Das religiöse Wiedererwachen im postsowjetischen Russland
Mit dem Übergang in die nachsowjetische Zeit begannen in einem geographischen Spektrum von Estland bis Tadschikistan Prozesse, die mit religiöser »Wiedergeburt« bezeichnet wurden. In den muslimischen Teilen des postsowjetischen Raums hat dies zur Verbindung mit der islamischen Außenwelt geführt, von der diese Regionen zuvor abgeschottet waren. Dabei entfalteten sich auch islamistische und panislamische Kräfte – allerdings von Region zu Region in unterschiedlichem Ausmaß. Im Kaukasus zeigt sich der Unterschied etwa zwischen Aserbaidschan, wo die Gesellschaft bei aller Wiederentdeckung islamischer Tradition in einem säkularen Nationalismus verwurzelt ist, und dem ihm benachbarten östlichen Teil des Nordkaukasus, wo islamistische Untergrundaktivitäten ethnische Grenzen überschritten und sich mit auswärtigen Netzwerken in Verbindung setzten.
Der Begriff »Wiedergeburt« im religiösen Kontext ist für die nachsowjetische Entwicklung besonders mit Blick auf den östlichen Teil des Nordkaukasus in Anführungszeichen zu setzen. Denn hier war der Islam auch in sowjetischer Zeit nicht ausgelöscht worden. Zwar beschränkte sich der »offizielle Islam« beispielsweise in der größten nordkaukasischen Teilrepublik Dagestan in den 1970er Jahren auf zwei Dutzend »arbeitende Moscheen«, wie es im sowjetischen Jargon hieß, und auf etwa 50 Mullahs unter staatlicher Aufsicht. Unterhalb dieser offiziellen Ebene wurden Religion und Tradition aber durch Alltags-und Familienriten gelebt und manifestierten sich in einem Netz heiliger Kultstätten, die zum Ziel von Pilgerfahrten wurden. Zugleich traten Strömungen hervor, die sich an einem »reinen Islam« orientierten und einige dieser Traditionen als heidnisch diffamierten. Da deutete sich bereits das Spannungsverhältnis zwischen traditioneller und fundamentalistischer Religiosität an, das heute z. B. in Konflikten zwischen Sufis und Salafiten in Dagestan zum Ausdruck kommt.
Historischer Rückblick
Die Religionsgeschichte des Nordkaukasus ist nicht weniger kompliziert als seine ethnisch-linguistische Geographie. Animismus, Christentum, Judaismus und Islam sind Teil dieser Geschichte. Auswärtige Mächte unterschiedlicher Konfession hatten Einfluss auf die Region. Die Islamisierung der Bergvölker erstreckte sich von frühislamischer Zeit bis in die Neuzeit und wurde im Widerstand gegen Kolonialgewalt verstärkt. Es zeigte sich ein Ost-West-Gefälle von Dagestan im Osten, das am frühesten und tiefsten im Islam verwurzelt war, bis in die tscherkessischen Siedlungsgebiete im Westen, wo auch antikolonialer Widerstand kaum religiös determiniert war. Der östliche Abschnitt des Nordkaukasus wurde zum Kerngebiet eines 2007 vom letzten tschetschenischen Untergrundpräsidenten Doku Umarow ausgerufenen »Kaukasus-Emirats«. Das hat einen historischen Hintergrund. Die Region hatte im 19. Jahrhundert das Zentrum eines Widerstands unter islamischer Flagge gebildet, der den längsten und brutalsten militärischen Aktionen des Zarenreichs in der Geschichte seiner kolonialen Ausdehnung seit dem 16. Jahrhundert entgegengesetzt wurde. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert waren islamische Autoritäten bemüht, die Bergvölker über ethnische und Stammesgrenzen hinweg zu vereinen. Sufitische Orden wie »Naqšbandiyya« und ihre Filialen beeinflussten die ethno-religiöse Identität. Der Sufismus trat hier wie auch in anderen muslimischen Regionen – so in Algerien unter Abd el Qader – über religiöse Entrücktheit und mystische Kontemplation hinaus. Die Beziehung zwischen dem Schüler (Murid) und dem Lehrer oder Meister (Scheich, Muršid) wurde als Gefolgschaftsprinzip für die Organisation bewaffneten Widerstands gegen die Oberherrschaft durch »Ungläubige« genutzt. Die jahrzehntelangen Kämpfe zwischen der Armee des Zaren und den Bergvölkern (russ.: »gorzy«) gingen als »Muridenkrieg« in die Historiographie ein, obwohl die neuere Forschung die Bedeutung des Sufismus für den bewaffneten Widerstand und seine politische Organisation etwas relativiert. Den Höhepunkt erreichte dieser Prozess unter dem dagestanischen Imam Schamil, der den Dschihad oder Ghazawat von 1834 bis zur Kapitulation von 1859 anführte. In seinem Imamat verband sich sufitisches Bruderschaftswesen mit einem rigiden islamischen Legalismus, den man heute eher in Verbindung mit Salafismus bringen würde.
Wie wurden diese Gegner im Zarenreich wahrgenommen? Ein russischer Kaukasusliterat, Alexander Marlinskij (Bestushew), präsentierte seinen Lesern die gorzy als »würdige Gegner«, schrieb aber zugleich, wie schön der Kaukasus wäre, wenn es dort drei Dinge nicht gäbe: »Pest, Cholera und Mohammedanismus«. Während die ethnische Selbstverteidigung in der russischen Literatur noch einen gewissen Respekt erheischte und die gorzy zu »edlen Wilden« stilisiert wurden, galt die islamische Begründung von Widerstand als Fanatismus. Dabei gab es im sufitischen Spektrum dieser Periode auch einen pazifistischen Gegenpol in Gestalt des dagestanisch-kumykischen Scheichs Kunta Hadschi, der die Rückkehr zu Kontemplation und Selbstentsagung forderte und der von Schamil postulierten religiösen Pflicht zum bewaffneten Widerstand »bis zum letzten Mann« widersprach. Der Kunta Hadschi-Orden bildet heute in Tschetschenien unter der Autokratie Ramsan Kadyrows praktisch die »Staatsreligion«.
Islam, sowjetische Nationsbildung und nachsowjetische Entwicklung im Nordkaukasus
Die sowjetische Nationalitätenpolitik verlagerte Identität auf ethnisch-linguistische Zuordnungskriterien. Mit seiner Vielvölkerlandschaft wurde der Kaukasus zum Laboratorium für diese Politik, welche die Verwurzelung (russ.: »korenisazija“) von Volksgruppen, nach denen Verwaltungseinheiten benannt wurden, in den Kader-, Verwaltungs- und Bildungsstrukturen auf nationaler Ebene förderte. Dieser Ansatz wurde dann durch den Großen Terror unterbrochen, der im Nordkaukasus bekanntlich zur Deportation ganzer Volksgruppen führte. Die sowjetische Nationsbildung in dieser Region konnte die islamische Symbolik der prä-nationalen Periode nicht völlig verdrängen. In Dagestan war es nicht ungewöhnlich, dass selbst Parteifunktionäre Mitglieder in sufitischen Bruderschaften waren. Dabei war die Mitgliedschaft in solchen Netzwerken mit ethnischen und tribalen Zuordnungskriterien verbunden und trug noch keinen pan-islamischen Charakter – dafür waren die sowjetischen Muslimregionen zu sehr von der islamischen Außenwelt abgeschottet.
Das änderte sich in nachsowjetischer Zeit, in die der Nordkaukasus mit der tschetschenischen Sezessionsbewegung eintrat. Sie war unter Führung des ehemaligen sowjetischen Generals Dschohar Dudajew zwar in erster Linie auf nationale Unabhängigkeit gerichtet. Aber es mischte sich schon in den ersten Tschetschenienkrieg von Dezember 1994 bis August 1996 das Klischee von einem Religionskrieg. In Tschetschenien standen dem bewaffneten Widerstand gegen die massive Militärintervention freiwillige Kämpfer aus dem islamischen Ausland zur Seite. In der Zeit nach 1996 verstärkte sich im bewaffneten Untergrund die ideologische Transformation hin zu einem trans-ethnischen islamischen Widerstand, der 2007 in das »Kaukasus-Emirat« mündete, in einen virtuellen Gottesstaat, der zwar keine territoriale Herrschaft ausübte, wie heute der »Islamische Staat« (IS) in Teilen Syriens, Iraks und Libyens, der aber doch die Aktivitäten lokaler Untergrund-Gruppen (Dschama’at) in weiten Teilen des Nordkaukasus koordinierte und ideologisch legitimierte.
Seit 1997 subsumierte in Russland das Schlagwort von den »Wahhabiten« alle möglichen islamischen Strömungen, die des Extremismus verdächtig wurden. Da wurden observante, aber unpolitische, nicht gewaltorientierte Muslime, politisch aktive Islamisten und gewaltorientierte Dschihadisten in einen Topf geworfen. Aus der undifferenzierten Wahrnehmung resultierten sicherheitspolitische Maßnahmen, die einer Radikalisierung eher den Boden bereiteten als sie einzudämmen. Ein »Krieg gegen Wahhabiten« zog in einigen nordkaukasischen Republiken junge Leute erst recht auf die Seite des Gegners. In dem zwischen 1996 und 1999 de facto unabhängigen, aber vom Krieg völlig zerstörten Tschetschenien, über dessen internationale Isolation Moskau Wache hielt, entfalteten sich ideologische Kämpfe. Radikal-islamistische Kräfte begaben sich in Konfrontation nicht nur zu einem säkularen Nationalismus, sondern auch zu gemäßigten Sufi-Bruderschaften. 1999 kam es zu Übergriffen des islamistischen Untergrunds in Tschetschenien auf Dagestan, wo sich in einigen Dörfern Scharia-Enklaven gebildet hatten. Insgesamt provozierte dieser Vorstoß aber in der Bevölkerung der Nachbarrepublik Gegenwehr und wurde von Moskau als Anlass für den zweiten Tschetschenienkrieg genommen, der in den ersten zwei Jahren nicht weniger brutal ausgetragen wurde als der erste. Auch auf der Gegenseite wuchs die Brutalität. Seit 1999 gab es 75 größere Terroranschläge gegen weiche Ziele in Russland. Ihnen fielen Hunderte Zivilisten zum Opfer, darunter auch Kinder bei der Geiselnahme an einer Schule in Beslan 2004.
Gegenwärtige Entwicklungstrends: Low Level Insurgency?
In internationalen sicherheitspolitischen Quellen figuriert die Situation im Nordkaukasus unter dem Etikett »permanent low level insurgency«. Wir sehen seit 2014 zwei Trends: einerseits die Abnahme von Gewaltaktivitäten und Terroranschlägen in der Region und aus der Region auf andere Teile Russlands, andererseits intensive Diskurse über die Ausstrahlung des »IS« aus Syrien und Irak auf die Region. Einerseits gingen Terroranschläge und Gewaltakte zurück: 2014 angeblich – und bei den oft weit auseinandergehenden Zahlenangaben ist hier »angeblich« zu betonen – um 46 % und 2015 um weitere 51 %. In den Jahren zuvor hatten sie zugenommen, wobei Dagestan in der Gewaltstatistik an der Spitze stand. Tschetschenien bildete nicht mehr das Epizentrum von Gewalt in dieser Region. Der Kriegszustand in der Republik wurde überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet, allerdings in einem Prozess der »Kadyrowisierung« oder »Ramsanisierung«, der wohl kaum für nachhaltige Befriedung, sondern für Allein- und Gewaltherrschaft steht. An diesem Kadyrowschen Privatstaat prallt die föderale »Machtvertikale« weitgehend ab. Unter lautstarker Loyalitätsbekundung für Präsident Putin und für die Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Russischen Föderation waltet der 39jährige Ramsan Kadyrow in diesem »Föderationssubjekt« ganz und gar nach Belieben, praktiziert seine eigene Außenpolitik und hat seinen eigenen Sicherheitsapparat unter Einbeziehung ehemaliger Untergrundkämpfer etabliert. Dabei verfolgt er auch seine eigene Islampolitik. Einerseits bekämpft er den islamistischen Untergrund. Andererseits kultiviert er einen traditionellen sufitischen Islam, bezieht dabei aber Normen ein, die eher dem kulturellen Repertoire des bekämpften Gegners entsprechen: etwa mit der Betonung strikter Unterordnung der Frau unter den Willen des Mannes. Kadyrow ist geradezu bestrebt, sich als Führer des Islam in ganz Russland zu präsentieren. In Dagestan und Inguschetien wurde ein Dialog zwischen Regierung, offizieller Geistlichkeit und islamistischer Opposition versucht, wobei es allerdings zu Rückschlägen und zur Unterbrechung des Dialogs kam. Gegenwärtig befindet sich die Regierung in Dagestan wieder in Konfrontation zu salafitischen Oppositionskräften und kooperiert dabei mit der offiziellen geistlichen Verwaltung, die ihrerseits eng mit Sufi-Orden und deren Scheichs verbunden ist. In Dagestan hat sich am stärksten eine Konstellation herausgebildet, die sich als »Sufismus versus Salafismus« bezeichnen ließe.
Für den Rückgang der Gewaltaktivitäten führen russische und externe Quellen diverse Gründe an. Es wird zum einen auf Erfolge der Sicherheitskräfte im Anti-Terror-Kampf verwiesen. In den letzten zwei Jahren wurden Führer des »Kaukasus-Emirats« in hoher Zahl bei Militäroperationen getötet. Hinzu kommt, dass dieses »Emirat«, das sich nach außen hin »al-Qaida« zugeordnet hatte, durch Gefolgschaftswechsel zahlreicher Feldkommandeure zum IS und zum Kalifat Abu Bakr al-Baghdadis innerlich gespalten wurde. Als einen weiteren Faktor führen einige regierungskritische russische und ausländische Quellen an, dass die Sicherheitsorgane eine Abwanderung nordkaukasischer Kämpfer in den Mittleren Osten, einen »Dschihad-Tourismus« aus Russland bis Ende 2014 geduldet, ja gefördert hätten, um innerhalb der eigenen Staatsgrenzen für Entlastung zu sorgen, vor allem im Umfeld der Winterolympiade in Sotchi. Im Juni 2015 erhob der IS Anspruch auf alle Territorien, die das Kaukasus-Emirat als seinen Einflussbereich definiert hatte, rief ein »Wilajat Kawkas« als Teil seines Kalifats aus und setzte dort einen Dagestaner als Emir ein. Danach erfolgten mehrere Drohungen an die Adresse Russlands. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Dschihad und übernahm Verantwortung für den Abschuss eines russischen Flugzeugs über Sinai mit 224 Todesopfern. Von massiver Präsenz des IS im Nordkaukasus kann allerdings nicht die Rede sein – eher umgekehrt, was die Beteiligung von Freiwilligen aus diesem und anderen Teilen Russlands an Kämpfen in Syrien und Irak betrifft. Laut offiziellen Angaben befinden sich dort 2.900 Staatsbürger Russlands in islamistischen Kampfeinheiten. Der Direktor des GUS-Antiterrorzentrums vermutet dort gar 5.000 Kämpfer aus Russland. 900 kommen angeblich allein aus Dagestan, wobei die lokale Regierung die Zahl Ende 2015 mit 683 angegeben hat. Dazu kommen Tschetschenen aus ihrer Heimatrepublik und aus Diasporagruppen in Europa, aber auch tatarische Muslime und Russen, Männer und Frauen, die zum Islam und dabei gleich zum Dschihad konvertiert sind.
Derzeit werden Diskussionen zwischen Vertretern der Regierung und der offiziellen Geistlichkeit über Gefahren und Ursachen islamistischer Radikalisierung geführt. Im März 2016 fand im Rahmen des »Nordkaukasischen Föderalbezirks« eine Konferenz in Naltschik (Republik Kabardino-Balkarien) zur Frage statt, wie eine solche Radikalisierung verhindert werden könnte. Dabei kamen Stimmen auf, die davor warnten, bei der Bekämpfung islamistischer Gewalt in erster Linie auf Gewalt zu setzen. Die Geschichte des Nordkaukasus seit Ende des 18. Jahrhundert steht eben besonders anschaulich dafür, dass Gewalt Gegengewalt generiert. Insgesamt bleibt für die Entwicklung im östlichen Teil des Nordkaukasus in nachsowjetischer Zeit festzustellen: Diese Region bildet Russlands »inneres Ausland«. Zwei Trends sind dafür verantwortlich zu machen: Der russische Bevölkerungsteil, der in sowjetischer Zeit noch recht groß war, ist aus der Region weitgehend ausgewandert, wenn auch die russische Sprache dort noch in Gebrauch ist. Überwölbt wird dieser Prozess der Entrussifizierung von Re-Traditionalisierung und verstärkter Islamisierung. Für den radikalisierten politischen Appell an »islamische Gerechtigkeit«, der besonders bei jungen Bevölkerungsgruppen Gehör findet, bieten systemische Korruption und prekäre sozialökonomische Verhältnisse im Nordkaukasus breite Angriffsflächen.