G.: »Einiges Russland« wird nicht als eigenständige Kraft wahrgenommen und ist eine von Putins Ansehen abhängige Größe. Verbesserten sich Putins Umfragewerte, zog das dementsprechend alles andere mit sich nach oben.
V.: Ein Kollege von Ihnen hat in der Zeitung »Wedomosti« über die Umfragewerte Putins geschrieben. Er hebt hervor: Obgleich 80 % der Russen Putins Vorgehen gutheißen, würden nur etwas weniger als 60 % ihm vertrauen, und nur rund 55 % bei den nächsten Wahlen für ihn stimmen. Was sagen uns diese Zahlen?
L.G.: Die Haltung zu Putin ist recht uneinheitlich. Bei der Antwort auf die Frage »Welche Gefühle löst Putin bei Ihnen aus?« sprechen zwischen zwei und sechs Prozent der Befragten von Liebe oder Begeisterung, wobei der Höhepunkt im Jahr 2008 lag, nach dem Georgien-Krieg. Die Sympathie für Putin hält sich gleichermaßen: sie wird von 30–40 % geäußert, die Spitzenwerte entfallen hier ebenfalls auf Mobilisierungsphasen. Die Grundlage für Putins Umfragewerte besteht aus distanzierten Haltungen und Einschätzungen wie »ich kann über ihn nichts Schlechtes sagen«. Das ist die tragende Konstruktion aller autoritärer Regime: Apathie, Passivität und Distanziertheit.
Die Krise von 2008 hat sich nicht stark auf seine Umfragewerte ausgewirkt, aber danach gingen die Werte langsam zurück. Meiner Meinung nach verweist das bereits auf einen Delegitimierungsprozess und eine unaufhaltsame Abschwächung der Unterstützung für ihn. Die Olympischen Spiele von 2014 haben diesen Prozess gestoppt, es erfolgte ein drastischer Sprung, ungefähr wie der, den es nach dem Amtsantritt des Präsidenten angesichts der Explosionen von 1999 [der Sprengstoffanschläge auf Wohngebäude in Moskau und anderen Städten; d. Red.] gegeben hatte. Einen solchen Aufschwung gibt es nur selten und ist Anzeichen für einen sehr außergewöhnlichen Zustand der Gesellschaft. Anschließend haben sich die Werte gehalten, Vorwürfe gegen die Regierung wurden schwächer.
Der Index der sozialen Stimmungen gibt die Atmosphäre genauer wieder. Hierzu gehören recht viele Fragen: die Bewertung der Einstellung zum Regime, zur wirtschaftlichen und politischen Situation, die Zukunftserwartungen etc. Das ist ein sehr sensibler Indikator, der es ermöglicht, ungefähr auf einige Monate im Voraus das Eintreten massiver Veränderungen vorauszusagen. Als Putins Werte langsam zu sinken begannen, war die Einschätzung der Lage des Landes nahezu katastrophal. Sie erholten sich dann schnell, und dann folgte wieder eine Verschlechterung. Dann passierte die Krim, und der Index stieg wieder. Im Herbst 2014, als der Rubel abstürzte, gab es einen erneuten Rückgang. Der wurde im Januar aufgehalten, und nun sehen wir eine schleichende Verschlechterung. Das ist es, was wir zu erwarten haben.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder