"Er schlägt mich, also liebt er mich". Zur Lockerung der Strafbestimmungen gegen häusliche Gewalt

Von Sergey Medvedev (Berlin)

Wollen Sie wirklich wegen einer Ohrfeige Familien zerstören?

Olga Batalina (42), Abgeordnete der Staatsduma, Saratow

»Die Staatsduma hat wohl das aufsehenerregendste Gesetz seit Jahresbeginn verabschiedet, sie hat frühere Fehler korrigiert und aus dem Strafgesetzbuch »familienfeindliche Regelungen« gestrichen. Nun ist die Verantwortung für Schläge in und außerhalb der Familie gleich, wer die Tat auch immer begangen hat.

[…]

Denjenigen, die sich aktiv gegen das Gesetz wenden, möchte ich eine Frage stellen: Halten Sie es für angemessen, eine Mutter, die ihrem Sohn aus Hilflosigkeit wegen Diebstahl oder, weil er aus der Wohnung abgehauen ist, eine Ohrfeige versetzt hat, zu zwei Jahren Haft zu verurteilen? Natürlich ist es besser, bei der Erziehung auf Ohrfeigen und blaue Flecken zu verzichten.

Wer aber hat etwas davon, wenn wir eine solche Familie zerstören und das Kind ohne Mutter lassen, ohne ihren Schutz, und es in ein Waisenhaus geben? […]«.

Olga Batalina am 29. Januar 2017 in den »Iswestija«; <http://izvestia.ru/news/660874#ixzz4XKIAwr5m>.

In Russland werden 10.000 Menschen jährlich durch häusliche Gewalt getötet

Ilja Warlamow, 33, Fotograf und Blogger, Moskau

»2014 sind mehr als 25 Prozent der registrierten Morde in Russland innerhalb der Familie begangen und im gleichen Zeitraum sind ca. 42.000 Straftaten gegenüber Familienangehörigen registriert worden. Im Durchschnitt werden jährlich mehr als 10.000 Menschen durch häusliche Gewalt getötet (in den letzten Jahren ca. 12–14.000, meistens Frauen).

Jährlich erleiden 26.000 Kinder häusliche Gewalt, 2.000 davon begehen Selbstmord und 10.000 laufen von zu Hause weg.

Dabei landen 97 Prozent der Fälle häuslicher Gewalt vor keinem Gericht.

Die Abgeordneten können Schläge aus dem Strafgesetzbuch streichen, sie können überhaupt jegliche Verantwortung für häusliche Gewalt abschaffen. Oder – warum nicht ? –gar Preise dafür verleihen! Ehrenmedaillen für die Stärkung der Familie!

Warum kümmert Euch die Verantwortung überhaupt? Es macht sowieso keinen Sinn, wenn 97 % Angst davor haben, zur Polizei zu gehen und vor Gericht zu ziehen. Wenn es überhaupt kein Vertrauen gegenüber den Bullen gibt. Sie haben auch früher die Opfer verlacht und wollten die Anzeigen nicht annehmen. Nun werden sie jenen Vereinzelten, die keine Angst haben, sich zu beschweren, die Tür nicht mehr aufmachen.

Tatsächlich wird sich kaum etwas ändern. Macht euch keine Illusionen. Unser Staat schützt heutzutage nur einen gut – sich selbst vor uns.«

Ilja Warlamow am 27. Januar 2017 auf Facebook; <https://www.facebook.com/varlamov/posts/1250186251702781>.

Ich muss meine Kinder züchtigen

German Sterligow (50), Unternehmer und orthodoxer Aktivist, Moskauer Gebiet

»Ich bin orthodoxer Christ; ich habe meine Kinder gezüchtigt und werde es weiterhin tun. Ich bin ein Straftäter; sowohl nach der ersten als auch nach der zweiten Fassung des Gesetzes. Die Heilige Schrift sagt mir: »Züchtige deinen Sohn«. Die Abgeordneten der Staatsduma sagen: Wir verbieten dir, deine Kinder zu bestrafen. Wem soll ich als Christ gehorchen? Gott oder den Abgeordneten?

Die Ehefrau ist ein anderes Thema. Kinder und Frauen werden hier absichtlich zusammengemischt, um die Menschen zu verwirren. Wirrköpfe sind diese Abgeordneten, die Teufelsdiener. Sie fälschen die Thesen.

Die Kinder muss der Ehemann züchtigen. Die Ehefrau kann er aber je nach Umständen züchtigen. Es gibt in der Heiligen Schrift keine Pflicht des Ehemanns, seine Ehefrau zu züchtigen, die Kinder zu züchtigen aber schon.

Häusliche Gewalt ist ein Begriff, der ausgedacht wurde, um die Menschen für dumm zu verkaufen. […]«

German Sterligow am 12. Januar 2017 im Interview für snob.ru; <https://snob.ru/selected/entry/119273>.

Männer verprügeln Frauen wohl nicht unentwegt

Maxim Masurowskij (37), Vorsitzender des Vereins zur Stärkung der Familie »Mutter«, Petrosawodsk

»Häusliche Gewalt wird nicht zunehmen, wenn die Strafe gemildert wird. Früher war es eine Straftat – man konnte für zwei Jahre ins Gefängnis kommen. Nun muss man Bußgelder zahlen oder gemeinnützige Arbeit leisten. Dieser Unterschied wird einen Mann, der entschlossen ist, seine Frau zu verprügeln, nicht davon abhalten. Die Frauen können dafür aber öfter ihre Männer anzeigen. Deswegen sind diese Gesetzesänderungen aussichtsreicher, als die frühere Fassung des Gesetzes.

Versetzen Sie sich in die Lage der Ehefrau: Sie hat den Ehemann angezeigt. Ihm drohen zwei Jahre [Gefängnis]. Die Familie ist zerstört. Der Mann hat sie nicht etwa mit Gewalt zur Heirat genötigt. Die Frau liebt ihn. Sie hat Gefühle für ihn und Pflichten. Er verprügelt sie wohl nicht unentwegt. Sie wohnt doch aus irgendeinem Grund mit ihm zusammen, bekommt etwas von ihm.

Früher dachte die Frau: Lass ihn prügeln, aber auch die Familie ernähren. Nun kann sie ihn anzeigen, damit er zur Prophylaxe ein Bußgeld zahlt.«

Maxim Masurowskij am 12. Januar 2017 im Interview für snob.ru; <https://snob.ru/selected/entry/119273>.

Warum ich für das Gesetzt abgestimmt habe

Fedot Tumusow (62), Abgeordneter der Staatsduma, Jakutsk

»Ich habe für die Abschaffung abgestimmt, weil das Gesetz in Wirklichkeit anders aussieht und klingt, als es in den Medien und sozialen Netzwerken dargestellt wird. Erstens geht es darum, dass es auch eine Strafe geben wird. Nach dem ersten Mal allerdings gibt es ein Bußgeld (das heißt, man wird nicht ins Gefängnis gesteckt und nicht durch gewaltige Geldstrafen ruiniert). Wenn es aber zur zweiten Anzeige von Gewalt kommt, folgt eine strafrechtliche Verfolgung.

[…] es gibt in Russland Gewalt in der Familie; man muss sie bekämpfen. Aber Strafverfahren nach dem ersten Streit, lassen wir uns da nicht täuschen, sind bei unserem miserablen Polizei- und Justizsystem kein guter Ansatz. Die Missbrauchsgefahr ist zu hoch.

Seien wir ehrlich: Es gibt hier keine optimale Lösung. Die Frage ist nur, welche von den zwei Übeln (Gesetzesvorschriften) das kleinere ist.«

Fedot Tumusow am 27. Januar 2017 bei »Echo Moskwy«; <https://echo.msk.ru/blog/kuduktumus/1917418-echo/>.

Zunächst muss das Strafvollzugssystem reformiert werden, erst dann kann man Menschen in Gefängnisse sperren

Tamara Ejdelman, Vertreterin der karitativen Stiftung »Hilfe gebraucht«

»Ich sitze heute und lese den ganzen Tag darüber, was für ein schreckliches Gesetz die Staatsduma verabschiedet hat, als sie »Schläge entkriminalisiert hat«. Und ich wundere mich ein bisschen… Ich will erklären, warum. Ich bin zweifellos gegen Gewalt in der Familie. Das ist schlimm, widerlich, erniedrigend und verbrecherisch. Ich weiß aber auch, dass die »Strafvollzugsbehörden« in unserem Land noch schlimmer, widerlicher, erniedrigender und verbrecherischer sind. Sie bessern niemanden, sondern brechen die Menschen; sie machen sie fertig; und aus denen, die zum ersten Mal einen Fehltritt begangen haben, werden dort echte Kriminelle.

Genau deswegen begrüße ich jegliche Vorschläge, die auf die Lockerung unseres bestialischen Strafsystems gerichtet sind. Ich unterschreibe keine Petitionen für die Verschärfung von Strafen – egal für wen – weder für die Schweine, die Ärzte überfallen, noch für die Drecksäcke, die Tiere misshandeln. Selbst für diese Prolls, die ihre Ehefrauen und Kinder schlagen. Wir sollten es bitte erst mal schaffen, das Strafvollzugssystem zu reformieren, erst dann werden wir reinen Gewissens Menschen dorthin schicken können […]«

Tamara Eidelman am 27. Januar 2017 auf Facebook; <https://www.facebook.com/tamara.eidelman/posts/980407078758010>.

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

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Analyse

Vorerst gescheitert: »Pussy Riot« und der Rechtsstaat in Russland

Von Caroline von Gall
Die Bilder der »Pussy Riot«-Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Alechina auf der Anklagebank im Moskauer Chamowniki-Gericht gingen um die Welt. Wie kein anderes Verfahren bestimmte der Prozess die politische Debatte in diesem Sommer und rief auch in Deutschland starken öffentlichen Protest hervor. Aus juristischer Perspektive zeigt das Verfahren dagegen nur exemplarisch die bekannten Mängel der russischen Strafjustiz: Die russische Verfassung und die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK) sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) werden bei der Auslegung der relevanten Normen nicht beachtet. Die Auseinandersetzung mit den Tatbestandsvoraussetzungen bleibt in Anklage und Urteil an der Oberfläche. Wenn auch in diesem Fall eine politische Einflussnahme nicht nachgewiesen werden kann, fehlt es den politischen Eliten seit langem am erkennbaren Willen, die Strafjustiz zu professionalisieren, die Urteile des EGMR systematisch umzusetzen und die Unabhängigkeit der Justiz deutlich zu verbessern. (…)
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Analyse

Rechte, die nur schwer in Anspruch zu nehmen sind: Die Lage der Frauen in Russland

Von Irina Kosterina
Die Lage der Frauen in Russland ist erstaunlich und widersprüchlich: Einerseits haben Frauen hier früher als in allen anderen Staaten Grundrechte erhalten und stellten bereits in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts fast die Hälfte der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung. Andererseits wird die Rolle der Frau recht traditionell gesehen, und die wichtigste normative Rolle ist die der Ehefrau und Mutter. Wie sieht die Genderpolitik in Russland heute aus, und in welchen Bereichen fühlen sich Frauen heute selbstbewusster, in welchen diskriminiert?
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