Gefangen in Informalität. Kleine und mittlere Unternehmen im russischen Kapitalismus

Von Alexandra Vasileva (Amsterdam)

Zusammenfassung
Trotz staatlicher Übergriffe auf Privateigentum haben in Putins Russland die kleinen Unternehmen nicht an Bedeutung als Wirtschaftsakteure verloren. Sie begegnen den Bedrohungen durch den Staat mit zwei sich gegenseitig ausschließenden Strategien, einer formalen und einer informellen. Diejenigen Unternehmen, die die informelle Strategie verfolgen, befinden sich in einer rechtlichen Grauzone. Das Damoklesschwert potentieller staatlicher Sanktionen treibt sie dazu, eventuell auftauchende Probleme mit den Behörden weiterhin informell zu lösen. Dadurch geraten die Unternehmer in die Informalitätsfalle und werden Geisel des auf unsicheren Eigentumsrechten basierenden Teufelskreises.

Kleinunternehmer unter den Bedingungen unsicherer Eigentumsrechte

Unsichere Eigentumsrechte sind eines der »Markenzeichen« der russischen politischen Ökonomie (Grafik 1). Unter Präsident Putin haben insbesondere die staatlichen Übergriffe auf Privateigentum zugenommen, zum Beispiel mittels Erpressung durch die Bürokratie, mit juristischen Schikanen und sogar durch »rejderstwo« (räuberisch feindliche Übernahme von Unternehmen mit Hilfe von Polizei und Justiz). Sowohl große Konzerne als auch kleinere Firmen sind von solchen Übergriffen betroffen. Vor wenigen Tagen erst wurden im Moskauer Zentrum in einer Nacht-und-Nebel-Aktion um die hundert Kioske abgerissen. Die Gebäude wurden in Rückgriff auf ein kürzlich erlassenes Gesetz als »eigenmächtig« gebaut eingestuft und mussten ohne Vorwarnung den staatlichen Bulldozern weichen. Dutzende Eigentümer haben ihren Besitz und Hunderte Mitarbeiter ihre Jobs verloren.

In diesem Kontext mag überraschen, dass die Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen (im Folgenden »KMU«) im letzten Jahrzehnt kontinuierlich gestiegen ist und ihr Anteil an der Beschäftigung zugenommen hat (siehe Grafiken 2 und 3). Freilich können verschiedene Faktoren für diesen positiven Entwicklungstrend verantwortlich sein, die hier allerdings nicht alle näher benannt werde können. In der Tat ist der Anteil der KMU an der Wirtschaft insgesamt gering (zirka 20 % des Bruttoinlandsprodukts und 25 % der Beschäftigten, verglichen mit jeweils über 50 % in westlichen Marktwirtschaften), so dass das Wachstum im Zuge des Wirtschaftsbooms der 2000er Jahre, das von einem sehr niedrigen Niveau ausging, nicht überrascht. Insgesamt lässt sich aber aus dem Wachstumstrend der KMU schließen, dass die Firmen sich an das ungünstige Geschäftsklima angepasst haben.

Welche Strategien haben kleine und mittlere Unternehmen entwickelt, um den Bedrohungen durch den Staat zu begegnen? Dazu habe ich im Frühjahr 2014 insgesamt 23 kleine russische Unternehmen zu ihren Geschäftsmodellen und zum Umgang mit Behörden befragt, sowie elf Experten interviewt, darunter Leiter von Wirtschaftsverbänden, Juristen, Wirtschaftsjournalisten und Wissenschaftler.

Zwei Strategien der Unternehmen und zwei Gesichter des Staates

In Russland werden oft zwei Hauptformen wirtschaftlicher Tätigkeit unterschieden, »weiß« und »grau« (die dritte, seit dem Ende der 1990er Jahren seltener werdende Form »schwarz« bezieht sich auf Akteure, die gänzlich in der Schattenwirtschaft agieren). »Weiße« Firmen führen ihr Geschäft grundsätzlich im Einklang mit dem Gesetz und greifen bei Konflikten mit den Behörden zu juristischen Mitteln (zum Beispiel Gerichtsverfahren). »Weiße« Firmen verhalten sich größtenteils konform. »Graue« Firmen hingegen machen von diversen Schattenpraktiken Gebrauch: Sie hinterziehen Steuern oder greifen bei Problemen mit den Behörden auf korrupte »Lösungswege« zurück. »Graue« Firmen verfolgen meist informelle Strategien.

Dieser Dichotomie der Firmenstrategien steht eine gewisse Zwiespältigkeit des russischen Staates gegenüber. Dieser stellt einerseits eine formale Institution dar, die zumindest theoretisch unparteiisch und im Interesse des Allgemeinwohls agiert. Andererseits besteht er aus einer Anhäufung einzelner Bürokraten, die nicht selten Partikularinteressen verfolgen und sich formaler Gewaltinstrumente des Staates als Mittel zum Zweck der eigenen Bereicherung bedienen.

Während der Staat sich sowohl der formalen als auch der informellen Machtinstrumente bedienen kann, schließen sich für Unternehmen die formale und die informelle Strategie in der Praxis oft gegenseitig aus. Wie weiter unten erläutert wird, geraten KMU dadurch oft in eine »Informalitätsfalle«, in einen Teufelskreis des informellen Verhaltens, das die Unsicherheit der Eigentumsrechte noch weiter verschärft.

»Formale Strategie« im Umgang mit Behörden

Die formale Verhaltensstrategie ist der sicherste Weg, Unannehmlichkeiten mit den Behörden zu minimieren, auch wenn sie keine Garantie gegen staatliche Willkür darstellt (Interview: Jurist L2). Vor allem größere Firmen verhalten sich gegenüber den Behörden »konform«, da sie sich professionelle Buchhalter und Juristen leisten können. Firmen mit hoher Profitabilität, zum Beispiel in der Pharma-Branche, oder Unternehmen, die keiner starken Konkurrenz ausgesetzt sind, zum Beispiel Hersteller von einzigartigen Produkten oder beliebten Marken, können es sich ebenfalls leisten, im Rahmen des Gesetzes zu agieren. Auch die Branche spielt eine Rolle: Firmen im Dienstleistungssektor haben typischerweise weniger Kontakt mit den kontrollierenden Behörden und sind daher weniger Korruptionssituationen ausgesetzt. Außerdem können solche Firmen korrupte Aktivitäten »outsourcen«: So engagieren beispielsweise Handelsfirmen professionelle »Berater«, die die zu importierende Ware durch den notorisch korrupten Zoll bringen (Interview: Unternehmer B3). Ein anderes Beispiel sind PR-, IT- oder andere Dienstleistungsfirmen, die ihre Büroflächen mieten, sodass sie sich nicht als Eigentümer mit den Kontrollbehörden, zum Beispiel mit der berüchtigten Brandschutzbehörde, auseinandersetzen müssen. Alle Probleme regelt der Vermieter (Interview: Unternehmer B5).

»Informelle Strategie« im Umgang mit Behörden

Viele kleinere Firmen sowie Firmen im verarbeitenden Gewerbe und in der Gastronomie verfolgen oftmals informelle Strategien im Umgang mit den Behörden und wirtschaften somit in der Grauzone der Legalität. Dabei ist die Steuerhinterziehung die am weitesten verbreitete informelle Praxis. Die informelle Verhaltensstrategie hat mehrere Ursachen, die nicht alle dem direkten staatlichen Druck entspringen.

Ein Grund liegt in den Besonderheiten des rechtlichen und regulatorischen Rahmens unternehmerischer Tätigkeit zusammen. So treiben die unübersehbare Fülle und die gelegentlichen Widersprüchlichkeiten in den Regelungen des Wirtschaftsrechts viele Unternehmer in die Grauzone. Ein Einzelhändler beschreibt das System staatlicher Auktionen, auf denen Gewerbeflächen (Kioske) versteigert werden: »Es wird eine Situation erzeugt, in der es unmöglich ist, alles dem Gesetz entsprechend zu machen. Zum Beispiel wurden sieben m2 für einen Fischkiosk ausgeschrieben. Es ist nicht einmal möglich, [auf dieser Fläche] einen Kühlschrank aufzustellen. Oder eine Apotheke mit 10 m2. Laut den Verordnungen muss es dort einen Wasseranschluss geben. […] Er [Beamter der Gewerbeaufsicht] kommt und sagt: ›Warum haben Sie kein Wasser?‹. Das ist eine Ordnungswidrigkeit. Sie können dir den Laden dichtmachen.« (Interview: Unternehmer B19). Der Unternehmer ist in der Zwickmühle: Soll er bewusst den Regelbruch und die formale Strafe in Kauf nehmen oder eine informelle – meist billigere – »Lösung« mit dem Beamten finden?

Manchmal erscheint die zweite Option als das geringere Übel, da die russische Wirtschaftsgesetzgebung tendenziell repressiv ist und zudem durch die Beamten willkürlich angewendet werden kann. Ein ehemals inhaftierter Unternehmer kommentiert den Paragraphen 159 des Strafgesetzbuchs (»Betrug«), der eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren für Unternehmer vorsieht: »Das Strafgesetzbuch trägt den sowjetischen Geist des Verbots von Unternehmertum. […] Insbesondere die Gewinngenerierung wird oft als [illegitimer] Eigennutz interpretiert. […] Du hast für 100 Rubel statt 90 verkauft – das heißt, 10 hast du gestohlen. Und wo ist das Motiv? Außer dass es das Motiv eines jeden Unternehmers ist, Gewinn zu erwirtschaften?« (Interview: Unternehmer B10).

Die Ausweitung des Kompetenzbereichs der Strafverfolgungsbehörden auf Steuerstraftaten seit Ende 2014 hat den Druck auf die Unternehmer erhöht. Die Androhung eines Strafverfahrens wurde zum wirksamen Druckmittel gegen Unternehmer, da ein Strafverfahren mit der sofortigen Suspendierung der wirtschaftlichen Tätigkeit einhergeht. So werden zum Beispiel häufig Geschäftskonten eingefroren. Als Indikator für die Ausübung von Druck zum Zwecke der persönlichen Bereicherung der Strafverfolgungsbeamten dient die Tatsache, dass der Großteil der Wirtschaftsstrafverfahren (bis zu 80 %) nicht ans Gericht übergeben, sondern nach einer gewissen Zeit eingestellt wird.

Die Erpressung durch Staatsbeamte dient als eine weitere Ursache des informellen Verhaltens der KMU. Oft ist die Erpressung unmittelbar und unverhohlen. So berichtet ein Unternehmer über einen Kollegen, der zwar ein »weißes« Unternehmen führte, aber trotzdem der Steuerbehörde negativ aufgefallen war: »Er hatte sehr große Umsätze aber relativ kleine Gewinne. […] Bei solchen Umsätzen warf sein Unternehmen wenig Steuern ab. Es wurde angenommen, dass die Gewinnspanne im Allgemeinen höher sei, als bei ihm. Das heißt, er hinterzieht, der Mistkerl! […] Sie [die Steuerbeamten] kommen an und eine Beamtin verkündet sofort: ›Wir werden Ihnen gleich die hinterzogenen Steuern in Rechnung stellen. […] Sie wissen doch bestens, dass wir fündig werden. Also, um Ihre und unsere Zeit nicht zu verschwenden – wir haben in Bezug auf Sie einen Plan [eine Vorgabe], über drei Millionen. [Legen Sie] hier einhundert [Tausend in bar auf den Tisch], dann werden es zwei Millionen, und wir verabschieden uns‹. Sie sind zu ihm gegangen, wie auf Arbeit, zwei Monate lang. Zum Schluss fingen sie an zu winseln, da es wirklich nichts [zu beanstanden] gab. Sie haben etwa 200.000 Rubel gefunden. Kleine [Buchhaltungs] Fehler. Aber sie haben einen Plan: drei Millionen. Sie beschwerten sich, sagten offen: ›Bringen Sie uns nicht um!‹ Denn falls sie nach einer zweimonatigen Kontrolle leer zurückkehren, werden sie einfach gefeuert. […] Sie haben sich geeinigt, dass er die 300.000 statt drei Millionen berechnet bekommt, und die Weiber sind abgehauen, und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie gefeuert wurden. Er war gezwungen, einzuwilligen, obwohl er diese Zusatzsteuern vor Gericht hätte anfechten können. Er hat eingewilligt, damit sie einfach verschwinden und ihn nicht bei der Arbeit stören.« (Interview: Unternehmer B3).

Diese Situation verdeutlicht die »beschuldigende« Haltung des Staates zum Unternehmertum. Gewinnerzielung wird als Spekulation gebrandmarkt; ein zu kleiner Gewinn hingegen wird als Betrug an der Staatskasse interpretiert: »Das System erkennt in jedem Unternehmer nach wie vor einen Gegner, der a priori Steuern hinterzieht« (Interview: Unternehmer B20). Sogar ein »weißer« Unternehmer entscheidet sich aus pragmatischen Gründen für eine informelle Strategie und begibt sich somit in die Grauzone, was ihn dann für weitere bürokratische Schikanen angreifbar macht.

Manchmal nimmt die bürokratische Erpressung subtile Formen an. So berichten einige Unternehmer, dass Steuerbehörden ungern Verluste hinnehmen, da diese die Steuerstatistik verderben: »Wenn deine Verluste steigen, lädt sie [die Steuerbehörde] dich vor und fängt an dich zu erziehen: ›So nicht! Zeig [den Verlust] lieber nicht, nicht in der Steuererklärung, wir werden uns schon einigen.‹ Einerseits will ich mich absichern, um mit keinen weiteren Forderungen konfrontiert werden zu müssen, aber andererseits gebe ich nach und gehe einen Kompromiss ein. Und dann können sie mich mit diesem Kompromiss jederzeit am Kragen packen.« (Interview: Unternehmer B16).

Eine weitere verdeckte Form der Erpressung geschieht durch Firmen, die mit bestimmten Beamten »assoziiert« sind. In einigen Regionen ist der Markt quasifeudal in informelle Einflusszonen aufgeteilt, die jeweils von bestimmten Bürokraten oder befreundeten Unternehmern »betreut« werden. Diese indirekte Übernahme von Teilen der Wirtschaft durch staatliche Funktionsträger erschwert den Marktzugang für neue KMU. Laut einer »Outsider«-Firma, die in einer sibirischen Region ein Hotel bauen wollte, lud der Bürgermeister zur Vorbesprechung des Projektes ein Team von »Banditen« mit ein: »Gebt uns euer Projekt, wir werden alles bauen. Gebt euer Geld her, das Bauunternehmen stellen wir, die Baustoffe ebenfalls, sonst arbeitet niemand hier. Wir haben eine Firma für die ganze Region, die alles baut. Schluss. Wenn ihr versuchen wollt, etwas ohne uns zu bauen, wird euch nichts gelingen.« (Interview: Unternehmer B10).

Schließlich dient die vorherrschende Normalität der Informalität als Ursache des informellen Verhaltens von KMU. Die Informalität hat eine lange historische Tradition in Russland: Man denke zum Beispiel an die informellen Überlebensstrategien gegenüber dem autoritären Staat aus wirtschaftlicher Not, man denke an das traditionelle Vertrauen auf eigene private Netzwerke angesichts eines Fehlens funktionierender unparteiischer Institutionen oder an Bestechung und andere Formen der Korruption.

Ein Aspekt dieser Normalität der Informalität bezieht sich auf die verbreitete Vorstellung, dass die gesamte russische Geschäftswelt auf Schattenpraktiken zurückgreife, und dass es unmöglich sei, ohne diese Praktiken gewinnbringend zu wirtschaften. Vor allem Steuerhinterziehung wird als ein Wettbewerbsfaktor angesehen: »Ich will kein Steuersünder sein, kein Damoklesschwert über mir hängen haben. Was passiert in diesem Fall? Dann bin ich sofort nicht mehr wettbewerbsfähig, da das [die Steuerhinterziehung] die Regel ist, der der gesamte Markt folgt. Du wirst preistechnisch nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Du wirst Steuern bezahlen, die um ein Mehrfaches höher sind als die, die alle anderen zahlen.« (Interview: Unternehmer B20). Informelle Partikularstrategien unterminieren die universellen Regeln und treiben die Firmen in die Schattenwirtschaft. Dies erinnert an den Anpassungsmechanismus der russischen Gesellschaft als Ganzes, den der Soziologe Alexej Lewinson 2008 in einem Interview beschreibt: »Das individuelle Freikaufen vom Staat hat die Keime des Universalismus in unserer Gesellschaft vernichtet« (<http://www.novayagazeta.ru/poli tics/40804.html>).

Ein anderer Aspekt dieser Normalität der Informalität bezieht sich auf die ebenfalls verbreitete Vorstellung vom Staat als einem korrupten, willkürlichen und das Individuum unterdrückenden Gebilde. Demzufolge sei es fast eine Tugend, den Staat zu betrügen. Einige Unternehmer zahlen nur einen Teil der Steuern – »gemäß unserer Möglichkeiten« – oder bedauern es, überhaupt Steuern zu zahlen, weil sie sich nicht sicher sind, ob das Geld in der Staatskasse ankommt (Interview: Unternehmer B12).

Gleichzeitig werden informelle Netzwerke mit den einzelnen Dienern des Staates als äußerst nützlich und geradezu selbstverständlich angesehen, als »Patron-Schützling-Beziehungen« wie im alten Rom« (Interview: Unternehmer B20). Die zwei wichtigsten Funktionen dieser informellen Netzwerke sind das Vorbeugen von Problemen mit den Behörden sowie die Lösung auftretender Probleme. Zum Beispiel stellte der Eigentümer einer kleinen Klinik den Sohn des städtischen Amtsarztes ein, »also den Sohn des Beamten, der mich zu kontrollieren hat, damit keine künstlich erzeugten Probleme entstehen« (Interview: Unternehmer B6). Der Betreiber einer Kette mobiler Wurstkioske hingegen löste die verschiedenen Probleme mit der lokalen Polizei sogar mehrmals im Laufe des Interviews, indem er seine hochrangigen Beschützer im Polizeiapparat anrief und um Hilfe bat (Interview: Unternehmer B13).

Schließlich führt die herrschende Normalität der Informalität zur selbstverständlichen Akzeptanz eines Geschäftsmodells, das auf mündlichen Absprachen basiert und somit zumindest teilweise am Fiskus vorbeigeht. So berichtet der Geschäftsführer eines kleinen Übersetzungsbüros, dass »wir viele Kunden haben, die gar keine Zahlungsbelege benötigen. […] Wir arbeiten mit fünf großen Stammkunden. Ich kenne sie persönlich [aus dem Studium]. […] Bei uns in Russland wird doch alles über Bekanntschaften geregelt.« (Interview: Unternehmer B9). Andere »Steuersparmaßnahmen« werden ebenfalls als Effizienzfaktor angesehen, wie ein junger Gastronom berichtet, der laut eigener Aussage Korruption nicht für bedenklich hält: »Man soll das Minimum erfüllen, das die Gesetzgebung vorgibt. Einerseits soll man nicht offensichtlich gegen etwas verstoßen; andererseits: Alles darüber hinaus ist weniger effektiv… Vermutlich ist das die effektivste Methode, um Geld zu verdienen, nämlich an der unteren Grenze dessen zu bleiben, was man unbedingt machen muss [was gesetzlich gefordert ist].« (Interview: Unternehmer B5).

Informalitätsfalle

Die beschriebene Vielfalt der Gründe macht deutlich, dass nur ein Teil des informellen Verhaltens der kleinen Firmen als Anpassungsreaktion auf staatlichen Druck zu verstehen ist. In vielen Situationen verhalten sich die Unternehmer informell, weil sie höhere Gewinne anstreben oder versuchen, ihre Konkurrenten auszustechen. So erscheinen KMU nicht nur als passive Opfer der staatlichen Willkür, sondern als aktive Mitgestalter des durchgängig korrupten Systems.

Unabhängig von ihren konkreten Ursachen, ist es jedoch wichtig festzuhalten, dass die Informalität einen Teufelskreis impliziert: Firmen, die informell agieren, geraten oft in die »Informalitätsfalle« und werden dauerhaft in die Schattenwirtschaft gedrängt. Der Mechanismus dieser Falle ist folgender: Während der Staat potentiell zwei Druckmittel gegen die Unternehmer besitzt, einerseits die formalen Gesetze und andererseits ihre Instrumentalisierung zum privaten Nutzen durch die Bürokraten, können sich die Firmen nur durch eine der sich gegenseitig ausschließenden Strategie verteidigen. Entweder gehen sie den legalen Weg oder sie handeln mithilfe von Beziehungen und korrupten Kanälen. Warum aber haben die Firmen im Gegensatz zum Staat keine Möglichkeit, sich gleichzeitig sowohl im formalen als auch im informellen Feld zu bewegen?

»Weiße« Firmen haben per se wenig Spielraum für informelle Praktiken. So haben sie zum Beispiel kein Schwarzgeld, das meist mithilfe von Briefkastenfirmen generiert wird. Andererseits haben »graue« Unternehmen im Falle eines Konflikts mit dem Staat ebenfalls praktische Schwierigkeiten, sich formaler Mittel zu bedienen. So ist der Rechtsweg für viele »graue« Firmen, die tendenziell kleine und ressourcenarme Firmen sind, kostspielig und zeitintensiv. Auch ist es für eine Firma problematisch, vor Gericht zu ziehen, wenn sie selbst gegen Gesetze verstoßen hat (zum Beispiel Schwarzgeld eingesetzt hat), da der Verstoß ans Licht kommen könnte (die Briefkastenfirma kann aufgedeckt werden). Manche »graue« Unternehmer versuchen trotzdem den Rechtsweg, teilweise mit fragwürdigem Erfolg. So hat ein Moskauer Mobiltelefonhändler das Gerichtsverfahren gegen die Steuerbehörde gewonnen, die ihn der Steuerhinterziehung verdächtigt hatte, obwohl er in der Tat schuldig war. Nach dem Vorfall haben die Beamten der Steuerbehörde jedoch informell angedeutet, dass die Firma nun »unter die Lupe genommen wird« (Interview: Unternehmer B18).

Die Rache der Behörden ist grundsätzlich einer der Gründe, weshalb es vielen Unternehmern »nicht in den Sinn kommt, sich zu wehren« (Interview: Unternehmer B10). Einer der Geschäftsführer des Kleinunternehmerverbandes OPORA kommentiert: »Wenn ein Unternehmer sich über einen Bürokraten beschwert, über seine korrupten Handlungen, bringt er sowohl sich selbst als auch seine Geschäft in große Gefahr. Denn niemand kann verhindern, dass die staatlichen Organe sich an ihm rächen. Sich [offiziell] zu beschweren ist schlichtweg gefährlich.« (Interview: Wirtschaftsverbandsleiter A2).

Ähnlich verhält es sich mit Unternehmen, deren Geschäftsmodell von Staatsaufträgen abhängig ist. Beispielsweise berichten kleine Baufirmen, dass offizielle Beschwerden, zum Beispiel wegen einer Verzögerung oder gar des Ausbleibens der Bezahlung, dazu führen, dass die Firma auf eine inoffizielle »schwarze Liste« gesetzt wird und künftig keine Aufträge mehr bekommt (Interview: Unternehmer B18). Hinzu kommt, dass das staatliche Auftragswesen von Korruption durchsetzt ist, vor allem in Form von Kickbacks, was zur Veruntreuung von Haushaltsgeldern führt. Firmen, die wohl oder übel Kickbacks bezahlen, sind auf die Generierung von Schwarzgeld angewiesen, und sie begeben sich dadurch automatisch in die Schattenwirtschaft. Dies verringert die Möglichkeiten, ihre Rechte auf formalem Weg zu verteidigen.

In jedem Fall hängt über Firmen, die formale Regeln umgehen und sich der informellen Strategie im Umgang mit den Behörden bedienen, das Damoklesschwert potentieller staatlicher Sanktionen bis hin zur Strafverfolgung. Im Ergebnis müssen die Unternehmer eventuell auftauchende Probleme weiterhin meist informell lösen, denn wenn »alles auf Beziehungen basiert, gibt es keine Basis für Rechtssicherheit« (Interview: Unternehmer B22). Partikulare Absprachen schließen einheitliche Spielregeln aus und liefern »einen fruchtbaren Boden für die Generierung von Schattenerträgen auf allen Ebenen« (Interview: Unternehmer B20). Die Unternehmer geraten in die Informalitätsfalle und werden Geisel eines korrumpierten Systems. Der Teufelskreis der Informalität schließt sich.

Ausblick

Die gegenwärtige wirtschaftliche Krise in Russland angesichts des Ölpreisverfalls und der westlichen Sanktionen verschärft die ohnehin prekäre Situation der kleinen und mittleren Unternehmen. Die wachsende staatliche Bedrängung der KMU, wie das aktuelle Beispiel des massenhaften Abrisses Moskauer Kioske zeigt, könnte eine sich verschärfende bürokratische Konkurrenz um die schwindenden Ressourcen bedeuten. Dabei gefährdet dieses räuberische staatliche Vorgehen nicht nur die Eigentumsrechte, sondern schränkt auch die Beschäftigungsmöglichkeiten für viele Menschen ein und treibt sie potentiell in die Schattenwirtschaft. Dennoch könnte das Kioskbeispiel aus der Perspektive der Informalitätsfalle gedeutet werden. Wie der oppositionelle Aktivist Alexej Nawalnyj in seinem Blog argumentiert, waren die Kioskbesitzer zwar formal die legalen Eigentümer, haben aber oftmals die nötigen Baugenehmigungen nicht rechtmäßig erhalten, möglicherweise durch informelle oder gar korrupte Kanäle. Die Behörden könnten die Papiere deshalb jederzeit für ungültig und das Eigentum für nichtig erklären.

Lesetipps / Bibliographie

  • Gans-Morse, J.: Threats to Property Rights in Russia: From Private Coercion to State Aggression, in: Post-Soviet Affairs, (28) 2012, Nr. 3, S. 263–295.
  • Gessen, M.: Moscow Just Razed Its Small Businesses and Became Even Blander, in: The New Yorker, 10. Februar 2016; <http://www.newyorker.com/news/news-desk/moscow-just-razed-its-small-businesses-and-became-even-blander>.
  • Yakovlev, A., A. Sobolev, A. Kazun: Means of Production Versus Means of Coercion: Can Russian Business Limit the Violence of a Predatory State?, in: Post-Soviet Affairs, (30) 2014, Nr. 2–3, S. 171–194.

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