Sucht nach Öl. Das "System Putin" und die Folgen der Wirtschaftskrise

Von Jeronim Perovic (Zürich)

Zusammenfassung
Russlands Wirtschaft leidet unter den westlichen Sanktionen und den niedrigen Ölpreisen. Ein Staatsbankrott steht zwar nicht unmittelbar bevor, aber die Krise ist längst bei den Menschen angekommen. Trotzdem unterstützt noch immer eine große Mehrheit Putin und dessen Politik. Dieser Beitrag sucht nach Erklärungen dafür und fragt nach den Auswirkungen der Krise auf den innen- und außenpolitischen Kurs der russischen Regierung.

Ein schwieriges Jahr für Russland

2016 wird für Russland ein schwieriges Jahr. Die niedrigen Ölpreise haben ein Loch in die Staatskasse gerissen. Nicht nur der Energiesektor, sondern viele damit verbundenen Industriebetriebe leiden unter den Turbulenzen am Weltölmarkt. Nun rächt sich, dass es die von Rohstoffexporten abhängige russische Wirtschaft in der Zeit des Überflusses verpasst hat, sich stärker zu diversifizieren. Die Krise hat sich bereits spürbar auf den Lebensstandard der Bevölkerung ausgewirkt. Die Verteilung von Renditen aus dem Ölgeschäft war und ist ein wichtiges Instrument der Kremlführung, um sich die Loyalitäten der Eliten zu sichern. Zudem hatte der Geldsegen dem Staat bislang die Möglichkeit gegeben, die Steuern für die Bevölkerung relativ gering zu halten und die Sozialleistungen in den vergangenen Jahren zu erhöhen. Doch jetzt werden die Petrodollars knapp. Dies hat Folgen für ein politisches System, das sich in den letzten Jahren wesentlich mit den Renditen aus dem Erdölgeschäft genährt hat. Eine stärkere Diversifizierung der Wirtschaft, wie sie Putin seit Jahren in offiziellen Reden fordert, würde auch eine Reform des politischen Systems bedeuten. Doch der Kreml ist angesichts der Krise vor allem an Machterhalt interessiert und steht damit einer echten Erneuerung der russischen Wirtschaft selbst im Wege. Dauert die Krise an, ist angesichts einer möglichen Zunahme von sozialen Protesten mit einer weiteren Verhärtung im Innern, aber auch einer aggressiveren Haltung Russlands nach außen zu rechnen. Allerdings kann die Krise auch eine Chance darstellen, denn Moskau ist trotz der internationalen Spannungen nach wie vor an guten Beziehungen zu Europa, seinem wichtigsten Absatzmarkt für Öl und Gas, interessiert.

Sucht nach Öl

Noch im Dezember 2015 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zur Lage der Nation, dass der Höhepunkt der Rezession vorüber sei und in Russland, dessen Bruttoinlandsprodukt 2015 nach offiziellen Angaben um fast vier Prozentpunkte geschrumpft war, 2016 wieder ein moderates Wirtschaftswachstum erfolgen werde. Als Hauptgrund für die Krise nannte Putin den niedrigen Weltmarktpreis für Öl und die Tatsache, dass sich Russlands Finanzinstitute aufgrund der westlichen Sanktionen nur sehr einschränkt auf dem globalen Markt refinanzieren können.

Als Putin seine Rede hielt, lag der Preis für ein Barrel Öl bei etwas über 40 US-Dollar, immerhin 70 US-Dollar weniger als noch eineinhalb Jahre zuvor. Doch es kam noch ärger: Anfang 2016 brach der Preis erneut kräftig ein, das Fass Öl kostete im Januar zeitweise sogar weniger als 30 US-Dollar. Die Aussichten schienen nicht mehr so rosig und die russische Führung versuchte auch gar nicht mehr, die Situation zu beschönigen: »Wenn der Ölpreis weiter fällt«, meinte Russlands Premierminister Dmitrij Medwedew auf einem Wirtschaftsforum in Moskau Mitte Januar 2016, »dann werden wir den Budgetrahmen anpassen […] und uns für den schlimmsten Fall vorbereiten müssen«.

Wie der »schlimmste Fall« aussehen könnte, erklärte Medwedew nicht. Aber klar ist: Russland stellt sich auf eine lange Krisenperiode ein. Wenn die Prognosen der Analytiker stimmen, dann bleibt der Ölpreis noch Monate, vielleicht sogar Jahre, auf tiefem Niveau. Und die Gefahr, dass dadurch Russlands gesamte Wirtschaft nach unten gezogen wird, ist groß. Denn das Land ist in jüngster Zeit nicht nur immer abhängiger, sondern geradezu süchtig nach Öl geworden. In der volkswirtschaftlichen Statistik steuert der Erdöl- und Erdgassektor zwar nur ein Viertel zum Bruttoinlandsprodukt bei, wobei allein der Export fossiler Energieträger für knapp 15 Prozent der inländischen Wertschöpfung verantwortlich ist. Doch diejenigen, die darin ein Argument für ein stabiles Fundament der russischen Wirtschaft erkennen wollen, übersehen, dass auch andere Wirtschaftsbereiche direkt oder indirekt vom Öl- und Gassektor abhängen.

Der Wirtschaftsexperte Andrej Mowtschan vom »Carnegie Moscow Center« schätzt in einer im September 2015 publizierten Analyse, dass diese Abhängigkeit mehr als zwei Drittel des Bruttoinlandproduktes umfasst: Russlands Staatsausgaben, die 20 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beisteuern, finanzieren sich zur Hälfte aus verschiedenen direkten und indirekten Steuern auf den Erdöl- und Erdgassektor. Russland importiert den größten Teil seines Konsums und tätigt diese Einkäufe wiederum vorwiegend mit Geld aus dem Rohstoffexportgeschäft. Und schließlich fließen die im Ausland erwirtschafteten Petrodollars in der Form von Investitionen in andere Sektoren der russischen Wirtschaft und in den Konsum zurück. Jede Veränderung im Weltmarktpreis für Öl strahlt damit auf weite Teile der Wirtschaft aus.

Petrodollars und Macht im »System Putin«

Natürlich wissen auch Russlands Politiker um die Gefährlichkeit der Rohstoffabhängigkeit ihres Landes. Seit 2001, und danach fast schon als Ritual, fordert Putin in seinen Reden zur Lage der Nation eine Diversifizierung der Wirtschaft. Weshalb ist dies bis anhin nicht gelungen?

Die kurze Antwort darauf ist, dass die politische Führung zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Anstalten in diese Richtung unternommen hat. Anstatt Strukturreformen anzupacken, hat der Staat durch niedrige Steuern, günstige Energiepreise und Erhöhung der Sozialleistungen faktisch über viele Jahre hinweg Teile der einheimischen Wirtschaft subventioniert, wohl auch mit dem Ziel, sich die Gunst der Bevölkerung zu sichern und sozialen Protesten vorzubeugen. Daneben flossen die Rubel auch in solch kostspielige Prestigeprojekte wie etwa die Winterolympiade in Sotschi, oder sie verschwanden auf dem Weg dorthin in den Taschen korrupter Politiker und Beamter. Vor allem aber hat Russland in den letzten Jahren enorme Summen in die Modernisierung der Armee und die Verteidigung investiert und so anderen Sektoren der Wirtschaft wichtige Investitionen entzogen. 2015 gab Russland nominal gerechnet drei Mal so viel für Verteidigung aus wie noch 2007.

Dieses Verhalten ist zwar für rohstoffexportierende Länder nicht untypisch. Doch um zu begreifen, weshalb die russische Führung das wirtschaftspolitische Steuer kaum herumreißen wird, muss das »System Putin« verstanden werden, wie es sich in den letzten 15 Jahren herausgebildet hat. Ein wesentlicher Grund für Putins Machtkonsolidierung ist darin zu sehen, dass nach der »wilden Privatisierung« der 1990er Jahre die neuen Machthaber im Kreml den Öl- und Gassektor, und damit den einzig wirklich rentablen Wirtschaftszweig aus der Sowjetzeit, schnell wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. Wenn davon ausgegangen wird, dass die im Öl- und Gassektor tätigen Unternehmen 97.7 Prozent der Einnahmen der 500 größten Unternehmen des Landes generieren, wie dies dem Rating der Multimedia-Holding »RBK« per September 2015 zu entnehmen ist (<http://www.rbc.ru/rbc500/>), dann ist die Macht in Russland bei demjenigen konzentriert, der das Öl und Gas kontrolliert. Und das Volumen der gesamten Erdöl- und Erdgasrenditen (hier verstanden als Einnahmen aus dem Verkauf der Ressourcen minus Produktionskosten) war in den letzten Jahren gigantisch: Gemäß Berechnungen der US-Ökonomen Clifford Gaddy und Barry Ickes erzielten Russlands Energieunternehmen 2008, als das Fass Öl zeitweise für mehr als 130 US-Dollar auf dem Weltmarkt gehandelt wurde, Renditen im Umfang von sagenhaften 650 Milliarden US-Dollar.

Dabei musste die Kremlführung in dieser gigantischen Umverteilungsaktion nicht notwendigerweise immer selbst zum Besitzer der jeweiligen Unternehmen werden. Es reichte aus, die Unternehmen derjenigen Oligarchen zu zerschlagen, deren Loyalität gegenüber den Machthabern im Kreml angezweifelt wurde. Die Besitzungen der entmachteten Oligarchen wurden in staatlich kontrollierte Großunternehmen (»Gazprom« im Gassektor, »Rosneft« im Ölsektor) überführt, deren Management Teil des erweiterten Kreml-Netzwerkes darstellt. Über die Öl- und Gaspipelines, die ebenfalls im Besitz staatlicher Firmen sind (wiederum Gazprom im Erdgassektor, »Transneft« im Ölsektor), regelt der Staat den Zugang der Unternehmen zum Transportnetz. Schließlich ist es auch der Staat, der den Unternehmen Konzessionen zur Förderungen von Ressourcen erteilt – und diese bei Bedarf auch wieder entziehen kann.

So gesehen ist es nicht übertrieben, Russland als ein kolossales Energieunternehmen zu begreifen, dem Putin als leitender Manager vorsteht. Und dieses Unternehmen hat aufgrund der Kombination aus westlichen Sanktionen und niedrigem Ölpreis enorme Verluste eingefahren. 2015 verdiente Russland trotz einer Steigerung der Ölproduktion 42 Prozent weniger aus dem Export als noch ein Jahr zuvor. Wie hoch die Verluste insgesamt anfallen könnten, wenn der Ölpreise auf tiefem Niveau verharrt und die Sanktionen bestehen bleiben, ist ungewiss und unter Experten umstritten. Eine düstere Prognose lieferten unlängst die Ökonomen Jewsej Gurwitsch und Ilja Prilepskij in der Tageszeitung »Wedomosti« vom 5. Februar 2016. Den Experten zufolge wird Russland 2014–2017 wegen des niedrigen Erdölpreises 400 Milliarden US-Dollar weniger einnehmen, wenn der Preis pro Fass anstatt bei 100 US-Dollar im Durschnitt bei 50 zu liegen kommt. Die Kosten der westlichen Sanktionen beziffern sie für den gleichen Zeitraum auf 170 Milliarden US-Dollar.

Besonders dramatisch könnte sich der Ölpreiszerfall auf den Rohstoffsektor selbst auswirken: Während Russland derzeit so viel Öl wie noch nie aus seinen Feldern herauspresst, um den Preisverfall wettzumachen, mussten einige große Energieprojekte bereits auf Eis gelegt werden, weil die Mittel für die Investitionen fehlen. Verschiedentlich sah sich der Staat in der jüngsten Vergangenheit gezwungen, seinen Energieunternehmen mit Milliardenbeiträgen unter die Arme zu greifen. Denn Russland ist mehr denn je darauf angewiesen, dass die Energie weiterhin fließt und neue Produktionsstätten erschlossen werden, ansonsten besteht die Gefahr, dass die Förderung schon in naher Zukunft stagnieren und dann abnehmen könnte. Damit würde aber nicht nur der russischen Wirtschaft langfristig der Saft entzogen werden, sondern auch einem System, das als personalisiertes Netzwerk einer kleinen Elitengruppe funktioniert, welche praktisch die gesamte wirtschaftliche und politische Macht in ihren Händen konzentriert.

Weshalb rebellieren die Russen nicht?

Ein unmittelbarer Staatsbankrott steht Russland zwar nicht bevor. Der Staat wird dank der Rückstellungen der letzten Jahre in Form zweier milliardenschwerer Reservefonds und großen Währungsreserven noch einige Zeit durchhalten können. Doch die Krise ist bei den Menschen längst angekommen. Täglich schließen Geschäfte und verlieren Leute ihre Arbeit. Besonders bluten muss der Mittelstand, denn die massive Abwertung des Rubels macht nicht nur die importierten Waren teurer, sondern auch die Zinsen auf Hypotheken, die in der Vergangenheit oft in US-Dollar, Euro oder Schweizer Franken vergeben wurden. Während der Mittelstand im Niedergang begriffen ist, steigt die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben: In ihrer Analyse für die Zeitung Wedomosti vom 24. Dezember 2015 schätzt Olga Kuwschinowa, dass im Jahr 2015 in Russland 22 Millionen Menschen (15 Prozent der Bevölkerung) als arm galten, 2,8 Millionen mehr als noch 2014. Die Reallöhne sind in Russland im Februar 2016 um knapp 7 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat eingebrochen. Die Regierung ist zum Sparen gezwungen und hat Anfang 2016 beschlossen, die Staatsausgaben um 10 Prozent zu kürzen, wobei sie allerdings versprochen hat, die Rentenzahlungen und Löhne für Staatsangestellte und Soldaten unverändert zu lassen. Trotz der Krise bewegt sich die Popularität des Präsidenten allerdings weiterhin auf historischem Hoch und gibt es keine Massenproteste gegen die Regierung. Wie lässt sich dies erklären?

Dass die Schwelle zum Massenprotest in Russland derzeit relativ hoch liegt, hat nicht nur damit zu tun, dass die Menschen mit harschen Maßnahmen der Sicherheitskräfte rechnen müssen. Massenproteste sind auch deshalb wenig wahrscheinlich, weil viele dem Staat eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben zuschreiben. Gerade dafür haben die Menschen Putin und der ihm nahestehenden Partei »Einiges Russland« wiederholt die Stimme gegeben. Und deshalb – und nicht nur wegen staatlicher Repression und Wahlmanipulation – haben Oppositionsparteien in Russland kaum eine Chance. Die Misere der 1990er Jahre, die für zahlreiche Menschen sozialen Abstieg und Verarmung zur Folge hatte, ist noch sehr präsent. Dorthin will die Bevölkerung nicht zurück, auch wenn dies Abstriche an der eigenen Freiheit bedeutet. Trotz Krise sehen viele schlicht keine Alternative zu Putin.

Dabei interessiert es die Menschen kaum, dass Russlands wirtschaftlicher Aufschwung bereits nach dem Rubelkollaps von 1998 und damit vor Putins Amtsantritt als Premierminister im September 1999 einsetzte. Es waren die energischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation, die Schaffung von minimalen Rahmenbedingungen für die Entstehung einer Marktwirtschaft und die Abwertung des Rubels, welche die Basis für das spätere Wachstum gelegt hatten. Putin konnte daran anknüpfen und hatte zudem das Glück, dass die Weltmarktpreise für Öl Anfang der 2000er Jahre, insbesondere aber nach der US-Invasion in den Irak ab Ende 2003, derart kräftig zulegten, dass der Staat wieder genügend Mittel in der Kasse hatte, um den Lehrern die Löhne zu bezahlen, den Rentnern die Pensionen wieder auszuschütten und die darniederliegende Infrastruktur des Landes wieder einigermaßen instand zu stellen.

Viele Menschen assoziieren Putin mit dem Aufschwung Russlands. Die Schuld für die derzeitige Krise sehen sie nicht bei Putin und dessen Politik, sondern sie übernehmen weitgehend die offizielle Lesart, wenn sie die Ursache der Misere einzig in den westlichen Sanktionen und den niedrigen Ölpreisen verorten. Die jahrelange Staatspropaganda hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Viele glauben an den Mythos vom »Retter Putin« ebenso wie an die Vorstellung vom »gedemütigten« Russland, das sich dank der starken Führung Putins erhoben habe und seine »legitimen« nationalen Interessen in der Welt wieder entschlossen wahrnehme: Sei es, um angeblich bedrohte Russen in den Nachbarstaaten zu schützen, sei es, um einer Erweiterung von Nato und EU Richtung Osten oder dem globalen Vorrücken des amerikanischen »Imperialismus« Einhalt zu gebieten. Dass diese Narrative bei der Bevölkerung eine solche Wirkung erzeugen, ist nicht nur der manipulativen Kraft der Propaganda zuzuschreiben. Die Propaganda funktioniert, weil sie bei vielen Menschen einen Nerv trifft und sie diese aus Überzeugung teilen.

Somit scheint es, wie es eine russische Redensart ausdrückt, dass bislang der »Fernseher über den Kühlschrank« gewonnen habe. Mit anderen Worten: Die staatliche »Propaganda des Stolzes« (Jens Siegert), die über das Fernsehen vermittelt wird, wirkt noch immer stärker als die Furcht vor der Krise oder der Ärger über den sinkenden materiellen Lebensstandard.

Verhärtung nach innen und aggressive Töne nach außen

Wenn die wirtschaftliche Talfahrt anhält, dann ist allerdings nicht auszuschließen, dass die Missstimmung in der Bevölkerung wächst und es zu einer Zunahme von Protestaktionen kommt, wie etwa diejenige der Lastwagenfahrer, die im Dezember 2015 gegen eine neue Mautpflicht protestierten. Auch Automobil-Arbeiter haben unlängst Protestaktionen durchgeführt, nachdem es nach dem Verkaufseinbruch zu Massenentlassungen gekommen war. Noch sind diese Aktionen lokal und noch haben sich die Protestierenden nicht national koordiniert. Dass sich aber auch in Russland die Massen durchaus mobilisieren lassen, haben die großen Anti-Regierungsdemonstrationen in Moskau und anderen russischen Städten 2011 und 2012 gezeigt, als Hunderttausende im ganzen Land wegen Wahlfälschungen im Zuge der Parlamentswahlen auf die Straße gingen.

Auch wenn der Fernseher über den Kühlschrank siegt: Russlands Führung wappnet sich für den Fall der Fälle. Denn die Kremlführung weiß nicht erst seit der Majdan-Revolution, dass Krisen immer das Potential für sozialen Protest bergen und dass dieser Protest mitunter eine Eigendynamik mit unvorhersehbaren Konsequenzen entfalten kann. Deshalb ist die Staatspropaganda in letzter Zeit noch martialischer geworden, wenn sie den Bürgerinnen und Bürgern immer und immer wieder in Erinnerung ruft, ja keinen Umsturz bestehender Verhältnisse zu wagen, da dieser letztlich nur zu Chaos und Bürgerkrieg führe, wie die Beispiele Ukraine, Libyen, Irak und Syrien zeigten. Gleichzeitig hat die Regierung die ohnehin bereits strengen Demonstrationsgesetze erneut verschärft: Den Sicherheitskräften ist es nun sogar erlaubt, nach eigenem Ermessen in Menschenmengen zu schießen, auch wenn sich dort Frauen und Kinder befinden.

Fast scheint es, als fürchte sich das Regime mehr vor dem eigenen Volk als vor dem Rubelzerfall, den tiefen Ölpreisen oder den westlichen Sanktionen. So hat die herrschende Partei »Einiges Russland« bereits jetzt strikte Anweisungen an ihre Kandidaten ausgegeben, wie sie sich während der Kampagne im Vorfeld der Parlamentswahlen, die erst im September 2016 stattfinden, zu bestimmten Themen verhalten sollen. Insbesondere sollen die Kandidaten den Bürgerinnen und Bürgern wieder und wieder in Erinnerung rufen, dass Russland nur unter Putin gedeihen könne. Die Kremlführung will auf jeden Fall verhindern, dass es im Zuge der nächsten Duma-Wahlen zu ähnlichen Massenprotesten wie 2011 und 2012 kommt. Wohl deshalb hat Putin Ende März 2016 auch den langjährigen Vorsitzenden der einflussreichen Zentralen Wahlkommission, Wladimir Tschurow, der der liberalen Opposition schon lange ein Dorn im Auge war, durch Ella Pamfilova, die Vorsitzende des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, ersetzt. Damit erhofft sich der Kreml bei den nächsten Wahlen weniger Kritik seitens internationaler Wahlbeobachter und der Opposition.

Und um bis dahin nicht den Anschein zu erwecken, die Zentralmacht tue nichts gegen die Missstände im Land, ist die Staatsführung in den vergangenen Monaten im Rahmen ihrer Antikorruptionskampagne wiederholt und jeweils medienwirksam gegen Politiker und Unternehmer, darunter namentlich regionale Machthaber, vorgegangen: So ließ Putin im Frühjahr 2015 den Gouverneur der Region Sachalin, Aleksandr Choroschawin, und im Herbst desselben Jahres den Vorsteher der Republik Komi, Wjatscheslaw Gajser, seinen Stellvertreter und über ein Duzend weiterer Amtspersonen verhaften. Und tatsächlich scheinen solche Aktionen zum positiven Bild Putins beizutragen. Er erscheint der Mehrheit der Bevölkerung – ganz anders als die Beamten innerhalb des Staatsapparats oder Regionalpolitiker – als unbestechlich und tüchtig, als jemand, der sich ehrlich um das Wohl des Landes und die Menschen kümmert. Auch die jüngsten Enthüllungen, die die so genannten »Panama-Papers« ans Licht brachten – rund zwei Milliarden US-Dollar aus dem Umkreis des russischen Präsidenten sollen in Offshore-Firmen geflossen sein – dürften diesem Bild wohl solange kaum nachhaltig schaden, als es den offiziellen Medien gelingt, diese Affäre als weiteren Beweis einer westlichen »Informationsattacke« gegen Russland darzustellen, die das Ziel habe, das Land im Vorfeld der Duma-Wahlen zu destabilisieren.

Die Verhärtung nach innen geht Hand in Hand mit einer immer aggressiveren Haltung nach außen: Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, Moskaus verdeckte Kriegsführung in der Ostukraine, die Militärintervention in Syrien, die Großmanöver der russischen Armee unmittelbar an den Grenzen zu Nato-Staaten, die wiederholten Verletzungen des Luftraumes anderer Staaten durch russische Kampflugzeuge und Jagdbomber – zu all diesen Kriegs- und Machtdemonstrationen reiht sich eine immer aggressivere antiwestliche Rhetorik. Wenn Medwedew stellvertretend für die antiwestliche Tonart des Kremls auf der 52. Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2016 von einem »neuen Kalten Krieg« und sogar »Weltkrieg« spricht, dann richten sich diese Worte allerdings nicht nur gegen den Westen, sondern auch an das Publikum zuhause. Mit der medialen Dauerberichterstattung über Konflikte, Gewalt und die heroischen Taten des russischen Militärs trimmt die Staatsführung die Bevölkerung auf Krieg, schürt aber gleichzeitig auch eine eigentliche Kriegsangst, welche die Funktion hat, die Gesellschaft zu mobilisieren und sich deren Unterstützung zu sichern.

Machterhalt als oberstes Gebot

In der derzeitigen Krisensituation ist Machterhalt die oberste Maxime für die politische Führung. Alles andere hat sich diesem Gebot unterzuordnen. Als Putin anlässlich seiner Rede zur Lage der Nation im Dezember 2015 erneut der Diversifizierung das Wort redete, indem er meinte, dass das niedrige Ölpreisniveau auch eine Chance darstellen würde, die Rohstoffabhängigkeit zu reduzieren, indem Sektoren wie die Hochtechnologie, aber auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU), gestärkt würden, dann klang dies wohl sehr vernünftig, aber es ist in naher Zukunft wohl kaum mit praktischen Schritten in diese Richtung zu rechnen.

Tatsächlich wäre gerade die Förderung der KMU für die Diversifizierung dringend nötig, steuern diese derzeit doch lediglich 20 Prozent zum russischen Bruttoinlandsprodukt bei – und damit weit weniger als in den meisten westlichen Staaten, wo deren Wertschöpfungsanteil bei deutlich über 50 Prozent liegt. Doch der Weg dorthin ist steinig: Um das Innovationspotential, das in der russischen Gesellschaft schlummert, zur Entfaltung zu bringen, wären nebst der entschiedenen Stärkung der Rechtssicherheit auch ein Abbau der bürokratischen Erschwernisse, die entschlossenere Bekämpfung der Korruption und schließlich auch die Bereitstellung von finanziellen Mitteln nötig.

Das eigentliche Problem einer effektiven Diversifizierung ist allerdings darin zu sehen, dass im »System Putin« ein florierender Privatsektor bestehend aus KUM gar keinen Platz hat. Denn wenn das oberste Gebot die Beibehaltung eines Systems ist, das politische Macht mit Kontrolle über die Wirtschaft gleichsetzt, dann ist nicht davon auszugehen, dass die staatlichen Machthaber ein wirkliches Interesse daran haben, einen Sektor zu fördern, der sich von seiner Struktur her weit weniger gut kontrollieren lässt als einige Dutzend Großunternehmen und Oligarchen. Deren Interessen lassen sich jedenfalls leichter bedienen, um ihre Loyalität gegenüber der Kremlführung sicherzustellen.

Die Krise als Chance

Russland hat sich mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und seiner verdeckten Militärintervention in der Ukraine selbst ins Abseits manövriert. Moskau gibt sich seither nach außen unnachgiebig und kriegerisch. Doch zwischen den Zeilen und hinter verschlossenen Türen tönt es anders. Dabei ist es ironischerweise nicht zuletzt auch die Maxime des eigenen Machterhalts, der die russische Führung dazu anhält, weiterhin eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen – und namentlich zu Europa – anzustreben. Denn immerhin ist Europa der wichtigste Absatzmarkt für Russlands Öl und Gas – und damit eben auch die wichtigste Quelle für Deviseneinnahmen, welche eine zentrale Stütze des Putinschen Systems bilden.

Eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum wichtigsten Handelspartner ist somit schlicht nicht im Interesse des Kreml und deshalb hören sich die Forderungen nach Autarkie und Abkoppelung Russlands von der Weltwirtschaft, wie sie etwa Sergej Glasjew, ein bekannter russischer Ökonom und Berater Putins, vorgeschlagen hat, ebenso abenteuerlich an wie die wiederholt geäußerte Idee, Russland könne Europa, den wichtigsten Abnehmer seiner Rohstoffe, durch den asiatischen Markt ersetzen und seine Erdöl- und Erdgasströme von West nach Ost umlenken. Solche Ansichten sind Teil der antiwestlichen Rhetorik, die das innenpolitische Klima in Russland derzeit vergiftet. Sie fügen sich zudem ein in die Vorstellung, dass Russland zwar offen für Allianzen und Kooperationen sei, es im Notfall aber auch allein schaffe. Oder, um es in den Worten von Putin zu formulieren, wie er sie etwa am 12. Januar 2015 in einem Interview in der Zeitung »Bild« geäussert hat: »[E]s ist wie im richtigen Leben: Eine glückliche Liebe ist nur eine, die erwidert wird. Wenn man nicht mit uns zusammenarbeiten will, na bitte, dann eben nicht«.

Moskau ist ein höchst ungemütlicher Partner, aber die russische Führung hat kein Interesse, ihr Land zum Paria der internationalen Staatengemeinschaft verkommen lassen. Russland ist gerade in der derzeitigen Krisensituation auf Investitionen und technologische Zusammenarbeit mit dem Westen angewiesen – und zwar vor allem im Energiesektor, wo sich die Krise besonders stark niederschlägt. Russland gibt sich nach außen trotzig, aber die Führung des Landes wird letztlich nicht darum herumkommen, die Investitionsbedingungen attraktiver zu gestalten, um ausländische Unternehmen und Kapital ins Land zu locken.

Die gegenwärtige Situation ist brandgefährlich, sie bietet aber auch Chancen. Und deshalb sollte der Westen Moskau nicht noch weiter in die Defensive drängen. Die kürzlich beschlossene massive Aufstockung der amerikanischen Militärpräsenz in Europa ist keine Lösung, denn dies wird zur Verhärtung bestehender Fronten führen. Natürlich darf eine Normalisierung der Beziehungen Russlands zum Westen nicht auf Kosten der Ukraine und anderer osteuropäischer Staaten erfolgen. Eine stabile Ukraine zwischen Ost und West ist für die gesamteuropäische Sicherheit jedoch nicht minder wichtig wie ein wirtschaftlich prosperierendes Russland, das sich wieder als Partner – und nicht Gegenspieler – des Westens sieht.

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