Auch in Russland geht, jedenfalls laut Verfassung, alle Macht vom Volke aus. Allerdings ist es weit schwieriger, dieses Volk näher zu beschreiben als in den meisten klassischen Nationalstaaten. In Deutschland zum Beispiel ist der Souverän »das deutsche Volk«. Nun gibt es zwar auch ein »russisches Volk« (russisch: »russkij narod«). Dieser Begriff bezeichnet aber nur die ethnischen Russen. Alle anderen Ethnien oder Völker, von denen viele sogar eigene »Republiken«, »autonome Bezirke« oder »autonome Kreise« haben, dort meist schon viel länger sind als die ethnischen Russen (die sie irgendwann kolonisiert haben), gehören also in diesem engen Sinn nicht zum »russischen Volk«. Die aktuelle Verfassung, angenommen im Dezember 1993 und in den grundlegenden Teilen bis heute unverändert, erlaubt sich daher einen Kunstgriff, um das Staatsvolk zu definieren, und spricht zweimal, in der Präambel und im dritten Artikel, vom »multinationalen Volk« Russlands. Wörtlich heißt es in Artikel 3, Absatz 1: »Träger der Souveränität und einzige Quelle der Macht in der Russländischen Föderation ist ihr multinationales Volk« (die russische Verfassung auf Deutsch gibt es hier: <http://www.constitution.ru/de/index.htm>).
Nun ist es mit Kunstgriffen so ein Ding. Oft helfen sie, meist aber nur zeitweise, selbst wenn diese Zeit mitunter durchaus lange dauern kann. Ich habe schon mehrfach auf die daraus entstanden und weiter bestehenden Probleme hingewiesen (zum Beispiel, aus aktuellem Anlass, im Frühherbst 2010 in Bezug auf immer mal wieder aufflackernde, auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen hier: <http://russland.boellblog.org/2010/12/19/nationalistische-demonstrationen-und-strassenschlachten-russland-brennt-und-die-zuendteufel-fluestern-feuer/>). Der Begriff vom »multinationalen Volk« konnte und kann aber nicht das tiefere, dahinter liegende Problem verdecken, wie in aus einer Gesellschaft, in der vorwiegenden in bioethnischen Kategorien gedacht wird, ein funktionierenden und zusammen haltender Nationalstaat werden kann.
Seit der Annexion der Krim wird die Entwicklung Russlands wieder vermehrt mit den Begriffen »Imperium« oder »Imperialismus« beschrieben. Mir scheint das nicht zutreffend zum sein. Selbstverständlich hat die russische Politik gegenüber seinen unmittelbaren Nachbarn einen stark imperialistischen Einschlag. Ihr Treiber, so kommt es mir vor, ist aber weniger das Bestreben der (Wieder-)Herstellung eines »russischen Imperiums« (zuletzt im Übrigen die Selbstbezeichnung Russlands vor der Oktoberrevolution 1917), als vielmehr die Notwendigkeit, sich nach dessen Ende (in der Form der Sowjetunion) als Nationalstaat neu erfinden zu müssen (siehe dazu auch hier: <http://russland.boellblog.org/2014/04/10/vom-imperium-zur-nation-und-nie-wieder-zurueck/>). Damit ist Russland ein Nachzügler unter den Sowjetunionnachfolgestaaten. Was allerdings kaum verwundern kann, denn alle anderen Sowjetrepubliken haben ihre Nationalstaaten in dezidierter Abgrenzung zur ehemaligen Kolonialmacht Russland und auf der Basis einer dominierenden Ethnie entwickelt. Da sich Russland schlecht von sich selbst abgrenzen kann, muss anderer fester Grund gefunden werden.
Versuche dazu hat es in den vergangenen 25 Jahren, also seit dem Ende der Sowjetunion, immer wieder gegeben. Meist sind sie nach kurzer Zeit im Sande verlaufen. In den 1990er Jahren dominierte die Diskussion über eine »russische Idee«. Später verdeckten die Tschetschenienkriege alle Möglichkeiten eines zukunftsgerichteten Diskurses. Die Erfahrungen mit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion und den zentrifugalen Tendenzen in der Russischen Föderation unter Präsident Jelzin wirken heute weit mehr als Trauma weiter, denn als Möglichkeit, daraus etwas zu lernen. Entsprechend wenig Interesse an einer Öffnung dieser Pandorabüchse gibt es im Kreml. Oder besser: Gab es bisher im Kreml, denn das scheint sich gerade zu ändern.
Ende Oktober nun hat Wjatscheslaw Michailow, Professor der Russischen Präsidialen Akademie für Nationalwirtschaft und Öffentliche Verwaltung und von 1995 bis 2000 Nationalitätenminister, auf einer Sitzung des präsidialen Rats für Nationalitätenangelegenheiten vorgeschlagen, ein Gesetz über eine »russländische Nation« zu verabschieden. Der bei der Sitzung anwesende Präsident Putin reagierte sofort und positiv: Das sei sehr richtig und müsse gemacht werden. Man müsse konkret darüber nachdenken »und ganz praktisch zu arbeiten beginnen.« Worum geht es?
In einem Anfang November erschienenen programmatischen Text führte Michajlow, gemeinsam mit dem Oberhaupt der Teilrepublik Dagestan Ramasam Abdulatipow, seine Idee dann näher aus (<https://life.ru/t/мнения/925148/rossiiskaia_natsiia_--_eto_tsiel>). Der unklare Begriffs des »multinationalen Volkes« versuche den falschen Gegensatz von »ethnischer und bürgerlicher Nation« zu überwinden, schaffe das aber nicht. Dagegen setzen die Autoren den Begriff einer »russländischen Nation« (russisch: »rossijskaja nazija«).
Hier ist zunächst ein kleiner sprachlicher Einschub nötig. Das russische Wort »russkij«/»russisch« bezeichnet eng das kulturelle und ethnische Russischsein. Tataren oder Tschetschenen zum Beispiel, deren Republiken Teil der Russischen Föderation und deren Bewohner damit russische Staatsbürger sind, sind keine »Russen« im Sinn dieses Wortes. Dagegen wird in Bezug auf die russische Staatlichkeit das Wort »rossijskij« benutzt, dass im Alltag ebenfalls mit »russisch« ins Deutsche übersetzt wird (auch die Russlandanalysen gehen so vor). Wissenschaftlich dagegen hat sich zur besseren Unterscheidung hierfür die Übersetzung »russländisch« durchgesetzt. Ich werde diese Unterscheidung im Folgenden auch machen.
Michailow und Apdulatipow postulieren also eine »russländische Nation«. Dabei bestehen sie darauf, dass das keine ausschließlich staatsbürgerliche Konstruktion sein, sondern ein ethnischer Begriff. Durch die lange, enge und besondere Verflechtung zwischen den ethnischen Russen und den anderen in Russland lebenden Völkern, zu der die (im Gegensatz zu den anderen europäischen Kolonialmächten) inklusive russische Kolonialpolitik geführt habe, sei es zu einer Verschmelzung dieser Ethnien unter Führung des russischen Volkes gekommen und so sei ein neues Volk entstanden, eben das »russländische«.
Diese ganze Initiative erinnert bis in die Wortwahl sehr an die Versuche, in der Sowjetunion ebenfalls ein homogenes Staatsvolk zu generieren, eben das »sowjetische«. Begonnen hatte das unter Stalin, der im Krieg die Russen zu den »älteren Brüdern« der anderen in Russland lebenden Völker bestimmt hatte. Daraus wurde das »sowjetische Volk«. Sonderlich nachhaltig waren diese Versuche eine supraethnische Gemeinschaft zu formen allerdings nicht. Das dürfte auch den Strategen im Kreml nicht verborgen geblieben sein. Warum bekommt dann aber einen Wiederauflage in neuem Gewand die Unterstützung von Wladimir Putin? (Das ganze Setting – Michajlow leitete jahrelang eine Arbeitsgruppe des Nationalitätenrats zu diesem Thema; dazu die öffentliche Präsentation in Putins Anwesenheit – schaut nicht so aus als ob das eine spontane Aktion war, von der sich Putin hat überrumpeln lassen). Mir fallen auf diese Frage drei mögliche Antworten ein.
Zum Einen haben wir es mit einem tatsächlichen Problem zu tun, das zudem mit einem kollektiven Trauma belastet ist. Die Sowjetunion ist entlang der institutionell bestehenden, ethnisch-national definierten Trennlinien auseinander gebrochen. Die Angst, Russland könne das Gleiche passieren, sitzt vom Anfang des neuen Russlands an fest im Nacken nicht nur der jeweiligen Machthaber, sondern auch einer großen Mehrheit der Bevölkerung. Nicht zuletzt deshalb hat es immer wieder Versuche gegeben, die ein wenig taschenspielertrickartige Formel vom »multinationalen Volk« mit etwas mehr Leben zu versehen. Allerdings sind alle, zumindest bisher, daran gescheitert, dass sie (fast notwendiger Weise) zu einer Stärkung eines spezifisch russischen Nationalismus geführt haben anstatt ein russländisches Gemeinschaftsgefühl zu stärken. Im Gegenzug verstärken sich gleichzeitig immer untergründige und gegenläufige tatarische, tschetschenische oder andere nationalistische Tendenzen. Überdeckt wurden diese Probleme in der 2000 Jahren durch das hohe wirtschaftliche Wachstum und seit 2014 durch die patriotische Mobilisierung in Folge von Krimannexion, Krieg in der Ostukraine und vermeintlichem neuen Kalten Krieg mit dem »Westen«. Doch die Wirkung der Krimannexion auf die Zustimmungszahlen für Putin Herrschaft ebbt seit einiger Zeit schon wieder ab, zwar langsam aber stetig. Es könnte also sein, dass durch die Diskussion über ein russländisches Volk nun versucht wird dem entgegen zu steuern.
Zum Zweiten haben die Euphorie nach der Krimannexion und auch die in den Anfängen des Kriegs in der Ostukraine sprießenden Phantasien über die Schaffung eines Novorossija an der Schwarzmeerküste vom Donbas bis nach Odessa, einem genuinen, wenn auch vulgären, vor allem aber vom Kreml weit schwieriger zu kontrollierenden Nationalismus in die Hände gespielt. Ein solcher Nationalismus mit überzeugten (und damit auch in großen Teilen der Bevölkerung überzeugenden) Akteuren hätte mit der Zeit zu einer echten Gefahr für die Putinsche Herrschaft werden können. Das wurde offenbar auch im Kreml gemerkt und recht schnell wieder einzufangen versucht. Die meisten der noch 2014 in Russland als »Helden« gefeierten »Kämpfer« in der Ostukraine sind inzwischen abgesetzt, weggelobt oder tot. Doch die nationalpatriotische Wende verlangt danach die dadurch entstandenen Leerstellen zu besetzen. Auch hierhin könnte die Michailow-Initiative zielen.
Die dritte mögliche Antwort, die mir in den Kopf kommt, ist etwas komplizierter und zugegebenermaßen ein wenig kremnologisch. Das von Michajlow und Abdulatipow vorgeschlagene Gesetz hätte, würde es angenommen und von Putin unterzeichnet, einen entscheidenden Nachteil. Es würde in die Verfassung eingreifen, ohne die Verfassung zu ändern. Mehr noch: Es würde nicht einfach nur allgemein in die Verfassung eingreifen, sondern in einen ihrer noch einmal besonders gegen willkürliche Änderungen geschützten Abschnitte. Wollte man den Begriff der russländischen Nation tatsächlich in der Verfassung verankern, reichte die bei einfachen Verfassungsänderungen notwendige 60-prozentige Mehrheit der Abgeordneten von Staatsduma und Föderationsrat nicht aus. Vielmehr müsste dann, so fordert es Artikel 135, Absatz 2, zusätzlich eine Verfassungsversammlung einberufen werden und zustimmen. An dieser Stelle wird es noch komplizierter, denn der gleiche Absatz verweist auf ein Verfassungsgesetz, das Näheres regeln soll. Dieses Verfassungsgesetz aber gibt es auch 23 Jahre nach Annahme der Verfassung im Dezember 1993 immer noch nicht.
Die russländische Nation in die Verfassung zu bringen, könnte also ein guter, von kaum jemandem ernsthaft in Frage gestellter Vorwand sein, dieses Gesetz endlich zu verabschieden. Und wer weiß schon, was sonst alles noch heraus kommt, wenn die Verfassungsversammlung erst einmal tagt.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.