25. Jahrestag der Auflösung der Sowjetunion

Von Sergey Medvedev (Berlin/Moskau)

Das Belowescha-Abkommen ist ein Verbrechen

Eduard LimonowPolitiker und Schriftsteller (geb. 1943)

»Der Zerfall der Sowjetunion ist natürlich eine Tragödie für uns alle. Putin hat darüber gesprochen; ich habe dieses Ereignis damals schon als schrecklichste Tragödie aller Zeiten und Völker bezeichnet. Dazu habe ich ganze Bücher geschrieben. Ich finde, das 25. Jubiläum des Belowescha-Abkommens zu begehen, ist eine Dummheit, als ob wir nun dessen gedenken, woran man sich täglich erinnern sollte.

Die Belowescha-Verschwörung ist ein Verbrechen, was gibt’s da noch zu sagen. Es gibt keinerlei historische Gesetze, nach denen Großmächte zerfallen müssen. Nehmen wir die Vereinigten Staaten – die sind doch ein Imperium, das aus über 50 Staaten besteht. Sie wurde mit Feuer und Schwert geschaffen und es ist noch nicht so lange her, im 20. Jahrhundert, dass einige Staaten hinzukamen. Die Europäische Union ist auch ein Imperium – ein Zusammenschluss der reichsten Länder, der gegen den Rest der Welt gerichtet ist.«

Eduard Limonow am 8. Dezember 2016 im Interview für antimaidan.ru; <https://antimaidan.ru/article/9525>.

Die betrügerische Privatisierung der neunziger Jahre schuf die Grundlagen des modernen Systems

Grigorij Jawlinskij,Wirtschaftswissenschaftler und Politiker,Mitbegründer der Partei »Jabloko« (geb. 1952)

»Vor 25 Jahren wurde Boris Jelzins Erlass über die sogenannte »Liberalisierung der Preise« veröffentlicht. Angesichts einer supermonopolisierten Wirtschaft, bei völlig fehlendem Privateigentum war das keine Liberalisierung der Preise, sondern der sowjetischen Staatsmonopole bei der Preisfestsetzung. Natürlich betrug die Inflation im Jahr 1992 dann 2.600 %. Als Ergebnis erfolgte die Beschlagnahmung aller Ersparnisse der Bürger des Landes. Bei solch einer Inflation, das ist klar, konnte eine Privatisierung nur betrügerisch erfolgen. Sie wurde in Form einer Affäre Namens »Pfandauktionen« durchgeführt.

Bis jetzt fragen sich viele, was man hätte anders machen sollen? Die Lebensmittelläden waren ja leer… Ich war damals der Ansicht und bestand in Gesprächen mit Jelzin darauf, dass man zur Ausbalancierung von Nachfrage und Angebot nicht mit der Aufhebung der Preiskontrolle der Staatsmonopole, sondern mit einer massenhaften Privatisierung von kleinen und mittleren Unternehmen beginnen sollte. Und zwar, indem man den Menschen Läden, Friseursalons, Reinigungen, Lkws usw. gegen zu Sowjetzeiten erspartes Geld verkauft. Private Unternehmen hätten dann natürlich das Recht bekommen, die Preise frei festzulegen. Die Theken hätten sich wieder gefüllt und die Inflation wäre natürlich hoch gewesen, aber nicht in einer Höhe von Tausenden Prozent.

Zu jener Zeit wollten die Menschen als Unternehmer tätig sein und man musste ihnen diese Möglichkeit geben. Dann wäre eine Mittelschicht im Lande entstanden. Stattdessen wurde dem Lande eine Hyperinflation beschert. Beschlagnahmung und betrügerische Privatisierung –Verschmelzung von Eigentum und Macht – dies hat die Grundlage des Systems geschaffen, in dem wir jetzt leben. […]«

Grigorij Jawlinskij am 6. Dezember 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/yavlinsky.yabloko>.

Wir leben in einer etwas geänderten Form der Sowjetunion

Maxim Trudoljubow,Journalist, Wedomosti (geb. 1970)

»Unser materielles Umfeld – das, in dem wir wohnen und worauf wir gehen, inklusive der Häuser, Bezirke und ganzer Städte – ist in der Sowjetunion hergestellt worden. Vieles ist dort entwickelt worden – von Plattenbauten bis zu Weltraumraketen – und wird jetzt in einer etwas geänderten Form weiter verwendet. Der Großteil der Bevölkerung, mich eingeschlossen, stammt von Geburt aus dem sowjetischen Land. Es wächst aber die Zahl derjenigen, die keine persönliche Erfahrung mit jener Realität haben. Immerhin, 25 Jahre sind viel. Fünfundzwanzig Jahre bedeuten, wie der Historiker Wladislaw Subok (Autor des ersten Artikels der Reihe »Unser Sowjetisches«, die der Erinnerung an die UdSSR gewidmet ist) bemerkt hat, dass die lebendige Erinnerung an die Ereignisse zu verschwinden beginnt. […]

Eine Menge in unserem Leben ist unmittelbar von der Moderne (modernity) westlicher Art übernommen worden: bestimmte (nicht alle) Marktelemente, Autos, Kleidung, sogar »Kleidung für die Stadt«, wenn man die Ausgestaltung der Städte so nennen kann. Aber die sowjetische Moderne, das ist die Grundlage, auf der sich die Supermärkte, Shopping-Malls am Stadtrand, Town-Houses, Fitnesszentren, Barber-Shops und Cafés häufen, die sich von ihren amerikanischen Geschwistern nicht unterscheiden. […]«

Maxim Trudoljubow am 9. Dezember 2016 bei vedomosti.ru; <http://www.vedomosti.ru/opinion/columns/2016/12/09/668915-sdelano>.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Welt weniger sicher und weniger gerecht geworden

Dmitrij SablinDuma-Abgeordnete und Co-Vorsitzenderder »Antimaidan«-Bewegung (geb. 1968)

»Der Zerfall der Sowjetunion war eine Tragödie. Darüber hat unser Präsident gesprochen, und so fühlen auch wir alle, die wir in diesem Land mit seiner großen heldenhaften und tragischen Geschichte geboren wurden. Die Welt, die sich vorübergehend zu einer unipolaren gewandelt hat, ist weniger sicher und weniger gerecht geworden.

Diejenigen, die zum Belowescha-Abkommen applaudierten, hatten gehofft, dass das Große Russland für immer von der Weltkarte verschwunden sei. Heute sehen sie, dass sie sich geirrt haben. Wir werden weiter leben und vorwärts schreiten, und uns dabei von keinem Kapitel unserer Geschichte lossagen, die wir uns zu eigen gemacht, und deren Lehren wir aufgearbeitet haben.«

Dmitrij Sablin am 8. Dezember 2016 im Interview für antimaidan.ru; <https://antimaidan.ru/article/9525>.

Die Politik Gorbatschows hat die Sowjetunion umgebracht

Wladislaw Isajew,Pressesprecher des Investitionsunternehmens Finam (geb. 1972)

»Bei aller Abneigung gegen bestimmte Teilnehmer muss ich daran erinnern, dass nicht die Unterzeichner von Belowesha die UdSSR zugrunde gerichtet haben. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich versammelten, gab es das Land als ein geschlossenes Ganzes schon nicht mehr: Das einheitliche Verwaltungssystem funktionierte nicht, das einheitliche Wirtschaftssystem war zum Teil schon auseinandergerissen und zum Teil gelähmt, und noch weniger gab es eine Einigkeit im sowjetischen Volk, das fast sechs Jahre einer Gehirnwäsche unterzogen worden war. […] Die UdSSR ist durch die dilettantische Politik Gorbatschows umgebracht worden. Und Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch haben lediglich die Sterbeurkunde ausgestellt und das Hab und Gut aufgeteilt. […]«

Wladislaw Isajew am 8. Dezember 2016 auf Facebook; <https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=1362407790458600&id=100000681770994>.

Für mich ist die Sowjetunion nie gestorben

Iosif Kobson,Schlager-Sänger und Duma-Abgeordnete (geb. 1937)

»[…] Die UdSSR mag für Sie gestorben sein, für mich ist sie das nicht. Wie es die Bruderrepubliken gegeben hat, so gibt es sie immer noch; wie es eine nationale Kultur in allen Republiken gegeben hat, so gibt es sie immer noch. Wie es den Komsomol gegeben hat, wo eine anständige Jugend lernte, Russland zu lieben, so gibt es den immer noch. Deswegen gibt es die sowjetische Genetik immer noch – sie ist geblieben, obwohl einige [hier folgt ein vulgärer Kraftausdruck] wie etwa Gorbatschow und Jelzin die Großmacht zerstört haben. Für mich hat es die Sowjetunion gegeben und es wird sie immer geben, da gibt es keinerlei Ende für mich.«

Iosif Kobson am 8. Dezember 2016 im Interview für riafan.ru; <https://riafan.ru/582670-kobzon-eto-dlya-vas-sssr-konchilsya-25-let-nazad-a-dlya-menya-on-ne-konchalsya>.

Die Sowjetmachthaber sind für mich Okkupanten Russlands

Ilja Warlamow,Blogger und Fotograph (geb. 1984)

»Heutzutage versuchen viele nostalgische Bürger zu meiner großen Verwunderung, die Leiche des »Sowok« [der Sowjetunion] aus dem Grab zu holen und wiederzubeleben.

Nach 25 Jahren denken die Leute komischerweise, dass der »Sowok« so ein netter gerechter Staat war, wo glückliche schöne Menschen in sonnendurchfluteten Küchen Tee mit Kringeln trinken. Gagarin fliegt in den Weltraum. Kobson ist jung. Das Olympische Bärchen Mischka fliegt zum Himmel. Die Leute fahren nach Gagra und auf die Krim in Urlaub. Auf die sauberen hellen Straßen strömen die sanften Stimmen sowjetischer Sänger. Eis gibt es für ‘nen Groschen. Selbstverständlich war das Brot leckerer, das Wasser sauberer, die Bäume höher und vor allem haben sich alle vor uns gefürchtet! […]

Politiker befeuern diese nostalgische Liebe und rufen dazu auf, den »Sowok« zurückzuholen. Die LDPR betreibt [damit] momentan völlig offen Werbung und verspricht, die Grenzen der UdSSR wiederherzustellen. Jedem Menschen, der im Kopf mehr als nur Grütze aus einer sowjetischer Kantine hat, muss klar sein, dass man in der modernen Welt keine der Grenzen der UdSSR wiederhergestellt werden kann. Der Wähler ist aber bereit, seine Stimme einem Traum zu geben.

Man kann die Menschen schon verstehen, die sich aufrichtig nach dem »Sowok« zurücksehnen. Vor 30–40 Jahren waren sie jung und glücklich, haben ein sorgloses Leben geführt und ihnen ging es gut. Alles war klar und einfach. Heute sind sie alt und krank, ihre besten Zeiten sind dort geblieben, hinter einer Grenze von 25 Jahren.

[…]

Die Sowjetmacht, das sind für mich Okkupanten Russlands. Das ist eines der blutigsten und unmenschlichen Regime des 20. Jahrhunderts. Sie haben die Schwäche des Zaren genutzt, um Macht zu erobern und 69 Jahre das Land vergewaltigt. Sie vernichteten das Bauerntum, die unternehmerischsten und am besten wirtschaftenden Menschen; sie vernichteten das Militär, die Geistlichen, die Politiker. Als von den für die Sowjetmacht fremden Elementen niemand mehr übrig war, begannen sie die eigenen Leute zu tilgen. Diejenigen, die den Sowjetstaat gegründet haben, wurden von demselben Staat vernichtet. Der berühmte 17. Parteitag der KP im Jahr 1934 wurde später »Parteitag der Erschossenen« genannt, weil mehr als die Hälfte der Teilnehmer in den Jahren des Großen Terrors repressiert wurde. Das ist nur eines der Kapitel.

[…]

Vor 25 Jahren hat sich mein Land von der Unterdrückung durch die Okkupanten befreit. Das ist ein schöner, herrlicher Feiertag. Erziehen Sie Ihre Kinder zu freien Menschen. Ich hoffe, Russland wird genug Kraft haben, diese Pest endgültig zu besiegen.«

Ilja Warlamow am 21. August 2016 auf varlamov.ru; <http://varlamov.ru/1905804.html>.

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

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Artikel

Antirevolutionäre Revolutionserinnerungspolitik: Russlands Regime und der Geist der Revolution

Von Il’ja Kalinin
Russlands Führung steht im Jahr 2017 vor einer Herausforderung: Sie muss Erinnerung an die Oktoberrevolution in ein Geschichtsbild verpacken, das Revolutionen als solche ablehnt. Ihre zentrale Botschaft lautet: Versöhnung. Doch es geht nicht um den Bürgerkrieg 1917–1920. Die Vergangenheit ist nur vorgeschoben. Es geht darum, jede Form von Kritik am heutigen Regime als Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu diffamieren und mit dem Stigma zerstörerischer revolutionärer Tätigkeit zu belegen. (…)
Zum Artikel auf zeitschrift-osteuropa.de
Analyse

"START-Nachfolgeverhandlungen: Probleme und Fortschritte

Von Pavel Podvig
Nach der Amtsübernahme durch Obama haben zwischen Russland und den USA Gespräche über ein START-Nachfolgeabkommen begonnen, das wohl vor dem vor dem Auslaufen des START-Abkommens am 5. Dezember 2009 unterzeichnet werden wird. Derzeit bestehen jedoch noch eine Reihe von Problemen, die in Verhandlungen zu lösen sind. Wenn das neue Abkommen die strategischen Kräfte auf die 1.500 bis 1.675 Sprengköpfe beschränken soll, auf die man sich im Juli 2009 geeinigt hat, muss es die strikten Zählungsregularien des START-Abkommens lockern und sich stattdessen auf eine der Versionen der US-Definition von »operativ einsatzbereiten Sprengköpfen« einlassen, die im Kontext des Moskauer Abkommens verwendet worden sind. Gravierend ist die Uneinigkeit über die Anzahl der Trägersysteme. (…)
Zum Artikel

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