»Die Falle«
Im Jahre 2010 erschien in Moskau ein Buch mit dem Titel »Die Falle«, das darüber informieren wollte, mit welchen »Technologien« der »Westen« die russische Staatlichkeit zu untergraben versuche. In der Zusammenfassung hieß es:
»Die durchgeführte Analyse erhärtet die aufgestellte Hypothese, dass der geopolitische Konflikt zwischen den Staaten in eine neue technologische Phase getreten ist. Russland befindet sich im Epizentrum der internationalen Zivilisationsbrüche. Die Logik ist rekonstruiert, die Existenz eines westlichen Projekts und die Tatsache des Kampfes gegen die russländische Staatlichkeit ist nachgewiesen.«
Das Buch listet die »Technologien« auf, die »der Westen« angeblich einsetzt, um die russische Staatlichkeit zu untergraben. Dazu gehören: Medienpropaganda gegen traditionelle Werte der Orthodoxie, weltanschaulicher Pluralismus, Verbreitung von Ideologien, die den Aufgaben der Entwicklung Russlands widersprechen, die Auflösung der zivilisatorischen Identität, Entwertung des Begriffes »Volk« (»narod«), Anstiftung ethnischer Konflikte, Durchsetzung von Konsumorientierung, die Orientierung auf die »Kernfamilie« statt der Großfamilie, die Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen, die Zerstörung des traditionellen Bildungssystems, die Zerstörung der nationalen Wissenschaftsschulen, die Zerstörung der Vorstellung von der Kontinuität der russischen Geschichte durch Diffamierung einzelner Phasen der russischen Geschichte, postmoderne Auflösung der Grenze zwischen Gut und Böse, die Absenkung des Einkommens der Bevölkerung u. v. a. m. Aus der Aufzählung wird deutlich, was »Die Falle« unter den »neuen Technologien des Kampfes gegen die russische Staatlichkeit« versteht und gegen wen sich das Buch eigentlich richtet: gegen den ökonomischen, politischen und sozialen Wandel, gegen alle Erscheinungen der Globalisierung und insbesondere gegen die Öffnung der russischen Gesellschaft gegenüber »dem Westen«.
Als Hauptautor dieser »Monographie« tritt Wladimir Iwanowitsch Jakunin auf, als Koautoren fungieren Stepan Sulakschin und Wardan Bagdasarjan. Sulakschin war von 2006 bis 2013 Generaldirektor des »Zentrums für Problemanalyse und staatlich-administrative Projektierung bei der Abteilung Gesellschaftswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften«. Wardan Bagdasarjan ist Professor für Politikwissenschaften an der Lomonossov-Universität und ebenfalls am »Zentrum für Problemanalyse« tätig. Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums war Wladimir Jakunin selbst.
Dieses Zentrum veröffentlichte zwischen 2007 und 2010 eine Reihe voluminöser Studien, unter anderem zur Wirtschaftspolitik, zur Bildungspolitik, zur demographischen Krise und zu globalen Prozessen der sozialen Entwicklung. Als Autoren traten stets dieselben drei Personen auf: Jakunin Sulakschin und Bagdasarjan. Gewiss kann man bezweifeln, ob Jakunin an den Bänden tatsächlich mitgeschrieben hat, offenbar legte er aber Wert darauf, nicht nur als Leiter des Zentrums, sondern auch als Autor wahrgenommen zu werden, und als Vertreter einer Weltanschauung, die ›westliche‹ Muster verwirft, die Rückbesinnung auf sowjetische und russische Traditionen einfordert. In einem europäischen Diskurs würde man jemanden, der solch nationales Geschwurbel veröffentlicht, wohl als Obskuranten bezeichnen.
Ein Mann mit vielen Talenten …
Wladimir Iwanowitsch Jakunin (*1948) stammt aus einer Offiziersfamilie. Der Vater diente bei den Luftstreitkräften. Der Sohn wuchs in Leningrad auf und studierte dort Flugzeugbau. Nach seinem Wehrdienst (1975–77) arbeitete er zunächst im Außenwirtschaftskomitee beim Ministerrat (1977–1982, dann als Leiter der internationalen Abteilung des physikalisch-technischen Joffe-Instituts der Akademie der Wissenschaften (1982–1985) und danach in der sowjetischen Vertretung bei der UNO (1985–1991). Zuletzt hatte er den Rang eines »Ersten Sekretärs« inne. Alle drei genannten Posten sind mögliche KGB-Verwendungen, und so nimmt es nicht wunder, dass die Medien unterstellen, Jakunin habe in dieser Phase seiner Biographie dem KGB angehört, sei Offizier der technischen Auslandsaufklärung gewesen und habe eine KGB-Hochschule absolviert. Angeblich war der höchste Rang, den er je erreichte, der eines Ingenieur-Hauptmanns. In seiner offiziellen Biographie taucht diese Beziehung zum Geheimdienst allerdings nicht auf.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 verließ Jakunin den Staatsdienst und agierte in St. Petersburg als Geschäftsmann. Spätestens in dieser Phase trat Jakunin in eine engere Beziehung zu Wladimir Putin. Ende 1996 war er neben Putin eines der Gründungsmitglieder der Datschen-Kooperative »Osero«. Im April 1997 wurde er dann zum Leiter der Inspektion Nordwest der Hauptkontrollabteilung (GKU) der Präsidialverwaltung ernannt. Im Jahr 2000 wechselte er in das Transportministerium, übernahm Führungspositionen in Verkehrsunternehmen und wurde 2002 Stellvertretender Verkehrsminister. Mit der Privatisierung der russischen Bahn 2003 übernahm er das Amt des Ersten Vizepräsidenten der Gesellschaft. Im Oktober 2005 stieg er zum Präsidenten des Unternehmens auf, ein Amt, das er bis zu seinem Rückzug im August 2015 innehatte. Sein geschätztes Einkommen betrug im Jahre 2013 15 Mio. US-Dollar.
Neben seiner Karriere als Unternehmer und in der staatlichen Administration war Jakunin auch im ›Stiftungsgeschäft‹ und im akademischen Milieu aktiv. Als Professor lehrt er Politikwissenschaft an der Moskauer Lomonossow-Universität.
Wladimir Jakunin erscheint als ein Mann mit vielen Talenten. Wahrscheinlich stammt er aus dem Milieu der Auslandsspionage, mußte aber nach 1991 auf eigene Faust für sein Fortkommen sorgen. Dies tat er, indem er unternehmerische Tätigkeit geschickt mit Positionen in der Verwaltung verband. Er fand Anschluss an Wladimir Putin, der seit 1991 einflussreiche Positionen in der Petersburger Administration einnahm. Jakunin gehört also zu den »Petersburgern«, die im Gefolge Putins nach Moskau kamen und dort Karriere machten. Was ihn von anderen Angehörigen des engeren Kreises unterscheidet, ist sein starkes Interesse an nationaler Ideologie. Parallel zu der lukrativen kommerziell-administrativen Tätigkeit betrieb Jakunin denn auch eine breite nationalpatriotische Bildungs- und Beratungsarbeit.
Aufstieg und Fall eines »Bahnchefs«
In der zweiten Amtszeit Putins stieg Jakunin rasch in den engeren Führungszirkel auf. Als »Petersburger«, der im Gefolge Putins nach Moskau gekommen war und als ehemaligem Geheimdienstler schrieb man ihm erheblichen Einfluss zu. Es ist unklar, welcher der Elitengruppen um den Präsidenten er zuzurechnen ist. Gewöhnlich wird er in einem Atemzug mit den Vorsitzenden anderer Staatskonzerne genannt. Man bringt ihn auch in Zusammenhang mit Jurij Kowaltschuk, einem weiteren Mitglied der Datschengenossenschaft »Osero« und Vorstandsvorsitzenden der Bank »Rossija«, an der wiederum Jakunin beteiligt ist. Außerdem werden ihm enge Verbindungen zur Orthodoxen Kirche nachgesagt.
Er hatte aber offenbar auch mächtige Gegner, die sich alle Mühe gaben, den Bahnchef und Ideologen Jakunin zu demontieren. Im Juni 2013, publizierte der oppositionelle Blogger Aleksej Nawalnyj einen Bericht über »Jakunins Datsche«, eine luxuriöse Anlage in der Nähe von Domodedowo mit einem 50m-Schwimmbecken und einer Garage für 15 Fahrzeuge, u. a. einem Maybach. Nawalnyj schrieb: »Jakunin ist ein Patriot und verehrt die Tradition, aber schon Saltykow-Schtschedrin hat festgestellt: In allen Ländern dienen die Eisenbahnen dem Verkehr, bei uns aber darüber hinaus auch dem Diebstahl«. Der detaillierte Bericht, mit zahlreichen Photos illustriert, unterstellte dem Eisenbahnchef mißbräuchliche Mittelnutzung und Korruption. Die »Nowaja Gaseta«, die das Thema aufgriff, wusste zu berichten, dass das Gelände einer off shore-Firma gehörte, die auch Verbindung zu Jakunins beiden Söhnen hatte. Wer Nawalnyj und der »Nowaja Gaseta« das Material und die Informationen zugespielt hat, bleibt offen, doch der Verdacht liegt nicht fern, dass Gegner Jakunins in der Elite dabei ihre Hand im Spiel hatten. Wenige Tage danach wurde die Nachricht verbreitet, Jakunin sei abgelöst. Der Pressesprecher des Präsidenten dementierte dies aber umgehend. Jakunins Position war zunächst einmal gesichert.
In Schwierigkeiten geriet Jakunin aber Anfang 2015, als wegen der Einsparungspolitik der »Russischen Eisenbahnen« (RShD) in 20 Regionen Probleme mit den Vorortzügen auftraten. Jakunin schob die Schuld auf die Regionalverwaltungen, die diesen Vorwurf ihrerseits zurückwiesen und auf die RShD verwiesen. Da die Einschränkungen bei den Vorortzügen große Teile der Bevölkerung betrafen, wurde heftige Kritik an der Bahn geübt. Erst auf Anweisung von Präsident Putin gab Jakunin nach und ließ den Verkehr auf den eingestellten Vorortlinien im Juli 2015 wieder aufnehmen.
Kurz danach gab Jakunin bekannt, dass er beabsichtige, das Amt des Präsidenten der RZD aufzugeben und als Senator des Gebiets Kaliningrad in den Föderationsrat zu wechseln. Der Versuch, durch den eigenen Rückzug und den Wechsel in ein anderes Amt das Gesicht zu wahren, schlug fehl. Jakunin trat zwar zurück, die Hoffnungen, eine Funktion im Föderationsrat übernehmen zu können, erfüllten sich jedoch nicht.
Jakunin als nationaler Propagandist
Doch, wer in Russland einmal in den engeren Kreis der Machtelite aufgestiegen ist, der wird auch im Falle des Scheiterns nicht völlig fallen gelassen. Zwar verlor Wladimir Jakunin im August 2015 seine herausgehobene Stellung, er verfügte aber weiter über sein Vermögen und kontrollierte eine Reihe von Stiftungen.
Die Sankt Andreas-Stiftung
Eine enge Verbindung gab es seit langem zur Sankt Andreas-Stiftung, die 1992 gegründet worden war. Im Jahre 2001 entstand im Rahmen dieser Stiftung das »Zentrum für nationalen Ruhm« , an dessen Spitze von Anfang an Jakunin stand. Die Sankt Andreas-Stiftung gibt es zweimal – einmal in Moskau (<http://fap.ru/about/>), zum anderen seit 2013 auch in Genf (<http://www.st-andrew-foundation.org/en>). In Genf residiert die Stiftung bei einem Finanzdienstleister namens Salamander Suisse (Rue du Rhone 56, 1204 Geneva, Switzerland). Dem Stiftungsrat gehören 2016 sechs Personen an (s. Tabelle 3 auf S. 25). Die Genfer Stiftung war wohl eher eine Briefkastenfirma, in deren Leitung vor allem Finanzdienstleister vertreten sind. Dass diesem Personal das Stiftungsziel, die Wahrung des russischen nationalen Erbes, besonders am Herzen liegt, ist eher unwahrscheinlich. Sie verfügen aber über große Kompetenz bei der Bereitstellung von Dienstleistungen im Bankenbereich und der Finanzadministration. Anscheinend geht es in Genf vor allem um die Verwaltung von Kapital. Die inhaltliche Arbeit wird in der Moskauer Stiftung geleistet, die rechtlich keine direkte Verbindung zu der Schweizer Struktur hat.
Der »Dialogue of civilizations« und das DOC Research Institute
Eine der internationalen Initiativen, die Jakunin betreibt, ist das »World Public Forum (WPF) ›Dialogue of Civilizations‹ « (DoC; <http://www.wpfdc.org/>). Gegründet wurde der Dalog im Jahre 2002 von Jakunin gemeinsam mit dem indischen Unternehmer Jagadish Kapur und dem US-Businessman Nicholas F.S. Papanicolaou. Ziel ist es, den interkulturellen Dialog zu fördern und zur besseren gegenseitigen Verständnis beizutragen. Das europäische Hauptquartier befindet sich noch in Wien, das russische in Moskau. 2016 kündigte der DoC die Gründung eines eigenen Forschungsinstituts (<http://doc-research.org/en/>) und die Verlegung der Aktivitäten nach Berlin an.
Man darf nicht übersehen, dass Jakunin mit dem think tank-Projekt auch nach innen wirken will. Nach dem wenig ehrenvollen Hinauswurf aus den RShD suchte er Anfang 2016 wieder die Nähe zu Präsident Putin. Jakunin schlug ihm die Gründung eines unabhängigen Analyse-Zentrums vor, das sich mit der internationalen Lage auseinandersetzen sollte. Mit dem Präsidenten im Rücken will Jakunin offenbar auf die außenpolitische Diskussion in Russland einwirken. Das würde erklären, warum er den »Dialog« in ein Forschungsinstitut umwandelt und dies in Berlin platziert, dem Ort, der in russischen Augen eine besondere Rolle in der europäischen Politik spielt.
Er knüpft damit an die Beratungsaktivitäten an, die er bereits 2008–2010 für andere Politikfelder entwickelt hatte. Im April 2016 trat er mit einer Studie über die Steuerung der russischen Wirtschaft unter den Bedingungen internationaler Turbulenzen hervor, die das von Jakunin gegründete Zentrum für die Analyse von Wirtschaftspolitik der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität gemeinsam mit dem DoC herausgegeben hatte. Ein weiterer Bericht war der internationalen militärischen Präsenz der USA gewidmet. Dieser wurde von einem »Zentrum für die Erforschung von Gesellschaft in der Krise« (<http://cen tero.ru/>) gemeinsam mit dem DoC ausgearbeitet. Beide Initiativen machen deutlich, dass Jakunin den »Dialog« nutzt, um seinen Beratungsangeboten in Moskau ein höheres Gewicht zu verleihen.
Der »orthodoxe Tschekist«
Wladimir Jakunin ist eine schillernde Figur, die im Kielwasser Putins Karriere gemacht und ein Vermögen zusammengetragen hat. Er ist insofern untypisch, als er sich, anders als andere »Oligarchen«, nicht nur seinen Geschäften widmet, sondern von Anfang ein großes Interesse an rechtsnationalen Ideen entwickelte, und die Nähe zur Russischen Orthodoxen Kirche gesucht hat. Das und die Vermutung, dass er Angehöriger des KGB war, hat ihm den ironischen Beinamen eines »orthodoxen Tschekisten« eingebracht. Er selbst bezeichnet sich angesichts seiner vielfältigen Stiftungsaktivitäten lieber als »Philanthropen« und schweigt sich über seine Geheimdienstzugehörigkeit aus.
Trotz seiner großen Nähe zu Putins engerem Zirkel war der unmittelbare Einfluss Jakunins auf die russische Politik begrenzt und ist nach seiner Ablösung noch weiter zurückgegangen. In den Medwedew-Jahren, als Jakunin mit antiwestlichen, antidemokratischen und antimarktwirtschaftlichen Positionen hervortrat, sind seine Aktivitäten praktisch folgenlos geblieben. Erst ab 2012, als Putin in seiner dritten Amtszeit versuchte, über nationale Mobilisierung Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen, hatten nationalkonservative Weltbilder, wie Jakunin sie schon vorhere propagierte, wieder Konjunktur. Das hat dem Präsident der russischen Eisenbahnen aber nicht vor der Entlassung aus seinem Amt bewahrt.
Jakunin hat sich von seiner Kaltstellung jedenfalls nicht einschüchtern lassen. Er versucht, Einfluss zurückzugewinnen und sich dem Präsidenten mit seinem »Dialog der Zivilisationen« nützlich zu machen. So ist wohl auch die Initiative zur Gründung des Berliner Instituts zu verstehen, dessen »Launch« am 1. Juli 2016 im Humboldt Carré in Berlin stattfand.: Jakunin sucht eine Rolle in der russischen Politik. Sein Beitrag zur russischen Staatspropaganda im Ausland soll ihm dazu verhelfen.