Großmacht und Geschichte. Über die geistige Grundlegung der russischen Außenpolitik heute

Von Hans-Henning Schröder (Bremen)

Zusammenfassung
Russlands Führung ist in den Jahren 2015 und 2016 wieder ein relevanter Akteur in der internationalen Politik geworden. Sie hat eine Vorstellung von der Rolle des eigenen Landes entwickelt, die der russische Außenminister im März 2016 in einem Artikel in der Zeitschrift »Russia in Global Affairs« dargelegt hat. Darin begründet er die russische Großmachtrolle im Rückgriff auf die eigene Geschichte, aus der eine Reihe von Grundsätzen abgeleitet werden: Russland ist eine der führenden Mächte der Welt und versteht sich als europäischer Staat. Zugleich wird ein »westlicher« Wertekanon abgelehnt und durch ein Bekenntnis zur eigenen Tradition und zu dem besonderen kulturell-zivilisatorischen Weg Russlands ersetzt. Russland soll mit der EU und den USA auf Augenhöhe kooperieren, verwehrt sich aber gegen Kritik an seinen inneren Verhältnissen. Man muss davon ausgehen, dass diese Vorstellungen die Perzeption der russischen Elite und ihr politisches Handeln prägen. Die deutsche und europäische Bereitschaft, mit der russischen Seite ins Gespräch zu kommen, ist groß. Doch der gegenwärtige russische Selbstvergewisserungsdiskurs macht es sehr schwierig, einen konstruktiven Dialog in Gang zu bringen, geschweige denn, eine Kompromisslinie zu finden.

Russland als Partner?

Die russische Führung hat in den Jahren 2015 und 2016 eine Reihe außenpolitischer Erfolge erzielt und spielt nun wieder eine größere Rolle in der internationalen Politik. Die Syrienkrise ist ohne Beteiligung Russlands nicht zu beenden, in der Ukrainefrage sind die Gesprächspartner auf eine Zusammenarbeit mit Russland angewiesen und auch die Reparatur der europäischen Sicherheitsordnung erfordert die Kooperation der russischen Führung. Es lohnt sich daher, verstärkt darüber nachzudenken, welche Ziele die Putin-Administration verfolgt, und wie die russische außen- und sicherheitspolitische Elite heute die Welt wahrnimmt. Es muss danach gefragt werden, von welchen Bildern das Denken der russischen Eliten geleitet ist, und wie diese ihre Interessen definieren. In der März-Ausgabe der Zeitschrift »Russia in Global Affairs« hat der russische Außenminister Sergej Lawrow nun seine Interpretation der Rolle Russlands in der internationalen Politik dargelegt.

Die Abkehr von Europa und die Wiederentdeckung Eurasiens

Lawrows Artikel erscheint zu einem Zeitpunkt, da die russische Außenpolitik ein neues Gesicht zeigt. Lange Zeit hatte die russische Führung kaum Ansätze entwickelt, um internationale Politik aktiv zu gestalten. Einfluss nahm sie allenfalls als »Spielverderber«, indem sie durch ihr Veto im Sicherheitsrat, Lösungen blockierte. Sie agierte defensiv und konzentrierte sich auf den eigenen Nachbarschaftsraum. Die russische Elite sah ihr Land durch »den Westen« bedroht – und schlimmer noch: sie fühlte sich von ihm ignoriert. Das Verhalten der NATO in der Kosovo-Krise 1999, die Erweiterung der Allianz (seit 1999) und der EU (seit 2004) steigerten die Besorgnis. Dass Präsident Medwedews Angebot zur europäischen Sicherheitszusammenarbeit im Jahre 2008 bei den europäischen Regierungen und den USA kein Interesse weckte, war eine Enttäuschung für jene Teile der Elite, die auf Zusammenarbeit mit der EU und den USA setzten. Dass in der NATO nach dem russisch-georgischen Krieg ein möglicher Beitritt Georgiens und der Ukraine diskutiert wurde, und dass zwischen der Ukraine und der EU über eine engere Zusammenarbeit gesprochen wurde, verstärkte russische Ängste. Die Integrationsangebote der EU an die Staaten des postsowjetischen Raumes, die auch auf Förderung von Demokratie und Zivilgesellschaft setzten, wurden in der russischen Führung als Teil eines geopolitischen Projekts wahrgenommen, das sich direkt gegen das eigene Regime richtete. »Der Westen« erschien als Feind.

Im Gegenzug zu dem Vordringen »des Westens« nach Osten entwickelte die russische Führung ein eigenes Integrationsprojekt – die Eurasische Union. Ihr Kern war eine Wirtschaftsunion, der zunächst Russland, Belarus und Kasachstan angehören sollten. Wladimir Putin hat dieses Vorhaben Anfang Oktober 2011 in einem Iswestija-Artikel vorgestellt (<http://izvestia.ru/news/502761>). Er sei überzeugt, schrieb Putin, dass die effektive Integration Eurasiens ein Weg sei, der es den Beteiligten erlaube, einen würdigen Platz in der schwierigen Welt des 21. Jahrhunderts einzunehmen. Nur gemeinsam werde man in der Lage sein, sich den Führern des globalen Wachstums und des Fortschritts der Zivilisation anzuschließen. Praktisch war dieser Plan zugleich eine Absage an die Zusammenarbeit mit der EU, von der man enttäuscht war. Die Integration des postsowjetischen Raumes legte aber zugleich – auch wenn dies Putin in seinem Artikel nicht explizit machte – das Fundament für die Absicherung einer russischen Einflusssphäre, die man in der russischen Führung als Voraussetzung für die Wiedergewinnung der eigenen Großmachtrolle ansah.

Großmachtstreben und Feindbildpropaganda erfüllten auch eine innenpolitische Funktion. Seit der Finanzkrise 2008/2009 erodierte in der russischen Gesellschaft der Rückhalt für das Regime. Die Moskauer Demonstrationen des Winters 2011/2012 zeigten, dass es zumindest in den Metropolen ein gewisses Protestpotential gab. In der Interpretation der Führungselite war das ein Signal, dass »der Westen« Russland nicht nur außenpolitisch bedrängte, sondern dass er durch aggressive Demokratieförderung und Unterstützung einer »farbigen Revolution« einen regime change, einen Sturz des Regimes, anstrebte. Durch patriotische Propaganda, die Darstellung »des Westens« als Feind und das Hervorheben der eigenen Größe wollte die Putin-Administration die Bevölkerungsmehrheit gegen diese Gefahr in Stellung bringen.

Die Krise russischer Außenpolitik 2013–2014

Der Kiewer »Euromajdan« im November und Dezember 2013 bediente die beiden großen Ängste der russischen Elite: einerseits manifestierte sich in ihm eine Haltung der ukrainischen Gesellschaft gegen die Integration in den russischen Einflussraum – und gefährdete somit das Großmacht-Projekt –, andererseits war er ein gefährlicher Präzedenzfall, weil er zeigte, das eine Gesellschaft sich erfolgreich gegen ein korruptes Regime zur Wehr setzen kann.

Für die Putin-Administration war diese Entwicklung zunächst ein Rückschlag. Der Versuch, die Ukraine zu einem Teil der eigenen Einflusszone zu machen, war gescheitert, zugleich verlor sie mit Janukowytsch ihren vertrauten Ansprechpartner in Kiew. Allerdings bot die Auflösung der staatlichen Ordnung in der Ukraine der russischen Seite auch neue Eingriffsmöglichkeiten. Nach dem Scheitern der Mission der drei europäischen Außenminister und dem Sturz Janukowytschs entschied sich die Putinsche Führung, in die Offensive zu gehen. Russland annektierte die Krim und förderte in der Ostukraine eine Aufstandsbewegung gegen die Kiewer Zentralregierung.

Dieser Schritt zeigte, dass die Putinsche Führung 2014 bereit war, zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt einzusetzen, und dass sie auf die Regeln der europäischen Sicherheitsordnung weiter keine Rücksicht nehmen wollte. Das hatte unmittelbar negative Folgen: die Nachbarn – auch die des eurasischen Integrationsraumes – fühlten sich durch Russland bedroht. Das Verhältnis zur Ukraine wurde nachhaltig gestört. Die internationale Gemeinschaft verurteilte die Annexion. Die US-Administration, die sich in den vergangenen Jahren vor allem China und dem pazifischen Raum zugewandt hatte, richtete ihren Blick wieder auf Europa. Mit der Beschädigung des europäischen Sicherheitssystems gewann die NATO neue Bedeutung. All dies lief im Grunde den Interessen russischer Außenpolitik zuwider.

Russlands Misere wurde durch die wirtschaftliche Entwicklung verstärkt. Die USA und die EU lehnten zwar den Einsatz von Militär ab, doch sie belegten Russland mit Wirtschaftssanktionen. In der ersten Stufe hatten diese nur symbolischen Charakter, in den folgenden Stufen wirkten sie sich aber fühlbar auf die russische Finanzwirtschaft aus. Der weltweite Einbruch der Ölpreise, der im Mai 2014 einsetzte, führte dann zu ernsthaften Beschädigungen der russischen Wirtschaft. Der Staatshaushalt geriet unter Druck, die Reallöhne sanken, die Preise zogen an.

International isoliert und wirtschaftlich angeschlagen, befand sich Russland Ende 2014 in einer schwierigen Situation.

Russlands Rückkehr in die internationale Politik

Im Laufe der Jahre 2015/2016 gelang es der russischen Diplomatie, Boden gutzumachen. In Verhandlungen mit Frankreich, Deutschland und der Ukraine leitete sie einen Prozess ein, der den russisch-ukrainischen Konflikt kanalisierte, ohne dass die russische Seite substantielle Positionen aufgeben musste. An den Verhandlungen über das Atomabkommen mit dem Iran und der Aufhebungen der Sanktionen, die im Juli 2015 in Wien zu einer Einigung führten, war Russland als Teil der 5+1-Gruppe (USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich plus Deutschland) maßgeblich beteiligt. Im syrischen Bürgerkrieg hat Russlands militärisches Engagement, das von einer intensiven Gesprächsdiplomatie in der Region begleitet wurde, dazu beigetragen, die Kräfteverhältnisse zu verändern. Das Assad-Regierung wurde deutlich gestärkt. Zugleich ist noch klarer geworden, dass ohne Beteiligung der russischen Regierung keine politische Lösung in Syrien möglich ist. Russland ist in die Weltpolitik zurückgekehrt.

Die Welt des Sergej Lawrow

Es ist schwer zu entscheiden, welchen Anteil Außenminister Lawrow an der außenpolitischen Wende des Sommers und Herbstes 2015 hatte, als professionelle Risikoabschätzung die Politik patriotischer Emphase ablöste. Die russische Öffentlichkeit ist geneigt, ihm hier eine große Rolle zuzuschreiben. Bei den vom Lewada-Zentrum ermittelten Zustimmungswerten rangiert Lawrow inzwischen an dritter Stelle hinter Präsident Putin und Verteidigungsminister Schojgu. Das mag nur ein Reflex seiner verstärkten Medienpräsenz sein, doch in jedem Fall gilt Lawrow als der Vertreter und autoritative Interpret des neuen Kurses in der internationalen Politik Russlands.

Das Weltbild, das hinter dieser Politik steht, hat er im März 2016 in der Zeitschrift »Russia in Global Affairs« dargelegt. Der Außenminister, an sich ein nüchterner Berufsdiplomat, hat sich dafür einen Text schreiben lassen, der patriotische Geschichtslegenden einsetzt, um die aktuelle russische Außenpolitik zu begründen. Die Argumentation verrät einiges über die Befindlichkeit der russischen außenpolitischen Akteure, ihre Sicht auf die Welt und ihre Vorstellungen von der Rolle des eigenen Landes.

Es ist bezeichnend, dass Lawrow (bzw. sein Ghostwriter) zwei Gedanken an den Anfang des Textes stellt: Erstens kann und darf Europa nicht ohne bzw. gegen Russland vereinigt werden, und zweitens darf Russland nicht als ewig zurückbleibendes und ewig nachholendes Land gesehen werden, das immer fremden Vorgaben folgt. Hier scheinen Ängste und tiefe Kränkungen durch: die Furcht, dass die Staaten der Europäischen Union Russland aus Europa verdrängen könnten, und die Sorge, dass die führenden Wirtschafts- und Technologiemächte Russland nicht ernst nehmen und ihm ihre Verhaltensweisen und Werte aufzwingen könnten. Politik wird offenbar aus einem Gefühl der Unterlegenheit heraus formuliert, das aggressive Auftreten der letzten Jahre könnte man dann als Überkompensation verstehen.

Die Kontinuität der russischen Geschichte

Um die westliche Unterschätzung der Bedeutung Russlands zu widerlegen, greift der Artikel auf die Geschichtserzählung vom »Großen Russland« zurück. Der russische Beitrag im Siebenjährigen Krieg (1756–1763), im Ersten Weltkrieg (1914–1918), bei der Abwehr Napoleons 1812 und bei der Vertreibung der polnischen Invasoren 1612 zeugen, so der Text, »von der besonderen Rolle Russlands in der europäischen und der Weltgeschichte«. Die dynastische Verbindung Jaroslaws des Weisen mit den europäischen Fürstenhöfen dient als Beleg, dass die Kiewer »Rus« vollgültiges Mitglied der damaligen europäischen Gemeinschaft gewesen sei. Ja, mehr noch: »Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen zeugen von dem hohen – oft höherem als in westeuropäischen Staaten – kulturellen und geistigen Entwicklungsniveau der damaligen Rus«. Allerdings habe, so der Artikel, das russische Volk »eine eigene kulturelle Matrix« gehabt, eine Spiritualität, die sich niemals mit »dem Westen« vereinigt habe. In einem Atemzug zitiert der Text Alexander Puschkin, der Russland als Retter des Christentums vor dem Mongolensturm rühmt, und den Dichter Nikolaj Gumiljow, der die Mongolenherrschaft und die »Große Steppe« als prägende Erfahrungen des russischen Ethnos preist.

Gleichgültig, wie man die Indienstnahme von Geschichtserzählungen aus dem Mittelalter als Beleg für eine heutige Großmachtrolle Russlands bewertet, so fällt doch ins Auge, dass der Artikel zwei einander widersprechende Ziele verfolgt: er betont Russlands Zugehörigkeit zu Europa und besteht zugleich auf einer russischen Sonderentwicklung, die sich von Europa absetzt.

Dieses Muster findet sich auch im weiteren Verlauf der Darstellung. So wird betont, dass Moskau sich rasch entwickeln und sich modernste Technologien aneignen, zugleich jedoch einen eigenen »kulturellen Code« bewahren müsse. Das Muster, so Lawrow, kenne man aus vielen Beispielen der Modernisierung östlicher Gesellschaften, die trotz raschen Fortschritts nicht mit ihrer Tradition gebrochen hätten. Und es stimme für das eigene Land: »das gilt um so mehr für Russland, das in seinem tiefsten Wesen einen der Stränge der europäischen Zivilisation darstellt.«. Das Argumentationsmodell kehrt immer wieder: Russland ist europäisch – aber besonders. Den »Europäern« unterstellt man, dass sie sie Russland fürchten und deshalb versuchen, Russland aus Europa herauszudrängen.

Während die Verbindung der Rus und des Moskauer Großfürstentums mit Europa doch etwas überbewertet wird, steht das Lawrowsche Narrativ auf etwas festerem Boden, wo es sich Zar Peter I. und der Napoleonischen Zeit zuwendet. In der Tat zählt Russland seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert zu den europäischen Großmächten. Unter Berufung auf die französische Historikerin Hélène Carrère d’Encausse bezeichnet Lawrow Russland als das »größte Reich aller Zeiten«, nicht nur dem Ausmaß und der Dauer nach, sondern auch in der Fähigkeit, den Raum zu regieren. Mehr noch, Carrère d’Encausse betone, dem russische Philosophen Berdjajew folgend, Russland sei durch seine Geschichte die große Aufgabe zugeschrieben, das Verbindungsglied zwischen dem Osten und dem Westen zu sein. Doch die Europäer (insbesondere Napoleon III. im Krimkrieg) hätten dies – so Lawrow – nicht aufgenommen, sondern versucht, Russland aus Europa herauszudrängen, damit das europäische System des Wiener Kongresses zerstört, und somit den Weg in den Ersten Weltkrieg geebnet.

Der Artikel, der chronologisch angelegt ist, kann die russische Revolution und ihre Folgen nicht ausklammern – auch wenn dies nicht so recht in seine Argumentationslinie über die europäische Rolle Russlands passt. Doch er will die Vorwürfe gegen den Stalinismus und seine Verbrechen abwehren und die ungebrochene Kontinuität russischer Geschichte verteidigen. Die russische Revolution sei ein tragisches Ereignis gewesen, schreibt Lawrow, doch man könne das sowjetische Regime natürlich nicht mit dem Nationalsozialismus vergleichen und ihm auf keinen Fall einen Teil der Verantwortung für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges zuschreiben. Der Artikel weist die These vom »Zusammenstoß zweier Totalitarismen« (die Stalinismus und Nationalsozialismus gleichsetzt) als unmoralisch zurück und verweist auf Churchill, der gesagt haben soll: »Das Konzept der Sittlichkeit – Leben nach dem Gewissen – das ist russisch«. Lawrows Text umgeht mit diesem Zitat (das englisch nicht nachweisbar, im russischen Internet aber weit verbreitet ist) die Frage nach einer Bewertung der stalinistischen Repressionen und ihren Konsequenzen für Russland. Wie er denn überhaupt von einer ungebrochenen Kontinuität der russischen Geschichte ausgeht – von der Bedeutung einer »Synthese des gesamten Bestandes der von unserem Volke erarbeiten positiven Traditionen und historischen Erfahrung als Grundlage für ein energisches Fortschreiten und die Bekräftigung der Rolle, die unserem Land zurecht gehört, der Rolle eines der führenden Zentren der modernen Welt, das Werte der Entwicklung, Sicherheit und Stabilität bietet«.

Doch habe die Existenz der Sowjetunion – und damit kommt der Außenminister wieder auf die europäische Rolle Russlands zurück – auch positive Auswirkungen gehabt: Sie habe die europäischen Länder angetrieben, funktionierende Sozialsysteme zu entwickeln. Nach dem Ende der UdSSR beobachte man nun ein Schwinden der Mittelklasse, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und den Abbau der Kontrolle über große Unternehmen. So habe auch das »tragische Ereignis«, die Revolution und das Sowjetregime positive Folgen für Europa, während die russische Tradition und die kulturell-zivilisatorischen Besonderheiten davon anscheinend unberührt bleiben.

Grundrichtungen russischer Außenpolitik

Einer kritischen geschichtswissenschaftlichen Betrachtung hält dieses Konglomerat von Ideologemen nicht stand, dennoch konstituiert es ein Narrativ, mit dem die Grundrichtung russischer Außenpolitik legitimiert wird. Vier Grundaussagen kann man herausarbeiten: 1) Russland ist eine Großmacht, 2) Russland ist ein Teil Europas, 3) Russland hat eine besondere Kultur, die nicht „westlichen Werten« folgt, 4) »der Westen« versucht, Russland aus Europa herauszudrängen. Aus dem Rückblick auf die Geschichte gewinnt der Text die Bestätigung, dass Russland auch heute eine Großmachtrolle spielen müsse. Doch – und damit kehrt Lawrow zu der geläufigen außenpolitischen Argumentation zurück – die Welt habe sich verändert und sei viel komplizierter geworden als in der Zeit der Ost-West-Konfrontation. Die globale Entwicklung habe zur Entstehung neuer großer Machtzentren insbesondere im asiatisch-pazifischen Raum geführt. In dieser Welt sei »der Westen« nur ein Zentrum unter vielen und sein »Wertesystem« nicht mehr der alleinige Maßstab: »Der Westen« verliere an Einfluss. Es gebe eine Vielfalt von Entwicklungsmodellen und das westliche Wertesystem sei keineswegs das einzig richtige.

Damit ist der Beitrag bei einem Thema angelangt, das den russischen Außenminister offenbar beschäftigt – die Frage international gültiger Normen, wie sie z. B. in der UN-Charta festgeschrieben sind. Diese sollen für Russland (und andere große Staaten) nicht mehr gelten:

»Auch unser Land, das in seiner Geschichte eine Phase durchlaufen hat, in der es im Ausland künstliche Transformation vorantrieb, geht nun fest von den Vorzügen evolutionärer Veränderungen aus, die in Form und Tempo den Traditionen und dem Entwicklungsniveau der jeweiligen Gesellschaft entsprechen.« Die Politik einer Demokratieförderung wird also abgelehnt, ebenso die Idee globaler Werte. Russland soll kulturell-zivilisatorisch einen eigenen Weg gehen, doch als Großmacht mit anderen führenden Staaten zur Lösung gemeinsamer Aufgaben zusammenarbeiten. Die gemeinsame Hauptaufgabe sieht Lawrow in der Bekämpfung des Terrorismus.

Die Zukunft einer Partnerschaft mit Russland

Für Russlands Rolle in der internationalen Politik stellt der russische Außenminister in seinem Artikel eine Reihe von Zielen auf:

Er beansprucht für Russland die Anerkennung als Großmacht und fordert die Anerkennung als einer der führenden Staaten der Welt ein.Er macht deutlich, dass Russland Europa mitgestalten will und einen maßgeblichen Platz innerhalb von Europa beansprucht.Zugleich lehnt er die Allgemeingültigkeit des Wertekanons ab, den die Europäische Union formuliert, und den die UN-Charta, die Helsinki-Akte und die Charta des Europa-Rates einfordern. Stattdessen bekennt sich Lawrow zu russischer Tradition und einem kulturell-zivilisatorischen Sonderweg.Er fordert eine Kooperation mit der EU und den USA auf Augenhöhe und den Verzicht darauf, die inneren Verhältnisse Russlands zu kritisieren. Eine Politik wie seinerzeit die »Modernisierungspartnerschaft« Russlands und der EU ist nicht mehr akzeptabel.

Die Beschwörung einstiger Größe soll die inneren Schwierigkeiten kompensieren: die wirtschaftliche Schwäche, die sozialen Verwerfungen und den technologischen Rückstand. Die Politik stellt sich nicht den realen Problemen.

Das ist keine gute Nachricht – weder für die russische Gesellschaft noch für die Partner in der internationalen Politik. Gewiss richtet sich der Text zunächst nach innen: der Rückblick in die große Vergangenheit und die Kritik an westlichen Einmischungsversuchen dient der Mobilisierung der Bevölkerung für das Regime. Aber er richtet sich auch an »den Westen«. Er stellt Bedingungen für die künftige Zusammenarbeit auf und formuliert einen eigenen Diskurs, der dem westlichen Wertediskurs entgegengestellt wird. Basierten die Beziehungen der Bundesrepublik und der EU zur Russischen Föderation bisher auf einer Grundlage, die seit Helsinki gemeinsam entwickelt worden war, hat man es jetzt mit einer Weltsicht zu tun, die sich bewusst von der gemeinsamen Vergangenheit absetzt und Vorstellungen benutzt, die in Berlin und Brüssel als antiquiert und irrational empfunden werden.

Man muss davon ausgehen, dass dies nicht bloß vorgeschobene Vorstellungen sind, sondern dass diese Ideen die Perzeption der russischen Elite und ihr politische Handeln prägen. Die deutsche und europäische Bereitschaft, mit der russischen Seite ins Gespräch zu kommen, ist groß. Doch der gegenwärtige russische Selbstvergewisserungsdiskurs macht es sehr schwierig, einen konstruktiven Dialog in Gang zu bringen, geschweige denn, eine Kompromisslinie zu finden.

Im öffentlichen Diskurs kann man sich mit diesem Weltbild kritisch auseinandersetzen. Es ist nicht schwierig, das russische Narrativ zu dekonstruieren – die Geschichtsverfälschung ist allzu krude. Doch im diplomatischen Geschäft hilft ein solcher Ansatz nicht weiter. Dort muss man den Gesprächspartner und seine Ängste ernst nehmen, sich mit ihm auseinandersetzen und Vertrauen aufbauen. Das wird nicht einfach sein. Seinerzeit hat man zwölf Jahre hart verhandelt, um in 1975 Helsinki einen Prozess einzuleiten, der die Sicherheitslage in Europa für mehr als drei Jahrzehnte stabilisiert hat. Jetzt gilt es unter neuen Vorzeichen, ebenso beharrlich nach einer Lösung zu suchen, die die Situation in Europa stabilisiert, Russland einbezieht und die Werte wahrt, die im Helsinki-Dokument und in der Pariser Charta gemeinsam formuliert wurden.

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