Kränkung und Unschuld

Von Jens Siegert (Moskau)

Die Kränkung ist eines der stärksten menschlichen Gefühle. Der Psychologe Reinhard Haller bezeichnet sie in seinem Buch »Die Macht der Kränkung« gar, mit Bezug auf Kain und Abel, als das »Urmotiv des Urverbrechens«. Niemand könne sich ihrer Macht entziehen, denn eine Kränkung sei »ein Generalangriff auf das gesamte ich«. Wer lebt, wird gekränkt. Und umgekehrt zitiert Haller aus einem Therapieprotokoll: »Mich kränkt niemand mehr, ich sterbe…«

Wie in anderen Sprachen auch (zum Beispiel im Deutschen oder im Englischen) bezeichnet das russische Wort für Kränkung, »obida«, dabei beides: sowohl die Handlung des Kränkenden als auch die Reaktion des Gekränkten. In der russischen sozialen Kommunikation spielt diese so starke Kraft zudem eine besondere, eine herausragende Rolle. Auch erreichen die damit beim Gekränkten ausgelösten Gefühle ein sehr weites Spektrum. Russische Wörterbücher schlagen als Synonyme für obida Begriffe wie »unischenije« (Erniedrigung), »bestschestije« (Ehrlosigkeit), »beda« (Leid, Schmerz, Unglück), aber auch »posor« (Schande) vor. Das Gefühl des Gekränkt Seins schließt in Russland zudem Aspekte von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit mit ein. Gekränkt worden zu sein verletzt das Gerechtigkeitsgefühl.

Bei Wladimir Dal, dessen Mitte des 19. Jahrhunderts erschienenes Wörterbuch der russischen Sprache in seiner Bedeutung dem deutschen Duden entspricht, steht der Gerechtigkeitsaspekt sogar noch im Vordergrund. Außerdem wird bei ihm unter obida vor allem der Prozess der Kränkung verstanden, weniger das gekränkte Gefühl als sein Resultat. Das hat sich auch bei seinem Nachfolger Dmitrij Uschakow, dessen vierbändiges Wörterbuch in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erschien, kaum geändert. Ebenfalls erscheint hier als gekränkt noch immer vor allem, wer ungerecht behandelt wird. Erst dann vollzieht sich offenbar sehr schnell ein Bedeutungswechsel. In der Neubearbeitung von Uschakows Wörterbuch durch Sergej Oschegow, erstmals erschienen Ende der 1940er Jahre, steht plötzlich der Gekränkte im Mittelpunkt. Dabei ist es bis heute geblieben.

Das russische Verständnis von obida geht aber noch weiter als oben beschrieben. In seiner adverbialen Form, obidno, drückt er die Enttäuschung, ja den Schmerz aus, wenn etwas, trotz guter Voraussetzungen, guter Absichten und durchaus großer Anstrengungen nicht geklappt hat. Ich möchte das an einem populären Beispiel zeigen.

In dem sowjetischen Filmklassiker »Weiße Sonne der Wüste«, einem Eastern, der in Russland so bekannt ist wie in Deutschland die Rühmannsche »Feuerzangenbowle« (der Legende nach schauen sich alle Kosmonauten den Film am Vorabend des Starts in den Weltraum an), fasst einer der positiven Helden, ein dem Alkohol verfallener ehemaliger Zollmeister irgendwo in einer Sandwüste am Kaspischen Meer, seinen Schmerz über den Untergang des Russischen Imperiums und die Anarchie des Bürgerkriegs in die Worte: »Mne sa derschawu obidno«. Das kann man in seiner Hauptbedeutung etwa mit »Ich bin gekränkt für mein Land/meinen Staat« übersetzen.

Dieses Zitat ist längst zum geflügelten Wort geworden. So nannte Mitte der 1990er Jahre der zum Politiker gewordene Armeegeneral Alexander Lebed, kurze Zeit eine Hoffnungsfigur russischer Nationalisten (oder, im russischen Diskurs, der »derschawniki«, also derer, die den Staat an die erste Stelle stellen), seine Autobiografie »Sa derschawu obidno« – und jeder bezog das auf den wohl alkoholkranken Präsidenten Jelzin. Neben der Kränkung drückt das Zitat eben auch sehr viel über das Verhältnis der Menschen in Russland zu dem aus, was nicht nur umgangssprachlich, sondern auch in der öffentlichen Kommunikation »wlast« genannt wird. Ins Deutsche wird wlast meist direkt mit »Macht« oder mit der uns aus dem DDR-Deutsch vertrauten »Staatsmacht« übersetzt. Diese doppelte Übersetzung deutet auch schon die Ambivalenz des Begriffs an und damit seine Bedeutung für das Verständnis von Staat und Menschen in Russland. Wlast meint den Staat in seiner Gesamtheit, also die als Staat und für ihn Handelnden. Dieser Staat (und die ihn repräsentierenden »tschinowniki«, also diejenigen, die einen Rang (»tschin«) haben, man könnte auch sagen, die »Staatsdiener«) ist in der bewussten wie der unbewussten Vorstellung der meisten Menschen in Russland ein Subjekt aus eigenem Recht. Er ist nicht nur ein funktionelles und nützliches Institut zur Bündelung von Bürgerinteressen, sondern, im Positiven, vor allem aber im Negativen, viel mehr.

Damit wären wir wieder beim Grundthema dieser Notizen angelangt, bei der Politik. Man kann sich Russland heute, dass ist hier ja auch immer wieder angeklungen, als ein Land mit einer zutiefst gekränkten politischen Elite vorstellen. Eine Kränkung, die Politik und Propaganda in den vergangenen Jahren erfolgreich auf eine große Mehrheit der Menschen im Land zu übertragen vermocht haben. Haben viele Russen und also besonders ihre politische Klasse mit der Führung an der Spitze nun (gute) Gründe, gekränkt zu sein? Diese Frage ist so (abstrakt) kaum zu beantworten. Kränkungen haben die Eigenschaft kaum objektivierbar oder messbar zu sein. Wir alle fühlen uns irgendwann gekränkt. Niemand kann sich dem entziehen.

Gehen wir noch einmal zurück auf die psychologische Ebene. Es gibt einige Persönlichkeitsstrukturen, deren Träger leichter, schneller und nachhaltiger zum Gekränktsein neigen als andere. Man kann zum Beispiel sagen, dass Kränkungen umso mehr, umso tiefer und umso nachhaltender wirken, je unsichererer die Gekränkten sich ihrer selbst sind. Die politische, in großen Teilen auch die intellektuelle Elite in Russland sucht seit vielen Jahren nach einer neuen oder erneuerten Staatsidee. Was ist Russland, wenn es nicht mehr die Sowjetunion ist? Was ist Russland, wenn es kein Imperium mehr ist? Was ist Russland, wenn es keine Supermacht mehr ist? In diesem (elitären) Sinn, ist Russland heute ein suchendes Land. Ein Land auf der Suche nach seinem (neuen? alten? angestammten? rechtmäßigen?) Platz in der Welt. Man braucht nur eine beliebige russische Zeitung oder Website aufzuschlagen, eine politische Talkshow im Fernsehen anzuschauen oder einem Gespräch im Radio zuzuhören, und mit großer Wahrscheinlichkeit geht es irgendwann genau darum. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird jemand dort behaupten, Russland sei etwas Besonderes und habe einen besonderen Weg oder gar eine besondere Mission. Und mit großer Sicherheit wird dort jemand behaupten, dass dem Land großes Unrecht angetan worden sei oder angetan werde, dass (von außen) mit allen Kräften zu verhindern versucht werde, dass Russland diesen besonderen Weg gehe oder diese besondere Mission finde.

Nun ist jede Kränkung ein Kommunikationsakt. Es gibt einen Kränkenden, eine Kränkungsbotschaft und einen Gekränkten. Im russischen öffentlichen Diskurs nimmt die Rolle des Kränkenden meist ein anonymer, kollektiver »Westen« ein (mitunter als Kulmination in den USA personalisiert, mitunter und in letzter Zeit immer häufiger aber auch in der EU). Russland ist der Gekränkte (oder die Gekränkte): »Nas obideli« – »man hat uns gekränkt«. Die Kränkungsbotschaften, also das, was die Kränkung ausgelöst hat, variieren. Mal ist es die sogenannte »Osterweiterung der Nato«; dann wieder überall gesehene oder vermutete »doppelte Standards«; dann wiederum lassen es westliche Regierungen angeblich am notwendigen »Respekt« Russland gegenüber vermissen, behandeln das Land also nicht »auf Augenhöhe«. Von Dauer ist nur, dass es immer Russland ist, das gekränkt wurde, aber niemals selbst kränkt oder, in der Rückschau, gekränkt hat. Ein ganzes Land wird so zum Opfer erklärt. Russland, so die Botschaft, ist dagegen die Unschuld selbst. Die dauerhafte Kränkung ist dabei Grund und Begründung für diese Unschuld zugleich.

Mit diesem (Selbst-)Bild des unschuldigen und ungerecht behandelten Opfers korrespondiert ein anderes Bild, das der Kreml seit Jahren ins öffentliche Bewusstsein hämmert: das Bild eines siegreichen Russland im gerechten (Überlebens-)Kampf. Diesem Bild zufolge ist das Land von Feinden umstellt, wurde in seiner (tausendjährigen!) Geschichte immer wieder angegriffen (vor allem aus dem »Westen«), verteidigte sich heldenhaft und trug deshalb immer den (gerechten) Sieg davon. Und selbst, wenn das mit dem Sieg einmal nicht so recht gelang, wie etwa im Ersten Weltkrieg, dann nur, weil böse ausländische Kräfte im Verein mit Verrätern im Land das hinterhältig hintertrieben.

Die größte Kränkung, die Russland diesem Diskurs zufolge in den vergangenen Jahrzehnten (selbstverständlich erneut durch den »Westen«) zugefügt wurde, die Mutter aller Kränkungen gewissermaßen, eine wahrhaft narzisstische Kränkung, eine so große Kränkung, dass danach dem Gekränkten alles erlaubt ist, ist der Zerfall des russischen Imperiums, genauer seiner letzten Ausprägung, der Sowjetunion. Eben diese Kränkung drücken die Putinschen Worte von der »größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts« aus. Der Untergang des russischen Imperiums erscheint so nicht mehr als politische Niederlage einer Idee oder einer Gruppe, sondern als Demütigung des ganzen Landes.

Mindestens ebenso wichtig wie die Selbstzweifel sind für die Tiefe und Häufigkeit von Kränkungen Bedeutung und Wert, die der Kränkende in den Augen des Gekränkten hat. »Der Westen«, nach wie vor und trotz der angeblichen »Wendung nach Asien« Sehnsuchtsort der meisten Russen, auch in der politischen Elite (ein Sehnsuchtsort, der oft noch in Enttäuschung der russischen Anti-Westler zu finden ist, die sich ja meist durch eben die Ablehnung des »Westens« definieren), hat so, gewollt oder ungewollt, ein außerordentliches Kränkungspotential. Und kränken kann alles: Lob, weil es angeblich von oben herab geschieht; Kritik, weil sie einem schulmeisterlich vorkommt; Neutralität, weil sie missachtet.

Im Verhältnis Russland – Westen scheinen mir die wirkungsvollsten Kränkungskatalysatoren momentan Enttäuschung und Liebesentzug zu sein. Beide verführen zudem zur Maßlosigkeit. Zur Illustration und als Abschluss ein Zitat aus Putins Krim-Annexions-Rede vom 18. März 2014: »Die Politik, Russland kleinzuhalten, die im 18., 19. und im 20. Jahrhundert betrieben wurde, wird heute fortgesetzt. Man versucht immer noch, uns in die Ecke zu drängen, weil wir einen unabhängigen Standpunkt einnehmen, weil wir ihn verteidigen, weil wir die Dinge beim Namen nennen und uns nicht in Heuchelei üben. Doch es gibt Grenzen. Und was die Ukraine anbetrifft, haben unsere westlichen Partner die gelbe Linie überschritten. Sie haben sich ungehobelt, unverantwortlich und unprofessionell verhalten.« Ungehobelt, unverantwortlich, unprofessionell.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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