Wie weiter mit Moskau? Gedanken zu einer realistischen Russlandpolitik des Westens

Von Markus Wehner (Berlin)

Der Charakter des russischen Herrschaftsmodells

Die Debatte um eine neue Russlandpolitik ist hierzulande in vollem Gange. Die einen warnen davor, Russland in die Enge zu treiben, mahnen Kompromissbereitschaft an und kritisieren, wie kürzlich Außenminister Frank-Walter Steinmeier, das Säbelrasseln der Nato. Die anderen betonen, dass ja Russland in der Ukraine der Aggressor sei und der Westen allenfalls angemessen, wenn nicht gar zu schwach auf die militärischen und außenpolitischen Provokationen Moskaus reagiere. Auch über die Frage, ob die Sanktionen gegen Russland weiter aufrechterhalten werden sollen, wird weiter gestritten. Der folgende Beitrag versucht ein paar Linien zu skizzieren, die bei der Formulierung einer Politik des Westens, Europas und Deutschlands gegenüber dem heutigen Russland beachtet werden sollten.

Für eine realistische Russlandpolitik ist entscheidend, wie der Charakter des heutigen Herrschaftsmodells in Russland bewertet wird. Die letzten Jahre haben gezeigt: Der russische Präsident Wladimir Putin ist ein autoritärer Herrscher, der den Westen verachtet und für Russland ein ganz anderes Entwicklungsmodell als das westliche verfolgt. Der Westen wollte das lange nicht sehen, stattdessen wurde weiter von einer »strategischen Partnerschaft« mit Moskau gesprochen. Die Bundesregierung und auch die EU haben lange an der Vorstellung gehangen, Russland könne mit einer Modernisierungsagenda oder einem Wandel durch Verflechtung zu einem weniger autoritären Kurs bewegt werden. Diese Sichtweise war trügerisch. Es war ein Fehler, nach dem Georgien-Krieg 2008 an diesen überholten Konzepten festzuhalten. Zwar handelt es sich um eine Spekulation zu sagen, bei einer anderen, härteren Reaktion des Westens hätte Russland sich nicht in das Krim-Abenteuer gestürzt und den hybriden Krieg in der Ukraine nicht gewagt. Doch ist es offensichtlich, dass Putin und die russische Führung auch nicht mit einer einheitlichen Reaktion des Westens und insbesondere der EU gerechnet haben.

Russland will den Westen schwächen …

Im Umgang mit Russland ist Nüchternheit angesagt. Ein beliebter Satz, den deutsche Politiker, nicht zuletzt Sozialdemokraten, lieben, lautet: »Ohne Russland geht es nicht«. Doch er führt nicht weiter. Es stimmt zwar: Gemeinsam mit Russland lassen sich globale Probleme besser lösen. In vielen Fragen wird das aber – leider – mit der heutigen russischen Führung nicht gehen. Darauf, dass Russland Verträge und Absprachen einhält, kann der Westen nicht mehr vertrauen. Sicherheit und Stabilität müssen teilweise ohne Russland gesucht werden.

Mehr noch. Spätestens mit der dritten Amtszeit von Putin als Präsident ist klar geworden: Russland will den Westen schwächen und die Europäische Union spalten. Dafür unterstützt der Kreml die europafeindlichen extremistischen Kräfte in Europa, die Rechts- und Linkspopulisten, und alle, die gegen ein geeintes Europa kämpfen. Der Kreml versucht, die westliche Öffentlichkeit gegen die EU aufzubringen und deren Schwächen auszunutzen – Schwächen, wie sie sich im Umgang mit der Flüchtlingskrise und in der Asylpolitik ganz offenbar zeigen. Dafür setzt Moskau nicht nur Mittel der Propaganda, sondern auch der Desinformation ein. Viele EU-Staaten, etwa die baltischen Staaten, Finnland oder Polen, haben das schon lange erlebt. In Deutschland ist erst in jüngster Zeit, nicht zuletzt durch den Fall des angeblich vergewaltigten russlanddeutschen Mädchens Lisa, klar geworden, wie skrupellos Moskau dabei vorgeht, Stimmung gegen die EU zu machen. Im Falle Deutschlands bedeutet das auch, dass Moskau Kampagnen gegen die Regierung Merkel und gegen die Bundeskanzlerin als Regierungschefin des stärksten EU-Staats unterstützt. Es spricht also viel dafür, dass Moskau einen neuen kalten Krieg gegen den Westen führt. Die Methoden der Einflussnahme, Propaganda und Desinformation sind vielfach die gleichen wie vor 1990, auch wenn sich das politische Umfeld und – in Zeiten der Digitalisierung – die technischen Mittel gewandelt haben. Der Westen muss geschlossen und selbstbewusst auf diesen zweiten kalten Krieg reagieren. Er muss Russland gelassen, aber unmissverständlich klarmachen, dass er seine Interessen und Werte verteidigt.

Sich der Herausforderung Russland stellen

Die russische Führung begründet ihre Politik damit, dass Russland sich nur zur Wehr setze. Sie sieht den Westen als Kraft, die einen Regimewechsel in Russland herbeiführen will. Der Westen sollte dem Kreml klarmachen, dass er dieses Ziel nicht verfolgt. Dass es gelingt, Putin von dieser paranoiden Sicht abzubringen, ist allerdings nicht wahrscheinlich. Im Gegenteil müssen wir davon ausgehen, dass die Spielräume für Diplomatie nicht größer werden. Das autoritäre russische Regime wird sich eher weiter verhärten. Die Gruppe um Putin wird alles tun, um an der Macht zu bleiben. Russland wird daher eine anhaltende Herausforderung für den Westen und die EU bleiben.

Zu dieser Herausforderung gehört auch, sich auf die wiedergewonnene militärische Stärke Russlands einzustellen. Europa muss sich gegen mögliche russische Aggressionen schützen. Nato und EU müssen bereit sein, militärisch zu antworten, wenn ihr Gebiet betroffen ist – sie müssen glaubhaft machen, dass das für alle ihre Mitglieder gleichermaßen gilt. Wenn eine Aggression etwa in Estland, Lettland oder Litauen erfolgt, muss der Westen reagieren. Verteidigungsfähig zu sein bedeutet auch, dass Europa sich auf Szenarien hybrider Kriege und bewaffneter lokaler Konflikte einstellen muss. Was die Nato derzeit unternimmt, ist deshalb das Mindeste, was angesichts der Annexion der Krim und des Kriegs in der Südostukraine angemessen ist.

Es braucht eine klare Haltung

Dass Europa mit Russland in Frieden leben will, ist selbstverständlich. Friedenswille und Dialogbereitschaft dürfen aber nicht dazu führen, das aggressive Vorgehen Russlands zu bemänteln oder zu ignorieren. Europa muss erkennen, dass es auf die Konfrontation mit einem rein machtpolitisch agierenden Russland bisher schlecht vorbereitet ist. Es muss auch auf den nichtmilitärischen Feldern, auf denen Russland die Auseinandersetzung mit dem Westen führt, mehr als bisher tun. Das heißt: Viele europäische Staaten müssen stärker gegen russische Spionage vorgehen und ihre Spionageabwehr stärken. Zugleich müssen sie sich gegen Cyber-Angriffe besser wappnen – der erfolgreiche Angriff russischer Hacker auf den Bundestag sollte ein Weckruf sein. Der russischen Propaganda sollte Europa Information und Aufklärung entgegensetzen.

Eine klare Haltung braucht es auch weiterhin, wenn es um die Krim und den Krieg im Osten der Ukraine geht. Der Westen darf die Annexion der Krim nicht akzeptieren und die Separatistenrepubliken Luhansk und Donezk nicht anerkennen. Jede andere Haltung würde bedeuten, dass Russland im postsowjetischen Raum nach Gutdünken schalten und walten kann. Sanktionen sind keine Strategie. Aber sie sind ein Instrument, um auf die aggressive russische Politik zu reagieren. Gleichzeitig wäre es naiv zu glauben, dass die Sanktionen unmittelbar eine Änderung der russischen Außenpolitik bewirken. Es ist also unrealistisch zu erwarten, dass Russland die Krim zurückgibt oder sich aus der Ukraine ganz zurückzieht. Was die Ukraine selbst angeht: Die EU sollte Kiew weiter stützen, dabei aber entschiedener auf einen Reformkurs und die Entmachtung der Oligarchen dringen. Der Ukraine sollte eine engere Anbindung an die EU ermöglicht werden. Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sollte auf absehbare Zeit ausgeschlossen sein.

Dialog mit Russland

Natürlich muss weiter mit Russland geredet werden. Trotz aller Differenzen muss der Westen den Dialog mit Moskau führen und nach Kompromissen suchen. Kompromissbereitschaft wird allerdings vom Kreml schnell als Schwäche ausgelegt. In der russischen Politik herrscht ein Denken in Sieg und Niederlage vor, eine Kultur des Kompromisses ist schwach ausgebildet. Deshalb muss der Westen Härte und Standhaftigkeit unter Beweis stellen. Das bedeutet allerdings nicht, den anderen in eine Situation zu bringen, die er als ausweglos oder demütigend ansieht. Russlands Sicherheitsbedenken, vor allem gegenüber der Nato, mögen aus westlicher Sicht unberechtigt sein, außer Acht lassen sollte der Westen sie aber nicht. So könnte der Westen in der Frage des Raketenabwehrschirms Moskaus Bedenken Rechnung tragen.

Eine Partnerschaft mit Russland, wie sie lange beschworen wurde, wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Europa sollte Russland aber nicht vollständig isolieren. Und die EU sollte ihre eigene Politik gegenüber Moskau formulieren. Die Interessen Europas unterscheiden sich, wenn es um Russland geht, innerhalb der EU von einem Land zum anderen. Die baltischen Staaten und Polen haben aus ihrer historischen Erfahrung ein hohes Sicherheitsbedürfnis gegenüber dem großen Nachbarn im Osten. Die Südeuropäer streben eine engere Zusammenarbeit mit Moskau an. Damit Russland Europa nicht spalten kann, ist es notwendig, eine EU-Strategie gegenüber Moskau zu entwickeln. Hier kommt es nicht zuletzt auf Deutschland an, das die Befürchtungen der Polen und Balten versteht, aber auch enge Verbindungen zu den südeuropäischen Ländern hat. Eine Sonderbeziehung Berlins zu Moskau, wie sie Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Putin pflegte, sollte indes der Vergangenheit angehören.

Diese Politik Europas gegenüber Russland würde in Teilen kongruent mit der Politik Washingtons sein, in anderen Teilen aber nicht. Für die Vereinigten Staaten hat Russland derzeit keine Priorität. Die Regierung von Barack Obama beschränkt sich auf die absolut notwendigen Bereiche, in denen eine Abstimmung mit Moskau notwendig ist, vor allem in Syrien. Eine neue amerikanische Regierung wird wahrscheinlich eine härtere Gangart gegenüber Moskau einschlagen. Unabhängig davon hat Europa wirtschaftlich und politisch in der Beziehung zu Russland zum Teil andere und größere Interessen als die Vereinigten Staaten.

Über den Umgang mit einem Halbstarken

Trotz des harten Kurses Moskaus muss der Westen Geduld mit Russland haben, ohne falsche Nachsicht zu üben. Russland, die geschrumpfte einstige Supermacht, leidet unter einem postimperialen Syndrom. Es braucht Zeit, dieses Trauma zu verarbeiten. Es ist wie ein pubertierender Junge, der den Halbstarken gibt, um seine eigene Unsicherheit und seine Minderwertigkeitskomplexe zu überspielen. Man muss diesen Jungen verstehen, ihm helfen, erwachsen zu werden. Aber auch ein solcher Junge kann gefährlich werden, wenn man ihm nicht rechtzeitig Grenzen setzt. Europa sollte die realistischen Kräfte in der russischen Politik und Zivilgesellschaft stützen, die den jetzigen Kurs für den Weg in eine Sackgasse halten und die sich für einen demokratischen Wandel und eine gesellschaftliche Modernisierung in Russland einsetzen. Dabei muss klar sein, dass der Kreml Anstrengungen des Westens, diese Kräfte zu stärken, enge Grenzen setzen wird.

In Russland haben heute die Leute aus dem Geheimdienst und dem Militär das Sagen. Sie haben im Innern die Daumenschrauben angezogen, sie schwören die Bevölkerung auf einen antiwestlichen Nationalismus ein. Offensichtliche Meinungsverschiedenheiten und Schwächen Europas wird Russland ausnutzen. Das ist eine Gefahr für den Bestand des in Turbulenzen geratenen europäischen Einigungsprojekts. Europa hat diese Gefahr lange ignoriert. Das Beste anzunehmen mag sympathisch sein. Aber es ist naiv und gefährlich, die Augen vor einer Gefahr zu verschließen, statt Selbstbehauptung zu üben. Nur wenn der Westen das gegenüber Russland tut, wird er seine Ordnung verteidigen können.

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