Russland im Herbst 2016. Dumawahlen und Regimeumbau

Von Hans-Henning Schröder (Bremen)

Zusammenfassung
Die Dumawahlen im September 2016 haben gezeigt, dass die »Machtvertikale« funktioniert und die Führung den politischen Prozess im Lande unter Kontrolle hat. Allerdings sind die Finanz- und Wirtschaftsprobleme ungelöst. Dementsprechend kann die Führung der Bevölkerung auf lange Sicht die soziale Stabilität nicht garantieren. In dieser Situation, in der die Administration den politischen Prozess kontrolliert, aber befürchtet, dass die ökonomischen und sozialen Probleme überhand nehmen, beginnt das Putinsche Zentrum den Apparat umzubauen. Eine neue Elitengeneration rückt nach, die erste Generation der Putinschen Oligarchen und Bürokraten zieht sich zurück.

Ein starker Staat?

Die Russische Föderation stellt sich Ende September 2016 als ein Staat dar, der nach außen Stärke demonstriert und im Innern stabil erscheint.

Die russische Unterstützung für das Assad-Regime verschafft diesem im syrischen Bürgerkrieg die Vorhand, und mit dem militärischen Erfolg im Rücken agiert der russische Außenminister in Genf und New York in Großmachtmanier. Auch der fragile Waffenstillstand in der Ost-Ukraine hängt vom guten Willen der russischen Regierung ab. Keiner dieser beiden bewaffneten Konflikte ist ohne die Mitarbeit der russischen Seite lösbar. Russland hat sich mit seinen Interventionen in der Ost-Ukraine und in Syrien wieder als internationaler Akteur ins Spiel gebracht. Getragen wird diese Politik im Inneren von einer breiten Akzeptanz in der Bevölkerung, die insbesondere dem Präsidenten gilt, dessen Zustimmungswerte seit Frühjahr 2014 Spitzenwerte erreichen.

Allerdings ist das Bild nicht ganz ungetrübt. Die Wählermobilisierung war 2016 schwächer als bei früheren Parlamentswahlen, Wirtschaft und Staatsfinanzen leiden unter den niedrigen Energiepreisen, Reallöhne sinken oder stagnieren, Sozialleistungen werden beschnitten. Um unter diesen Bedingungen weiter nach außen Stärke demonstrieren und im Innern die Stabilität wahren zu können, muss sich die russische Führung einiges einfallen lassen. Denn es gilt, die Volkswirtschaft in Schwung zu bringen und die soziale Lage zu verbessern, um die Bevölkerung weiter an die Führung binden zu können.

Der 18. September

Der »einheitliche Wahltag« am 18. September hatte für die politische Führung positive Ergebnisse erbracht. Gewählt wurde an diesem Tag die Duma, 39 Regionalparlamente und sieben Gouverneure bzw. Oberhäupter von Regionen sowie die Vertretungskörperschaften in einer Reihe großer Städte.

In den Regionen setzten sich durchweg die regierungsnahen Kandidaten durch. Die Dumawahlen wurden diesmal nach einer Änderung der Wahlgesetzgebung wieder nach einem »Grabenwahlsystem« durchgeführt, bei dem die Hälfte der 450 Deputierten über Listenwahl und die andere Hälft durch Direktwahl in 225 Einzelwahlkreisen bestimmt wurde. »Einiges Russland« – die »Partei der Macht« – erreichte bei den Listenwahlen 54,2 % der Stimmen. Bei den Direktkandidaten konnte sie 205 von 225 Wahlkreisen gewinnen. Insgesamt stellt sie 343 Deputierte und verfügt damit für die nächsten fünf Jahre über mehr als drei Viertel der Sitze im Parlament. Dies ist unstreitig ein politischer Erfolg.

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90 % und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften.

Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen – bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne – sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität.

Die Zurückhaltung der Wähler

Der Rückgang der Wahlbeteiligung (47,8 % gegenüber 60 % 2011 und 63 % 2007) ist zwar beachtlich, doch die Führung hatte dies mit der Vorverlegung der Wahlen von Dezember auf September selbst verursacht und wohl auch in Kauf genommen. Der Wahlkampf fand im Sommer statt, als viele Wähler im Urlaub oder auf ihren Sommerhäusern waren, zudem hatte er eine vergleichsweise geringe Intensität. So war die Mobilisierung geringer als bei früheren Wahlen.

Allerdings – und dies muss die Führung beunruhigen – war die Wahlbeteiligung und die Mobilisierung für die »Partei der Macht« in einer Reihe von wichtigen Regionen – vor allem in Moskau und Petersburg – erschreckend niedrig. Erreichten Wahlbeteiligung und Stimmenanteile für »Einiges Russland« in Tschetschenien, Karatschajewo-Tscherkessien und Tatarstan um die 90 % (Ergebnisse, die den Verdacht auf direkte Wahlfälschung nahelegen), so lag die Wahlbeteiligung in Moskau, Sankt Petersburg, Tomsk, Novosibirsk, Perm, Irkutsk und Tomsk bei 30–35 %. Die Stimmenanteile für »Einiges Russland« lagen zwischen 31 % und 40 %. Geht man von der Gesamtzahl der Wahlberechtigten aus (nicht nur von denen, die ihre Stimme abgegeben haben) dann haben sich im Endeffekt in Moskau, Petersburg und einigen Regionen Sibiriens nicht mehr als 12–15 % der Bürger aktiv für die »Partei der Macht« ausgesprochen (vgl. Tabelle Nr. 1 auf S. 6–7). Das ist gewiss noch kein Akt politischen Protestes, doch zeigt es, dass die Administration in den großen Städten zwar den Abstimmungsprozess kontrollierte, die Bürger sich aber nicht zur Wahl haben mobilisieren lassen.

Wirtschaftskrise und politische Stimmung

Eine der Ursachen für den niedrigen Mobilisierungsgrad könnte die schwierige Wirtschaftslage und die Diskussionen über eine Einschränkung der Sozialleistungen sein. Der Einbruch des Ölpreises auf dem Weltmarkt hatte erhebliche Konsequenzen für die russische Wirtschaftsentwicklung. Das Bruttoinlandsprodukt war 2015 und 2016 gesunken, auch die Industrieproduktion im Jahre 2015, die aber 2016 wieder ein Wachstum von 0,4 % verzeichnen konnte. Die Bruttoanlageinvestitionen waren 2014, 2015 und 2016 deutlich gesunken (um 2,7 %, 8,4 % und 4,3 %). Das sind alarmierende Daten, die deutlich machen, dass die Volkswirtschaft in eine schwere Krise geraten ist.

Das schlug sich auch auf den Lebensstandard nieder. Die Inflationsrate war gestiegen. 2014 machte sie nach offiziellen Angaben im Jahr 11 % aus, 2015 waren es 12 %. Das Realeinkommen waren im Jahre 2015 um 4,3 % zurückgegangen, in den Monaten Januar–August 2016 um 5.8 %. Vor diesem Hintergrund diskutierten Sozialpolitiker über die Zukunft des Rentensystems und über die Finanzierbarkeit von Sozialleistungen angesichts des wachsenden Haushaltsdefizits. Die Krise erreichte damit auch den Alltag. Die Masse der Bürger erfuhr sie unmittelbar. Preissteigerungen, Angst vor Armut und Arbeitslosigkeit rangierten in Umfragen nach den größten Sorgen der Bevölkerung denn auch an der Spitze.

Das hatte kaum Folgen im politischen Bereich. Die Umfragewerte des Präsidenten, des Ministerpräsidenten und der Regierung gaben zwar um einige Punkte nach, bewegten sich aber nichtsdestoweniger auf hohen Niveau. Das Unbehagen über die Verschlechterung der materiellen Lage hat gegenwärtig keine fühlbaren Auswirkungen auf die politische Haltung. Insofern ist die Stabilität des Systems im Moment nicht gefährdet.

Das Band zwischen »Macht« und »Volk«

Allerdings muss sich die politische Führung Gedanken darüber machen, wie sie ihren Rückhalt in der Gesellschaft sichern kann, wenn es nicht gelingt, die Wirtschaftsdaten und die soziale Lage der Bevölkerungsmehrheit zu verbessern. Im Laufe des letzten Jahres sind mehrfach Gruppen, die die Putin-Administration eigentlich zu ihren Unterstützern zählt, mit Protestaktionen hervorgetreten. Die Arbeiter auf der Baustelle des Weltraumbahnhofs »Wostotschnyj« streikten wegen Lohnrückständen, die Fernfahrer wehrten sich mit Verkehrsblockaden gegen die Einführung einer Maut, die sie als erhebliche Belastung erfuhren. Bauern aus dem Kubangebiet machten sich zu einer Traktorendemonstration nach Moskau auf. Das waren alles Einzelaktionen, die sich auf konkrete Sorgen bezogen und nicht in Systemkritik umschlugen, doch sie müssen in ihrer Häufung ebenso wie die niedrige Wahlbeteiligung im Zentrum als Signal verstanden werden, dass die gesellschaftliche Stimmung umschlagen könnte, wenn die Führung nicht auf die Sorgen der Bevölkerung eingeht.

In dem politischen System, das sich seit 1993 entwickelt und das seit der ersten Präsidentschaft von Wladimir Putin immer mehr den Charakter einer »elektoralen Autokratie« angenommen hat, fehlt ein wichtiges Element – die institutionelle Verbindung zwischen wlast und narod, zwischen »Macht« und »Volk«. Es gibt keine Massenpartei, die an der Basis präsent ist, politische Stimmungen aufnimmt, »die Massen« mobilisiert und ihre Aktivitäten strukturiert, Aufstieg organisiert und den Informationsfluss zwischen »oben« und »unten« erleichtert. Bemühungen, »Einiges Russland« (oder »Gerechtes Russland«) zu einer solchen Organisation auszubauen, sind gescheitert. Die Versuche, die ONF – die Allrussische Volksfront – als Massenbewegung zu installieren, waren nicht erfolgreich.

Die Anbindung der Bevölkerung an das politische System erfolgt über die Person des Präsidenten, der erfolgreich als Führer aufgebaut wurde. Die Medien (einschließlich des Internet) werden intelligent genutzt, um diesen Führerkult zu pflegen. Der Verkörperung dieser Führungsfigur, Wladimir Putin, wächst aus dieser Rolle erhebliche Macht zu. Da es aber keine politische Organisation gibt, die »Macht« und »Volk« verbindet, muss der Präsident für die Steuerung der Gesellschaft neben den Medien vor allem auf seine Verwaltung setzen – die zentralen und regionalen Apparate. Die Sicherheitsapparate – Innenministerium, Generalstaatsanwaltschaft, Strafermittlungskomitee, Inlandsgeheimdienst usw. – spielen dabei eine besondere Rolle, eine Rolle, die in dem Maße wachsen wird, in dem das Unbehagen in der Gesellschaft sich zu politischem Widerstand entwickelt. Die »Machtvertikale« – die bürokratische Pyramide, die die Kontrolle der Gesellschaft garantieren soll – hat die schwierige Aufgabe, die Signale aus der Bevölkerung zu empfangen und in Reaktion darauf eine adäquate Politik zu formulieren und umzusetzen. Da die einzelnen Institutionen und Apparate innerhalb der »Machtvertikale« in hohem Maße Eigeninteressen verfolgen, ist keineswegs gesichert, dass die politische Praxis dem Willen des Präsidenten oder den Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht.

Die Justierung der Machtvertikale

In einer Situation, in der in der Perspektive eine Verschärfung der sozialen Konflikte nicht ausgeschlossen ist, ist es nur folgerichtig, die »Machtvertikale« neu zu kalibrieren. Dass dies im Moment geschieht, lässt sich an den Personalumbesetzungen erkennen, die in den letzten Monaten vorgenommen wurden und die noch zu erwarten sind.

Bei den Personalveränderungen kann man grob vier Felder unterscheiden. In einer Reihe von Fällen geht es um die Beseitigung von Schwachstellen im Apparat. Die Ablösung des Ministers für Bildung und Wissenschaft, Dmitrij Liwanow (19. August), war Ergebnis seiner schwachen Leistung und seines geringen Ansehens in der Öffentlichkeit. Der Präsidialbevollmächtigte für die Rechte der Kinder, Pawel Astachow (9. September), hatte sich durch sein taktloses Auftreten nach dem Tod mehrerer Jugendlicher auf einer Kanutour untragbar gemacht. Die Nachrückerinnen – Olga Wasiljewa im Bildungsministerium und Anna Kusnezowa als Ombudsfrau für Kinderrechte – stechen beide durch ihre konservative Einstellung und ihre Nähe zur Russischen Orthodoxen Kirche hervor.

Das zweite große Feld ist die Nachjustierung der Regionalapparate. Daran arbeitet die Präsidialadministration seit langem. Im Vorfeld der Dumawahlen wurde diese Arbeit noch intensiviert. U. a. wurde die Regierung der Republik Komi wegen Korruption abgesetzt (März 2016), auch der Gouverneur des Gebiets Kirow, Nikolaj Belych, wurde entlassen und in Untersuchungshaft genommen (Juni 2016). Dieser Fall ist deshalb signifikant, weil Belych der einzige Gouverneur war, der dem liberalen Lager entstammt. Mit seiner Absetzung zerschnitt die »Macht« das Tischtuch zwischen sich und der liberalen Politik. Im Juli folgte eine ganze Reihe von Umbesetzungen an der Spitze von Föderalbezirken und Regionsverwaltungen, in deren Verlauf auch eine Reihe von siloviki – Angehörige der »Machtapparate« (d. h. Geheimdienste, Polizei und Strafverfolgungsorganen) aufrückten. Bei allen diesen Umsetzungen ging es offenbar um die Straffung der Regionalverwaltungen, ihre bessere Anbindung an das Zentrum und die Eliminierung von Politikern, die von der Führung als störend empfunden wurden. Die Durchgriffsmöglichkeiten der Zentralverwaltung in die Regionen hinein sollte damit verbessert werden.

Der dritte Bereich bezieht sich auf die Verschiebungen in den »Machtapparaten« selbst. Im August wurden eine Reihe von hochrangigen Mitarbeitern des Innenministeriums (MWD) und des Strafermittlungskomitees (SK) abgelöst und wegen Korruption verhaftet. Über den Hintergrund dieser Vorgänge ist nichts Verlässliches bekannt. Es könnte sich um den Versuch der Führung handeln, die Sicherheitsapparate unter Kontrolle zu halten und effizienter zu machen, es könnte auch um Konflikte zwischen den verschiedenen Sicherheitsapparaten gehen. Gerüchte um die baldige Ablösung Alexander Bastrykins, des Leiters des Strafermittlungskomitees, und Meldungen über Absichten, alle Dienste in einem neuen Sicherheitsministerium zusammenzufassen, deuten darauf hin, dass diese Prozesse noch nicht abgeschlossen sind. Die Ernennung des bisherigen Dumavorsitzenden, Sergej Naryschkin, zum Chef des Auslandsgeheimdienstes SWR (September 2016), wäre ein Indiz, das gegen die Schaffung eines umfassenden Geheimdienstministeriums spricht – es sei denn, Naryschkin wäre als dessen Minister vorgesehen.

Das vierte Feld sind die Umsetzungen im engeren Führungsbereich (vgl. dazu auch den Beitrag von Fabian Burkhardt, S. 13–19, und die »Notizen« von Jens Siegert, S. 22–25). Der Präsident tauschte Sergej Iwanow, den Leiter der Präsidialadministration, und Wjatscheslaw Wolodin, dessen Ersten Stellvertreter aus (12. August 2016). Auch der Stellvertretende Leiter der Abteilung Innenpolitik der Präsidialadministration, Radij Chabirow, verließ die Behörde. Iwanow galt als enger Freund Putins mit Geheimdiensthintergrund, er war Sekretär des Sicherheitsrates und Verteidigungsminister gewesen. Sein Eintritt in die Präsidialadministration im Dezember 2011 fiel zeitlich zusammen mit dem vaterländischen Schwenk der russischen Innenpolitik, der Mobilisierung patriotischer und antiwestlicher Stimmungen. Wolodin und Chabirov waren für die Kontrolle der Parteien und des Parlaments zuständig. Alle drei waren maßgeblich für die patriotische Stabilisierung in Russland verantwortlich, die eng mit der aggressiven, militarisierten Außenpolitik der letzten Jahre verbunden war. Soweit man erkennen kann, ist ihre Ablösung bzw. Versetzung aber offenbar nicht mit einer Neuorientierung in der Innen- oder Außenpolitik verbunden. Iwanows Ablösung fiel zeitlich mit einem eigenartigen Vorfall auf der Krim zusammen, bei dem angeblich ukrainische Diversanten russische Sicherheitskräfte angegriffen hatten. Nach Iwanows Rückzug verschwand diese Affäre rasch wieder aus den Medien. Ob zwischen dieser Aktion und Iwanows Ablösung ein Zusammenhang besteht, ist nicht bekannt.

Die Positionen Iwanows und Wolodins wurden mit Anton Wajno, einem der Stellvertretenden Leiter der Präsidialadministration, und Sergej Kirijenko, zuletzt Generaldirektor des Staatskonzerns »Rosatom« besetzt. Beide gelten als fähige Manager, sind aber bisher nicht mit eigenen politischen Positionen hervorgetreten. Eine solche Personalentscheidung könnte darauf hindeuten, dass sich der Präsident stark genug fühlt, die Richtlinien der Politik selbst zu bestimmen – ohne die Einrede alter Freunde –, dass er aber den Apparat stärken und effizienter machen will.

Die Hintergründe dieser Personalentscheidungen bleiben letztlich im Dunkeln, aber zumindest zwei Dinge fallen ins Auge: Zum einen werden die traditionellen Gepflogenheiten eingehalten. Wie es in der Putinschen Führungselite üblich ist, werden die abgelösten Elitemitglieder, wenn sie keine andere wichtige Funktion erhalten (wie im Falle Wolodin oder Naryschkin), ehrenvoll abgefunden, indem man repräsentative Funktionen für sie schafft, die ihnen auch einen angemessenen Lebensstandard sichern. Keiner fällt ins Leere.

Zum anderen gibt es keine Personalveränderungen in den Streitkräften oder in der Außen- und Sicherheitspolitik und keine in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Die Streitkräfte müssen derzeit auf zwei Kriegsschauplätzen – Syrien und Ukraine – Kampfhandlungen organisieren, die Finanz- und Wirtschaftspolitiker kämpfen mit der aktuellen Krise. Offenbar sieht der Führungszirkel keine Notwendigkeit in diesen Bereichen korrigierend einzugreifen.

Auf dem Weg zu den Präsidentenwahlen

Die Dumawahlen im September 2016 haben gezeigt, dass die »Machtvertikale« funktioniert und die Führung den politischen Prozess im Lande unter Kontrolle hat. Eine ernstzunehmende Opposition gibt es derzeit nicht. Die oppositionellen Gruppierungen sind zerstritten und haben keine überzeugende Strategie formuliert. Organisationen wie »Memorial« oder das »Lewada-Zentrum«, die national und international hohes moralisches Ansehen genießen bzw. über wissenschaftliche Reputation verfügen, werden delegitimiert, indem man sie mit dem Etikett »Ausländischer Agent« versieht. Von seiten der Opposition oder NGOs droht also keine Gefahr

Allerdings sind die Finanz- und Wirtschaftsprobleme ungelöst. Die russische Volkswirtschaft hängt nach wie vor vom Export fossiler Energieträger ab. Eine international konkurrenzfähige verarbeitende Industrie ist nicht vorhanden. Wissenschaftlich und technologisch ist Russland derzeit international kein ernstzunehmender Wettbewerber. Die wirtschaftspolitischen Hauptaufgaben – die Reform der Institutionen, die Gewinnung von Investitionen, der Ausbau der Infrastruktur, und eine Belebung der Innovationskraft – sind bisher nicht gelöst. Dementsprechend kann die Führung der Bevölkerung auf lange Sicht die soziale Stabilität nicht garantieren. Schon jetzt sinken die Reallöhne und ist das Rentenniveau nicht gesichert.

In dieser Situation, in der die Administration den politischen Prozess kontrolliert, aber befürchtet, dass die ökonomischen und sozialen Probleme Überhand nehmen, beginnt das Putinsche Zentrum den Apparat umzubauen. Eine neue Elitengeneration rückt nach, die erste Generation der Putinschen Oligarchen und Bürokraten zieht sich zurück. Ob es gelingt, in der neuen Führungskohorte wieder einen ähnlichen Elitenkonsens auszuhandeln, wie es in den ersten Amtszeiten Putins der Fall war, ist abzuwarten. Und ob die neue Elitenkohorte von der Bevölkerung genauso akzeptiert wird wie die alte, hängt sicher auch davon ab, ob es gelingt, Lebensstandard und soziale Leistungen langfristig zu sichern.

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