Die Wirtschaftskrise hat Russland weiter fest im Griff. Seit 2014 sind die Realeinkommen im Land um mehr als 15 Prozent gefallen. Der Rubel ist heute, in US-Dollar oder Euro gerechnet, nur noch die Hälfte dessen wert, was man noch Ende 2014 für ihn bekam. Das Durchschnittseinkommen ist in der gleichen Zeit von gut 800 US-Dollar im Monat auf weniger als 400 gesunken. Rein statistisch ist das der Abstieg von einem Schwellenland mit Blick nach oben zu einem armen Land mit Blick nach unten.
Trotzdem ist von politischer Krise nichts zu spüren. Putin scheint fester im Sattel zu sitzen als je zuvor. Die Soziologen vom Lewada-Zentrum wollen in ihren Langzeitbeobachtungen »die Möglichkeit von Unzufriedenheit« in ein oder zwei Jahren ausmachen. Das war es dann auch schon. Von Unruhe, ja gar Palastrevolte oder Volksaufstand keine Spur.
Gleichzeitig ist die politische Elite rund um den Kreml hochnervös. Die Zeit des großen Verteilens (die großen Brocken werden innerhalb der Elite verteilt, kleinere aber auch im gemeinen Volk) ist vorbei. Die Dumawahlen im kommenden September und die Präsidentenwahlen in zwei Jahren werfen ihre Schatten voraus. Die Angst, Volkes Unmut könnte sich doch an den Wahlurnen zeigen, ist trotz aller Sicherungsmaßnahmen (also die fast totale Kontrolle über die politischen Parteien und die Massenmedien, ebenso wie die Abschaffung unabhängiger Wahlbeobachtung) groß. Jede Form von unabhängiger Opposition, ja jede Form von Unabhängigkeit im Land wird deshalb eifersüchtig verfolgt, einzuschüchtern versucht und klein gehalten, egal ob es sie nun wirklich gibt (eher wenig) oder ob sie eingebildet ist (davon scheint es jede Menge zu geben).
Nach außen benimmt sich das Land weiter nach dem Motto: »Ihr habt uns alle beleidigt und nun machen wir euch überall das Leben so schwer wie möglich, damit ihr uns wenigstens deshalb ernst nehmt«. Das klappt ziemlich gut. Die Rede von Premierminister Medwedew auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorige Woche wirkte mit ihrem »neuen Kalten Krieg« und ihrer »dritten Welterschütterung« wie ein Wiedergänger der berühmten Putin-Rede von 2007. Allerdings dominierte bei den Reaktionen damals im Westen noch eine gewisse Ungläubigkeit. Diesmal war es eher die beunruhigte und auch ein wenig resignierte Feststellung, dass das noch lange andauern wird.
Nach den vergeblichen Protesten gegen Wahlfälschungen im Winter 2011/2012 und Putins Wiederwahl im März 2012 kursierte in Russland folgender Witz: Puschkin ist unser ein und alles, Putin ist unser jetzt und für immer. Dass Putin sich 2018 zur Wiederwahl stellen wird, bezweifelt kaum jemand (auch wenn momentan in Moskau erzählt wird, Putin könnte versuchen, sich bis dahin mit dem Westen auf einen neuen, wegen Syrien und der Flüchtlinge für Russland günstigen modus vivendi zu einigen, um dann als Sieger abzutreten und seinen Nachfolger – wer auch immer es sei – mit den Problemen allein zu lassen). Warum sich also mit der Frage beschäftigen, was (oder besser: wer) nach Putin kommt und warum es (oder er) kommen könnte?
Die Antwort gibt ein kleiner Blick zurück. Vor knapp einem Jahr (wer erinnert sich noch daran?) war Präsident Putin plötzlich und völlig ungewohnt aus der Öffentlichkeit verschwunden. In den ersten Tagen verbreitete das staatliche Fernsehen noch Bilder von angeblichen Treffen mit diesem und jenem. Aber schon bald kam heraus, dass es sich dabei um Konserven handelte. Schnell war das ganze Land (und mit ihm erhebliche Teile der übrigen Welt) damit beschäftigt, sich auszudenken, was denn nun dahinterstecke und was es bedeute, wenn Putin wahlweise krank, amtsmüde oder gar tot sei. Auch ich befasste mich mit der Frage: <http://russland.boellblog.org/2015/03/15/was-kommt-nach-putin-und-wie-kommt-es/>. Nach zehn Tagen tauchte Putin wieder auf. Der Kreml tat, als sei nichts geschehen, aber das konnte und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das System ohne Putin nicht funktioniert.
Nun versuchen uns der Kreml und Kremlfreunde (auch im Westen) schon seit über 15 Jahren weiß zu machen, dass, egal was oder wer nach Putin kommen kann, es ohne ihn nur (noch) schrecklicher werden kann. So sei Russland, so sei das russische Volk eben. Man werde sich dann noch nach Putin zurücksehnen, ist die Botschaft. Das ist natürlich nicht auszuschließen. Ausgemacht ist es aber auch nicht. Überhaupt finde ich solche Spekulationen eher müßig: Darüber nachzudenken, ob nun Verteidigungsminister Schojgu einen Militärcoup plant, Vizepremier Rogosin vorhat, ein ultranationalistisches Regime anzuführen und den eurasiatischen Wirrkopf Alexander Dugin zum Premierminister zu machen, oder ob Ministerpräsident Medwedew, endlich von Putin befreit, doch noch den Liberalen in sich zeigen und Russland in demokratische Fahrwasser zurück lotsen wird, hat, über den Tag hinaus, kaum analytischen (Mehr)Wert.
Ich möchte daher lieber versuchen, ein paar längere, grundsätzlichere Linien nachzuzeichnen. Zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen:
Es ist gute und geschichtlich geprüfte deutsche Wahlkampfweisheit, dass (fast) nie neue Regierungen ins Amt gewählt, sondern (fast) immer nur alte Regierungen abgewählt werden. Man muss als Politiker also schon ziemlich viel Mist machen, bevor man die Macht wieder verliert. Deutschland ist eben ein im Grunde sehr konservatives Land. Russland ist das auch, vielleicht sogar noch mehr. Zumal hier die Gewöhnung an ständigen und großen staatlichen Mist zu einer gewissen Resignation geführt hat. Bevor es in Russland einen politischen Wechsel gibt, bedarf es deshalb nicht nur einer, sondern sogar mehrerer handfester Krisen (eine, die Wirtschaftskrise, haben wir ja längst); aber es bedarf auch und vor allem einer personellen Alternative. Die gibt es nicht. Da sind sich alle einig.
Nun ist es eine der hervorragendsten, ja vielleicht die hervorragendste und mit vielen Ressourcen unterfütterte Beschäftigung des Kremls, sie auch gar nicht erst auftauchen zu lassen. Klassischerweise stehen drei Instrumente zur Sicherung politischer Herrschaft bereit: politische, durch Verfahren und Institute vermittelte Legitimität, wirtschaftliches Wohlergehen und Gewalt. Putin hat in den 2000er Jahren erfolgreich eine ausgewogene Mischung aus allen drei Elementen praktiziert, wobei mit der Zeit die demokratische Legitimität geringer und die staatliche Gewalt größer wurde. Abgefedert hat diese Gewichtsverschiebung der stetig wachsende Wohlstand.
Als es dann aber, ab 2008/2009, mit der Wirtschaft bergab ging und die Legitimität durch die Rochade Putin-Medwedjew-Putin vor allem unter der gut gebildeten und städtischen Bevölkerung weitere tiefe Kratzer bekam, versuchte es Putin – bis heute erfolgreich – mit noch mehr Gewalt nach innen und nach außen. Die innere Gewalt dient der direkten Herrschaftssicherung, die äußere ersetzt (massiv propagandistisch unterfüttert) die abhanden gekommene demokratische Legitimität durch populistische Zustimmung.
So weit sind das alles konventionelle Herrschaftstechniken, durchaus mit Geschick und auch Fortune gehandhabt. Ein paar Blicke in die sowjetisch-russische Geschichte zeigen aber schnell, dass Putins Vorgänger das ebenso konnten – und es trotzdem irgendwann nicht mehr reichte. Es musste und muss bei langer Herrschaft immer noch etwas hinzukommen, das man »im Zeitgeist bleiben« nennen könnte. Anders ausgedrückt, muss sich politische Herrschaft, so sie sich nicht ausschließlich auf Gewalt stützt (und das hat auch in der Sowjetunion/Russland seit Stalin niemand mehr wirklich versucht) immer wieder modernisieren, ja von Zeit zu Zeit in gewisser Weise neu erfinden. Bisher gelingt das Putin. Doch nun, wie versprochen, zu den Vorgängern.
Ich fange mit Leonid Breschnjew an, weil er zum einen aktiv, also nicht durch den Tod seines Vorgängers an die Macht gekommen ist, und zum anderen, für einen Sowjetführer mit bis dahin erstaunlich wenig Gewalt regiert hat. Gerade das war vielleicht sein Erfolgsgeheimnis. Nach Bürgerkrieg, stalinistischem Terror, Krieg, fortgesetztem stalinistischem Terror und der Chruschtschowschen Mischung aus Tauwetter und immer heißer werdendem Kaltem Krieg wollten viele Menschen in der Sowjetunion vor allem Ruhe, eine gewisse Beständigkeit und ein bescheidenes Auskommen, also vor allem keinen Hunger mehr. Breschnjew lieferte das so gekonnt, dass die 1970er Jahre in der Erinnerung vieler Menschen in Russland bis heute als das goldene Jahrzehnt erscheinen. Die Ruhe geriet aber so perfekt, dass das Land bald im sprichwörtlich gewordenen »Sastoj« (deutsch: »Stillstand«) erstarrte. Mitte der 1980er Jahre hatten immer mehr Menschen in der Sowjetunion genug davon. Sie wollten wieder Bewegung. Die kam dann auch, als in schneller Folge drei tote Generalsekretäre (und ein katastrophal niedriger Ölpreis) die Lebensunfähigkeit des Systems deutlich machten.
Dem Geist der Zeit entsprang nun mit Michail Gorbatschow ein mit 54 Jahren verhältnismäßig junger, vor allem aber ungewohnt dynamischer und auf moderne Art kommunikativer neuer Chef. Gorbatschow versuchte den verknöcherten Staat zu öffnen (»Glasnost«) und umzubauen (»Perestrojka«). Im Nachhinein erscheint diese Aufgabe wie ein gordischer Knoten: Ihn aufzudröseln war niemand in der Lage (und hatte auch nicht die Zeit dazu). Ihn wie Alexander der Große durchzuhauen, hätte Kräfte freigemacht, die kaum zu bändigen gewesen wären. Gorbatschow versuchte ein Mittelding. Doch selbst seine vorsichtige Öffnung beraubte den auf (totale) Kontrolle angelegten Staat seiner Fähigkeit, den Umbau zu lenken. Das Land geriet außer Kontrolle (seiner Herrscher).
Heute gilt Michail Gorbatschow vielen Menschen in Russland als Verräter am Staat, weil er dessen (damals immer noch enormen) Gewaltmittel nur sehr zögernd gegen die Freiheitsgeister eingesetzt hat. Gleichzeitig hat er sich aber auch nicht dazu entscheiden können, entschieden auf diese Freiheitsgeister zu setzen.
Das tat erst sein Nachfolger Boris Jelzin, der 1991 durch die wohl bis heute freiesten Wahlen der russischen Geschichte ins Amt gelangte. Jelzin, obwohl auch er ein Mann des kommunistischen Parteiapparats war, gab der Freiheit vollen Lauf. Er tat das wohl weniger aus Überzeugung, denn aus Machtkalkül. Andererseits gehört er (wie übrigens auch Gorbatschow) zur Generation der in Russland sogenannten 60er. Sie ist mit dem stalinistischen Terror in der 1930er Jahren aufgewachsen, hat den Krieg als Heranwachsende erlebt und war treibende Kraft des Tauwetters nach Stalins Tod. Auch viele Dissidenten der ersten Stunde kamen aus dieser Generation.
Viele Menschen in Russland empfinden die 1990er Jahre inzwischen als eine Zeit des Chaos und des Staatszerfalls (die staatliche Propaganda inspiriert und stützt dieses Gefühl). Jelzins Versprechen auf Freiheit und Beteiligung, sicher mehr aus Not geboren (aus der Not an der Macht zu bleiben, aber auch aus der Not, Land und Wirtschaft zusammen zu halten) denn aus Überzeugung, mutierte ja tatsächlich recht schnell zu einer Mischung aus Willkür und Schlamperei. Der Staat zog sich nun aber nicht nur aus dem Privatleben seiner Bürger zurück, sondern auch aus ihrem Leben und damit aus der ihm obliegenden Daseinsvorsorge der Menschen insgesamt. Und diskreditierte damit in Russland diese beiden Grundbestandteile von Demokratie bis heute gründlich.
Das Pendel schlug zurück und mit Putin tauchte ein neuer Herrscher auf. Er versprach anfangs das Beste aus beiden Welten: den Staat erneut zu stärken, ohne ihn zu verknöchern. Putin bediente zunächst zwei Bedürfnisse: das nach Ruhe und Ordnung ebenso wie das nach einer Pause bei den Veränderungen. Oder besser gesagt: Er schaffte es, (notwendige) Veränderungen wie Stabilität wirken zu lassen. Die wirtschaftliche Konjunktur, also vor allem der im Eiltempo steigende Ölpreis, half hier enorm. Dann erlahmte die Konjunktur und der Versuch, es erneut offensiv mit Veränderung, der Medwedjewschen Modernisierung, zu probieren, ging schief.
Putin wandte nun ein in der russischen (und nicht nur dort) Politik schon oft erfolgreiches Mittel an: nationale Mobilisierung gegen innere und äußere Feinde (wobei fast egal ist, ob es die tatsächlich gibt). Bisher funktioniert das, erst mit der Krim und der Ostukraine, nun mit Syrien, jedenfalls gemessen an der in Umfragen ermittelten Zustimmung, ganz gut.
Aber wenn dieser kleine Abriss den geschichtlichen russischen Pendelschlag zwischen Freiheit und Kontrolle richtig beschreibt, dann müssten die unruhigen, gegen zu viel und zu starren Staat gerichteten Kräfte in Russland bald wieder stärker werden. Auch deshalb scheint mir die Drohung, nach Putin könne alles nur noch schlimmer werden, eine leere zu sein.
Einen kleinen Hinweis darauf gibt auch Putin selbst. Der Krieg in Syrien ist der erste mit russischer Beteiligung nach »westlichem« Muster: Bomben aus der Ferne und aus der Luft mit möglichst geringem Risiko für die eigenen Soldaten, keine Bodentruppen. Auch der russische Staat unter Putin kann oder will es sich offenbar nicht mehr leisten, mit den Leben seiner Bürger allzu leichtfertig umzugehen. Egal, ob das nun daran liegt, dass die Menschen sich in den vergangenen 30 Jahren untergründig doch mehr geändert haben (und viele von ihnen wirklich zu Bürgern geworden sind) oder (einfach nur) daran, dass der Staat nicht mehr so viele von ihnen zur Verfügung hat oder an der weiter sehr frischen Erinnerung an den Krieg in Afghanistan: auch jeder Nachfolger von Putin wird damit rechnen müssen.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.