Einem bekannten Bonmot zufolge, ist Russland ein »Land mit unvorhersagbarer Geschichte«. Das Gleiche ließe sich mit kaum weniger guten Gründen auch von anderen Ländern und Nationen sagen, wenn nicht gar von den meisten. Im Grunde wird jedes Land, das ein nationales Trauma erlitten hat, zu einem Land mit unvorhersagbarer Geschichte. Wenn es ein schweres Trauma ist, wie zweifellos in Russland, kann sich dieser Zustand der »Unvorhersagbarkeit« sehr in die Länge ziehen.
Nun hat Russland im 20. Jahrhundert nicht bloß ein Trauma erlitten. Es hat eine nationale Katastrophe erlebt, die 70 Jahre dauerte. Mindestens 18 Millionen Menschen gingen durch den Gulag. Zumindest 3 Millionen Menschen starben im Lager. Mehr als 800.000 wurden allein in den 16 Monaten des Großen Terrors von Juli 1937 bis Oktober 1938 von Schnellgerichten, den sogenannten Troikas, zum Tode verurteilt, erschossen und in geheimen Massengräbern verscharrt. Hinzu kommen die Toten der großen, staatsgemachten Hungersnot 1932–33, der, hier gehen die Zahlen der Forscher bis heute auseinander, bis zu 15 Millionen Menschen, vor allem in der Ukraine und in Kasachstan, aber auch in Südrussland zum Opfer gefallen sind. Der staatliche Terror wirft bis heute seinen langen und großen Schatten über eine Bevölkerung, deren Mehrheit damit leider nichts zu tun haben will. Wer diese Massenverdrängung stört, wie die Gesellschaft »Memorial« (nicht Memorial allein natürlich, aber hier stellvertretend genannt für alle kleinen Initiativen und einzelnen Menschen in Russland, die sich dieser schrecklichen Vergangenheit stellen) macht sich inzwischen wieder verdächtig.
Vorläufer von Memorial und den anderen Initiativen waren die sowjetischen Dissidenten. Sie haben nicht wenig dazu beigetragen, dass die Sowjetunion nach 70 Jahren ein Ende gefunden hat. Auch, dass der Auflösungsprozess in den meisten Teilen des Landes vergleichsweise gewaltlos vonstatten ging, ist mit ihr Verdienst. Ihre Ideen und einige ihrer Methoden wirken noch in den zahlreichen Menschenrechtsgruppen in Russland weiter. Manche Dissidenten haben sich in den modernen Zeiten zurecht gefunden. Viele von ihnen sind inzwischen gestorben. Einige aber, die übrig geblieben sind, wirken von außen betrachtet wie aus der Zeit gefallene Starrköpfe, Maximalisten, jedenfalls Leute, mit denen die allermeisten Menschen in Russland nichts anfangen können. Sie vor allem prägen das heute in Russland vorherrschende Bild dessen, was einen Dissidenten ausmacht. Als gesellschaftliches Phänomen mit Einfluss auf die Gesellschaft gibt es die Dissidenten nicht mehr.
Nun ist es aber so, dass seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin vor mehr als 17 Jahren viele mit dem Ende der Sowjetunion (und damit nicht zuletzt durch die Dissidenten) errungenen Freiheitsrechte durch den Staat wieder stark eingeschränkt wurden. Es gibt keine uneingeschränkte Meinungsfreiheit mehr in Russland, ganz zu schweigen von der fast völlig wieder abgeschafften Versammlungsfreiheit. Politische Beteiligung, Wahlen und Zivilgesellschaft werden vom Staat streng und eifersüchtig kontrolliert, abweichende Meinungen und Handlungen wieder kriminalisiert. Entsprechend gibt es seit einigen Jahren erneut Menschen, die wegen ihrer politischen Überzeugungen (oder manchmal wegen ihres Glaubens) ins Gefängnis gesteckt werden. Der gegenwärtig bekannteste und offensichtlichste Fall ist wohl der von Ildar Dadin, einem jungen Mann, der im vorigen Jahr zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, weil er dreimal das kurz zuvor verschärfte Demonstrationsrecht verletzt hatte, indem er Einzelmahnwachen abhielt, ohne dafür zuvor eine behördliche Genehmigung einzuholen (die er ohnehin kaum bekommen hätte). Diese Entwicklung, diese Bedrohung ihrer Arbeit, ja ihrer Existenz hat innerhalb vieler NGOs, insbesondere der Menschenrechtsgruppen, Diskussionen angestoßen, darüber nachzudenken, welche Praktiken, welche Ideen der Dissidenten denn so mächtig waren, dass sie nicht unerheblich zum Ende der Sowjetunion beigetragen haben. Anders ausgedrückt: Warum haben die Dissidenten gegen den KGB gewonnen? Und sollte man nicht wieder Dissident werden?
Um auf diese Fragen antworten zu können, muss zuerst noch einmal tief in die Sowjetunion zurückgegangen und eine kleine Geschichte der Dissidenten erzählt werden. Terror als Herrschaftsinstrument war von Anfang an ein integraler Bestandteil der sowjetischen Wirklichkeit. Das Haupterbe dieser Jahrzehnte ist Angst, eine permanente, im Unterbewusstsein verwurzelte Angst vieler Menschen vor der Allmacht des Staates, die bis heute nachwirkt. Die Staatsmacht kann mit einem machen, was immer sie für richtig hält. Das wussten alle Menschen in der Sowjetunion und das glauben auch heute noch sehr viele Menschen in Russland zu wissen. Ihre Erfahrung mit ihrem Staat zeigt, dass sie damit auch nicht ganz falsch liegen.
Es waren die später Dissidenten genannten Menschen, die es als erste wagten, dieser Angst zu trotzen. Sie merkten bald nach dem Tode Stalins 1953, dass der post-stalinistische Staat zwar immer noch sehr viel Macht besaß und auch den Willen, diese Macht einzusetzen (weshalb sie persönlich viel riskierten), aber eben keine Allmacht mehr, weil der Wille und damit die Fähigkeit zum allgegenwärtigen Terror erschöpft war. Diese Vorläufer der Dissidenten setzten auf Verbindungen zwischen den Menschen, erstmals nach Stalin auch wieder jenseits von Familien- und Verwandtenbeziehungen und vor allem jenseits der Aufsicht des Staates. So begannen sie vorsichtig, der bis heute schmerzlich (nach-)wirkenden, durch den Terror erzwungenen Atomisierung der sowjetischen (und heute der russischen) Gesellschaft entgegen zu arbeiten, wahrscheinlich ohne dass sie damals hätten sagen können, was sie dort begannen.
Seit den späten 1950er Jahren gab wagten sie dann den Samisdat, die Vervielfältigung und Verbreitung von Manuskripten jenseits staatlicher Kontrolle. Hier wurde erstmals in einer Art von Öffentlichkeit (auch wenn sie vorerst sehr klein blieb) über den Stalinismus diskutiert. Die Samisdat-Kultur war noch ganz von antistalinistischem Pathos durchdrungen. Es war aber gerade die Diskussion über den Stalinismus, in deren Umfeld sich jene zahlenmäßig nicht große, doch überaus aktive Gemeinschaft zu konsolidieren begann, deren Mitglieder später Dissidenten genannt wurden. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erschienen im Samisdat dann Texte, die gegen aktuelle politische Verfolgungen protestierten, Texte, die zum Stalinismus als solchem scheinbar in keinem unmittelbaren Zusammenhang mehr standen. Doch auch in diesen Texten war der Gedanke an die tragische jüngste Vergangenheit als Grundlage der akuten Besorgnis der Bürger stets präsent. In der Sowjetunion war mithin der gegenwärtige Kampf für staatsbürgerliche Freiheit, den die Dissidenten begonnen hatten, schon damals untrennbar mit dem »Kampf um die Geschichte« verbunden, mit der Bewahrung und Aufarbeitung der Erinnerung an die Vergangenheit, vor allem an den stalinistischen Terror.
Die Erinnerung an den Stalinismus teilte sich dabei auf lange Zeit, über mehrere Jahrzehnte, in zwei Stränge. Den einen Strang bildete die persönliche Erinnerung, die Erinnerung in der Familie, die auf der Lebenserfahrung der Opfer des Terrors und ihrer Angehörigen beruhte. Sie war latent und wurde als verbotenes oder halbverbotenes Wissen empfunden. Diese Erinnerung war gegenständlich, faktographisch und äußerst konkret. Eine Analyse oder den Versuch zu verstehen gab es kaum. Der zweite Strang bestand in der dissidentischen Reflexion – in Memoiren, deren Autoren es wagten, sie im Samisdat zu veröffentlichen, in Geschichtspublizistik, Übersetzungen westlicher Forschungsarbeiten, Romanen und Gedichten.
Diese fundamentalen, tief gehenden Reflexionen machten die Dissidenten zu bedeutenden Neuerern. Sie erfanden eine Sprache des Rechts, die bis heute das Verständnis von Menschenrechten nicht nur in Russland entscheidend beeinflusst. Diese Sprache des Rechts setzten sie dem Staat entgegen, der zwar Recht setzte und proklamierte, sich aber in der Praxis nicht an das (eigene) Recht hielt. Sie hielten dem Staat Sowjetunion auf diese Weise den Spiegel vor.
Sie waren damit zwar in der Sowjetunion allein, aber nicht in Europa, nicht in der Welt. Ihre Arbeit und ihre Erfindung Sprache des Rechts waren in einige Jahrzehnte verstärkter und intensiver Freiheitssuche in Europa, ja der ganzen Welt eingebettet, die im Westen oft mit dem Kulminationsjahr 1968 bezeichnet wird. In Osteuropa und auch in der Sowjetunion gab es aber ein eigenes, ein genuines 1968. Der Prager Frühling, der Weg der sowjetischen Dissidentenbewegung in eine größere Öffentlichkeit oder das Aufbegehren von Arbeitern in Polen zeugen von einer großen, die Grenzen einzelner Staaten überschreitenden Freiheitsbewegung. Sie hatte andere Ausgangsbedingungen als ihre Schwester im Westen und nahm wohl auch deshalb einen anderen Ausgang. Während im Westen von den Protestierenden nur behauptet wurde, in quasi-diktatorischen Verhältnissen zu leben, lebten die Menschen im Osten tatsächlich in Diktaturen. Während es im Westen um mehr Freiheit(en) und Möglichkeiten ging (und die vorhandene Freiheit zur Durchsetzung dieser Forderungen genutzt werden konnte), ging es im Osten darum, sich erst einmal die grundsätzlichsten Freiheitsrechte zu sichern und nicht allein schon wegen des Freiheitsverlangens in Gefängnissen, im Lager oder im Exil zu landen.
Ich spreche hier von zwei Freiheitsbewegungen (bei der es sich vielleicht auch nur um eine gemeinsame handelt). Allerdings entwickelten sich im Westen aus dieser Freiheitsbewegung heraus mit ihrem Zerfall in den siebziger Jahren auch Anhänger von sehr unfreien, autoritären, um nicht zu sagen totalitären, meist kommunistischen Ideologien. Sie predigten sozusagen Unfreiheit und bekamen Freiheit. Dass das für sie (und ihre Gesellschaften) nicht schief ging, lag vor allem an der dortigen Freiheit, die schon vor ihnen errungen worden war. Im Osten dagegen waren Freiheit und Recht nicht nur Losungen, sondern wesentlicher Teil der politischen Ideologie (und, soweit das überhaupt möglich war, Praxis) der meisten Dissidenten. Trotzdem wurden sie weiterhin unterdrückt (auch wenn, von heute aus gesehen, die darauf folgende Zeit der Stagnation schon den Keim von 1989/90 in sich trug, was damals aber niemand wissen konnte).
Bemerkenswert ist auch, dass es nicht ein großer ideologischer Entwurf war, der die Herrschaft des Systems in Gefahr brachte, sondern dass es eben die allmähliche Etablierung dieser Sprache des Rechts von unten war, die allmählich das Verständnis von politischer Herrschaft veränderte. Allerdings war das nur möglich, weil es jenseits der Grenzen das gab, was später und bis heute meist pauschal als der »Westen« bezeichnet wird. Also eine stabile Gruppe demokratisch verfasster Staaten, die zudem noch wirtschaftlich erfolgreicher waren als die Sowjetunionen und die Länder in ihrem Machtbereich. Das »Wissen« darüber, dass es im Westen wirtschaftlich besser und demokratischer zugeht, teilten die Dissidenten, soweit sich das heute beurteilen lässt, mit einer großen Mehrheit der Menschen zumindest in der späten Sowjetunion. Der demokratische Westen war also eine Referenzgröße, die den Forderungen der Dissidenten an den eigenen Staat zusätzliche Legitimität und Kraft verlieh. Eine Kraft, die letztlich viel zur Selbstbefreiung aus der sowjetischen Diktatur beitrug.
Heute sieht es so aus, als ob in Russland weitgehend vergessen ist, dass sich das Land vor nun schon mehr als 25 Jahren selbst befreit hat. Das Ende der Sowjetunion wird von einer großen Mehrheit der Menschen in Russland bedauert (siehe dazu auch meine Notizen »Sehnsucht nach der ›guten alten Zeit‹ – 25 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion« in den Russlandanalysen Nr. 328: <http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen328.pdf>). Die Dissidenten, wenn sie denn überhaupt erinnert werden, gelten vielen als »Verräter«, die seinerzeit als »nützliche Idioten« oder gar gleich »Agenten« das Werk »des Westens« betrieben habe, um Russland klein zu kriegen. Das und die immer noch tief in den Erinnerungen der Menschen sitzende Angst gegenüber der Allmacht des Staates macht es der politischen Führung momentan recht einfach in Vielem zu sowjetischen Herrschaftspraktiken zurückzukehren und so weitgehend ungefährdet an der Macht zu bleiben.
Die seit einigen Jahren simmernde innere Krise dessen, was (auch) hier vereinfacht »Westen« genannt wird, ist durch die Wahl und den Amtsantritt von Donald Trump wohl in eine entscheidende Phase eingetreten. Es könnte sein, dass für die russische demokratische Opposition, die die Praxis der Dissidenten übernommen hat, den eigenen Herrschern eine auf den Menschenrechten aufbauende Rechtsstaatlichkeit entgegen zu halten (und dieses Argument mit Hinweis auf die real existierenden liberalen Demokratien des Westens zu untermauern) eine Zeit der bedingten Einsamkeit begonnen hat. Sie werden auf absehbare Zeit wohl noch mehr auf sich selbst gestellt sein, als sie das ohnehin schon länger sind.
Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass sich die sowjetische (und damit auch russische) Erfindung der Sprache des Rechts unter der Oberfläche festgesetzt hat. Sie kann zwar eine Weile unterdrückt werden, ist aber trotz der (wie ich doch sehr hoffe) zeitweisen Schwäche des »Westens« nicht mehr völlig zu vertreiben. Denn auch die russische Gesellschaft hat sich auf den Weg einer tiefgreifenden Veränderung der Herrschaftsverhältnisse gemacht hat, der mit dem Symboljahr 1968 verbunden bleibt. Dieser Weg ist nicht gerade, sondern verschlungen. Und er wird zu neuen russischen Eigenarten führen. Er kann eine Weile aufgehalten, in seiner Bewegung behindert werden. Verhindert werden kann er nicht mehr. Dafür haben die Dissidenten in der Sowjetunion zusammen mit ihren Kollegen in anderen sozialistischen Ländern den Grundstein gelegt. Sie wollten in Würde leben. Sie haben unter großen persönlichen Risiken gezeigt, dass das (fast) immer möglich ist. Das ist ihr Vermächtnis.
Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog <http://russland.boellblog.org/>.