Dumawahlennachlese

Von Jens Siegert (Moskau)

Eine große Mehrheit für die Kremlpartei »Einiges Russland« (ER) bei den Dumawahlen vom 18. September ist von allen erwartet worden (unabhängig von der Meinung, wie sie zustande gekommen ist). Ein wenig überraschend für viele Beobachter waren aber zwei andere Dinge: wie ungefährdet die Zweidrittelmehrheit von ER gelungen (die weiter das ungestörte und ungenierte Verfassungändern ermöglicht), und wie total die Niederlage der außerparlamentarischen (oder, wie es in Russland oft heißt, außersystemischen) Opposition ausgefallen ist. Ersteres dürfte auf nicht unerhebliche Wahlfälschung zurück zu führen sein. Letzteres auf ein falsches Lesen der Kremlziele bei diesen Wahlen sowohl durch die meisten Beobachter als auch durch die Opposition. Wie es hierzu – zum erwarteten Gesamtergebnis und zu den Fehleinschätzungen – gekommen ist, soll heute Thema sein.

Zuerst zur Wahl selbst. Wie in diesen Notizen vor zwei Monaten beschrieben (<http://russland.boellblog.org/2016/06/30/dumawahlen-2016/>), hatte die Mehrzahl der Beobachter für diese Wahlen zwei Ziele des Kremls ausgemacht: Sie sollten mit so wenig Manipulation wie nötig vonstatten gehen und möglichst niedrig gehängt werden. Denn eine niedrige Wahlbeteiligung, so sagt die Erfahrung, spielt am ehesten »Einiges Russland« in die Hände. Wenig(er) Manipulation dagegen erhöht die Legitimität des Ergebnisses, nicht nur in Russland, sondern auch im Westen. Die Zweidrittelmehrheit für ER sollte nicht zuletzt wegen des reformierten Wahlrechts ohne größere Probleme erreichbar sein. Zwar sagten die letzten Umfragen vor der Wahl ER nicht viel mehr als 50 Prozent der Stimmen voraus. Aber angesichts des großen Abstands zu den nächststärkeren Parteien, den Kommunisten und den Schirnowskij-Nationalisten, die bei nur etwa 15 Prozent lagen, würde ER fast alle der wieder eingeführten Direktmandate erringen (mit einigen wenigen Ausnahmen dort, wo bewusst auf eine Kandidatur zugunsten einer der drei Parlamentsoppositionsparteien verzichtet worden war, und vielleicht einer Handvoll Wahlkreise, in denen in der Öffentlichkeit sehr bekannte Gegenkandidaten den ER-Kandidaten das Leben schwer zu machen drohten).

So kam es auch, wenn auch nicht ganz so reibungslos wie vor(her)gesehen (wobei hier und im Folgenden immer von der oben beschriebenen Annahme einer großen Mehrheit der politischen Beobachter und Kommentatoren ausgegangen wird). Ausgerechnet die extrem niedrige Wahlbeteiligung schien im Laufe des Wahltags die angestrebte Zweidrittelmehrheit für ER zu gefährden. Nur zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale lag die von der Zentralen Wahlkommission veröffentlichte Wahlbeteiligung bei nur etwas mehr als 30 Prozent und der Stimmenanteil von ER bei 44 Prozent. Zu wenig für eine sichere ER-Zweidrittelmehrheit.

Wie Vergleiche mit den Exitpolls und mathematische Modellrechnungen (sehr gut auf Deutsch hier nachzulesen: <http://www.dekoder.org/de/article/schpilkin-ergebnisse-dumawahl-faelschungen>) zeigen, entschloss man sich im Kreml offenbar, dem Wunschergebnis auf die Sprünge zu helfen. In den verbleibenden zwei Stunden stieg die offizielle Wahlbeteiligung steil um mehr als die Hälfte auf gut 48 Prozent. Der ER-Stimmenanteil wuchs gleichzeitig auf 49,3 Prozent. Zusammen mit den vielen Direktmandaten war die Zweidrittelmehrheit gerettet. Neben den mathematischen Modellierungen gibt es dazu auch weitere Hinweise aus Berichten von Wahlbeobachtern. Zwar sind auch das keine endgültigen Beweise, da eine flächendeckende unabhängige Wahlbeobachtung (im Gegensatz zu den Wahlen vor fünf Jahren) vom Staat systematisch verhindert worden ist, aber zusammen mit den Berechnungen ergibt sich schon ein sehr, sehr großer Verdacht.

Diese Notoperation, sozusagen am lebenden Organismus, wurde paradoxerweise überhaupt nur notwendig, weil der Kreml vorher mit dem Zurückdrängen von Protest und (fast jeglicher) Opposition nach den Winterprotesten 2011/2012 mittels Repression, Krim und Propaganda so überaus erfolgreich war. Es ist anzunehmen, dass die Not angesichts dieses Erfolges auch den Fehlschluss der (»außersystemischen«) Opposition mit befördert hat, der Kreml sei diesmal bereit, ein ganz klein wenig zu teilen und vielleicht sogar eine Oppositionspartei die Fünfprozenthürde überspringen zu lassen, zumindest aber ein paar Direktmandate für Oppositionskandidaten zuzulassen. Signale dazu gab es. Aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei nicht um ein Täuschungsmanöver gehandelt hat. Allerdings ist auch ein Strategiewechsel direkt vor den Wahlen denkbar. Es kann aber auch einfach so sein, dass die Opposition schlicht Kollateral-Opfer des oben erläuterten Kremlirrtums in Bezug auf die Wahlbeteiligung geworden ist. Denn – ganz einfache Arithmetik – je mehr gefälschte Stimmen ER bekommen hat, desto weniger Prozente sind für die anderen Parteien übrig geblieben.

Warum aber hat die Kremlstrategie möglichst geringer Wahlbeteiligung so gut funktioniert, dass anscheinend selbst ihre Strategen vom Erfolg überrascht wurden? Um diese Frage zu beantworten, hilft es, die Situation vor diesen Dumawahlen mit der Lage vor den Dumawahlen 2011 zu vergleichen. Der erste (und vielleicht wichtigste) Unterschied ist die wirtschaftliche Lage. 2011 gab es (nach der dicken, einjährigen Delle im Zuge der weltweiten Finanzkrise 2009) immer noch zwar nur kleines, aber doch immerhin Wachstum. Seit zwei Jahren befindet sich die russische Wirtschaft dagegen in einer tiefen Rezession, der ersten seit den unter Putin immer wieder als Negativbeispiel herangezogenen 1990er Jahren. Wie und wann die Wirtschaft wieder wachsen wird, steht in den Sternen. Die vergangenen zwei Jahren ließen sich auch als Geschichte von Regierungsankündigungen erzählen, dass der Tiefpunkt nun endlich erreicht und die Talsohle durchschritten sei und dass es wieder aufwärts gehe. Zu erwarten wäre also, dass sich die Stimmung im Land gegenüber 2011 noch einmal verschlechtert hat, ebenso wie das Ansehen von Staatsführung und Regierung.

Nun orientieren sich die Einstellungen von Menschen aber oft nicht an absoluten Zahlen, sondern viel eher an ihren Erwartungen. Zum Ausgang des Medwedjew-Interregnums 2011 gab es zwar schon reichlich Enttäuschung über die seinerzeit viel diskutierte, aber ausgebliebene Modernisierung des Landes, aber doch immer noch recht viel Hoffnung auf eine Änderung, eine (zumindest leichte) Liberalisierung der staatlichen Politik und auf politische Reformen. Die Proteste speisten sich seinerzeit nicht zuletzt aus diesen enttäuschten Hoffnungen. Heute ist diese Enttäuschung so tief, dass es auf der einen, der kleineren Seite (der damals Protestierenden) viel Resignation gibt und auf der anderen, der größeren Seite (von denen die meisten nicht protestiert haben dürften) vor allem darum geht, dass »es nicht noch schlimmer kommt«. 2011 gab es zudem eine weit verbreitete Nachfrage nach Veränderungen, die sich in den (später enttäuschten) Hoffnungen ausdrückte. Heute wünschen viele Menschen in Russland vor allem wieder Stabilität. Daran hat auch das Nachlassen der nationalen Euphorie nach der Annexion der Krim seinen Anteil. In gewisser Weise hat der Kreml es verstanden, die Uhr zurück zu drehen.

Diese Unterschiede bei Hoffnungen und Erwartungen (2011 – Veränderung; heute – Stabilität) wirken sich direkt auf die Wahrnehmung von Wahlen überhaupt aus. Während 2011 viele Menschen im Land erneut zu hoffen begonnen hatten, durch Wahlen etwas verändern zu können oder zumindest ihren Forderungen im Wahlkampf und durch eine eventuelle Opposition im Parlament (mehr) Gehör zu verschaffen, ist diese Hoffnung inzwischen wieder verschwunden. 2011 versuchten Oppositionsparteien genau diese Nachfrage zu bedienen. Wer Veränderungen wollte, wurde (für die meisten glaubhaft) aufgefordert, wählen zu gehen. Heute dagegen glauben weder Anhänger des Kreml, noch Anhänger der Opposition, dass Wahlen generell und insbesondere Wahlen zur Staatsduma, diesem Quasiparlament, irgendetwas zu Änderungen beitragen können. Die Kremlstrategie in Richtung einer geringen Wahlbeteiligung hat diese Tendenz aufgenommen und gefördert.

Doch der Kremlerfolg ist nicht nur eine Folge der Demotivierung großer Bevölkerungskreise. Der Staat hat auch von der Opposition gelernt. 2011 war der erste Internetwahlkampf in Russland. Seinerzeit allerdings fast ausschließlich auf Oppositionsseite. Der Kreml mit seiner handgesteuerten »gelenkten Demokratie« wurde kalt erwischt. Der Blogger Alexei Nawalnyj ist im Wahlkampf 2011 zum Oppositionsstar aufgestiegen. Sein Slogan von ER als der »Partei der Gauner und Diebe« war seinerzeit, vor allem durch das Internet verbreitet, in aller Munde (und Kopf). Die von Nawalnyj ebenfalls vorzüglich in Umlauf gebrachte Losung, die Stimme jeder beliebigen Partei zu geben, »nur nicht ER«, hat seinerzeit den Stimmenanteil von ER in der Duma zugunsten der »Systemopposition« merklich verringert. Die ganze große Kremlmaschine hatte dieser Kampagne 2011 nichts entgegen zu setzen. In diesem Jahr fiel der Opposition dagegen nichts auch nur annähernd Vergleichbares ein. Die großen Korruptionsenthüllungen Nawalnyjs im Frühjahr verpufften, trotz hoher Clickzahlen seine Videos. Die zur Wahl zugelassenen Oppositionsparteien und die oppositionellen Direktkandidaten waren (bis auf wenige Ausnahmen bei Letzteren) anscheinend so froh, überhaupt mitmachen zu dürfen, dass sie es nicht wagten, Proteste in der Bevölkerung, die es sehr wohl gibt (Fernfahrer, Bauern und Bergarbeiter versuchten dieses Jahr schon nach Moskau zu ziehen) zum Zentrum ihrer Wahlkämpfe zu machen. Umgekehrt diskreditieren Kremltrolle bereits seit langem erfolgreich oppositionelle Politiker. Das beschert ER zwar keine zusätzliche Popularität, trifft die Opposition aber hart und passte damit in die staatliche Demobilisierungsstrategie.

Was heißt das für die nahe Zukunft, für die Zeit bis zu den Präsidentenwahlen, die spätestens im Frühjahr 2018 stattfinden müssen? Die politische Landschaft ist derart asphaltiert, dass es selbst die vom Kreml erwünschten Gewächse schwer haben, ans Licht zu gelangen. Außer patriotischer Mobilisierung hat aber auch der Kreml gegenwärtig kaum etwas anzubieten (was ein wesentlicher Grund der Demobilisierungsstrategie ist). Das war auch im Wahlkampf spürbar, der durch besonders große Inhaltslosigkeit ausgezeichnet hat. Alle wissen, dass vor dem Land harte Jahre liegen. Alle (Regierungs-)Politik scheint nur noch darauf ausgerichtet zu sein, die notwendigen Haushaltkürzungen und die unvermeidlichen tiefen sozialen Einschnitte (alternativ oder begleitend erhebliche Steuererhöhungen) möglichst bis zu den Präsidentenwahlen herauszuzögern. Ob das gelingt, ist unklar. In den gut zwei Wochen seit der Dumawahl gab es fast täglich Äußerungen von Regierungspolitikern oder Ministerialbeamten über geplante Steuererhöhungen und Etatkürzungen. Die Menschen in Russland müssen sich darauf einstellen (und werden wohl auch systematisch darauf vorbereitet), dass sie sich angesichts des versiegenden Stroms von Gas- und Öldollars, des deshalb immer größer werdenden Haushaltsdefizits und angesichts des kaum kleiner werdenden Hungers der korrupten Elite bald erstmals ernsthaft direkt an der Finanzierung des Staatshaushalts werden beteiligt müssen. Bisher kam das Geld buchstäblich und nur über den Umweg der US-Dollar ausländischer Käufer direkt aus den Erdöl- und Erdgasquellen. Außerdem dürfte angesichts der demographischen Entwicklung eine baldige (und äußerst unpopuläre) Erhöhung des Rentenalters (bei Frauen von 55 auf 60, bei Männern von 60 auf 65 Jahre) unabwendbar sein.

Gleichzeitig geht der Umbau des Machtgefüges im russischen Staatsapparat weiter. Dabei sind drei Tendenzen zu beobachten. Zum einen werden viele der »alten Kämpfer«, also diejenigen, die zusammen mit Putin an die Macht gekommen sind, und bei denen davon ausgegangen wird, dass Putin ihnen persönlich verbunden ist, nach und nach abgelöst und auf Versorgungsposten abgeschoben. Die nachrückenden Leute stammen meist aus der nächsten Generation und haben oft kaum öffentliches Profil. Nicht selten haben sie sich aus der sogenannten »Kaderreserve«, die unter Medwedew gebildet wurde, hochgearbeitet (nachdem sie sich dort als loyal erwiesen hatten). Wie es scheint, versucht der Kreml so das Problem der Erneuerung seiner Kader zu lösen.

Dahinter könnten aber auch noch eine Reihe weiterer Überlegungen stehen. Zum einen sind Putin und seine Leute inzwischen 16 Jahre an der Macht. Das ist, politisch gesehen, eine sehr lange Zeit. Viele der »alten Kämpfer« haben ihren Leistungszenit überschritten. Außerdem stellen sie eine potentielle Gefahr für den Mann an der Spitze dar. Sie haben in ihrer Zeit an der Macht sowohl Ressourcen angesammelt als auch Allianzen schließen können. Regelmäßige Rotationen dienen unter anderem dazu, keine möglicherweise um die Zentralmacht konkurrieren wollenden Zentren zuzulassen (Gerüchte in dieser Richtung gab es z. B. bei der Ablösung des Chefs der Präsidentenadministration Sergej Iwanow). Außerdem neigen nachrückende Generationskohorten zur Unzufriedenheit, möglicherweise gar zum Aufstand, wenn sie mit der Zeit (also wenn sie meinen, nun sei ihre Zeit gekommen) nicht ausreichend eingebunden und an der Macht beteiligt werden.

Mit dem Umbau des Apparats, der in seinem Umfang für die Präsidentschaft Putins beispiellos ist, könnte auch versucht werden, bisher nicht oder nur rudimentär bestehende Regeln für eine regelmäßige Erneuerung des Apparats zu etablieren. Eine Aufgabe, die autoritäre Systeme immer vor besondere Probleme stellt. Die Frage nach der wichtigsten Nachfolge, der von Putin, bleibt dabei aber weiter unbeantwortet. Gerade dass sie offen bleibt, stabilisiert Putins Herrschaft. Gerade weil sie aber angesichts der kommenden Wahlen so (macht Putin weiter – was für die meisten außer Frage steht) oder so (hört Putin auf und präsentiert einen Nachfolger – was kaum jemand für wahrscheinlich hält) längst gestellt wird, brauchte es jetzt einigermaßen ruhige Parlamentswahlen mit dem »richtigen Ergebnis«. Das zumindest ist gelungen.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.

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