Russland in der internationalen Politik
2016 ist für die russische Außenpolitik ein besonders ereignisreiches Jahr gewesen, in dem das Land wieder einmal mit Verve die Rolle des herausragenden Buhmanns der internationalen Politik übernommen hat. Gleichzeitig scheint es als könnten sich einige der Wagnisse, die der Kreml eingegangen ist, wohl tatsächlich auszahlen (zumindest hinsichtlich der Ziele, die sich das Regime gesetzt hatte), wenn man die sichtbaren »Erfolge« des Vorgehens in Syrien, der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA und die offenkundige Welle des Populismus, die über Europa hinwegschwappt, als Maßstab nimmt. Während sich das Putin-Regime im Laufe des Jahres von Krise zu Krise bewegte, setzte es weiterhin selbstbewusst Gewalt ein, sowohl konventionelle wie im Falle Syriens und der Ukraine, als auch unkonventionelle oder nichtlineare Maßnahmen, wie bei den Cyber-Angriffen auf die USA. In diesem Kontext sind die innen- und außenpolitischen Agenden des Kreml eng miteinander verwoben, wobei die Betonung der internationalen Rolle Russlands nachdrückliche Priorität zur Sicherung des Regimes im Inneren genießt. Eingedenk dieses Ziels hat Russlands Außenpolitik im Jahr 2016 den Eindruck verstärkt, dass das Land nun als eine Macht wahrgenommen werden sollte, die nicht nur harte Worte findet, sondern auch machtvoll agiert, wenn es um die Wahrung von Russlands Interessen in der als der seinigen betrachteten Region und auch darüber hinaus geht.
Neben aktiven außenpolitischen Entscheidungen war das Jahr von vielen internationalen Entwicklungen geprägt, von denen Russland zu profitieren schien – insbesondere der offenkundige Aufschwung des Populismus, symolisiert durch Domald Trumps Sieg bei den Präsidentschaftwahlen in den USA im November und das Brexit-Votum im Vereinigten Königreich im Juni . Während wir das Jahr 2017 werden abwarten müssen, um zu sehen, wie diese Ereignisse in praktische Politik umgewandelt werden, hat das Putin-Regime das Jahr 2016 wohl mit einem Hoch abgeschlossen.
Syrien: Verdoppelung des Einsatzes bei Militäroperationen
2016 bedeutete in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung von Entwicklungen, die bereits in den vergangenen Jahren zu beobachten gewesen waren. Das lässt sich am deutlichsten hinsichtlich der Bereitschaft des Putin-Regimes beobachten, Gewalt einzusetzen, um seine vermeintlichen nationalen Interessen zu wahren. Markantestes Beispiel ist hier natürlich Russlands anhaltende Unterstützung für das Regime von Baschar al-Assad in Syrien. Der Militäreinsatz Russlands, der im September 2015 zur Stützung des Assad-Regimes in Syrien begonnen wurde, wird mit unveränderter Intensität fortgesetzt. Vor dem Hintergrund anhaltender Kritik aus unterschiedlichen Lagern und einer Vielzahl gescheiterter Versuche, einen Waffenstillstand auszuhandeln (vor allem bei den Genfer Friedensgesprächen im Februar und den russisch–amerikanischen Gesprächen im September) hat sich das Regime in Russland als Teil einer Koalition mit Syrien und dem Iran (und mit der Unterstützung der Hisbollah) entschlossen gezeigt, den Militäreinsatz fortzusetzen. Über das Jahr hinweg sind erhebliche Anstrengungen in Richtung militärischer Schlüsselziele wie Aleppo, Palmyra, Homs, Hama und Ilib unternommen worden. Einsatztechnisch scheint der anhaltende Strukturwandel in den militärischen Potentialen Russlands und die erhöhten Verteidigungsausgaben im Sinne militärischer Effizienz Früchte zu tragen. Russlands militärische Unterstützung für das Assad-Regime scheint den Krieg zugunsten des syrischen Regimes gewendet zu haben. Daher besteht beim Regime und dem Miltär in Russland die Hoffnung, dass der Geist der militärischen Schwäche, der während des Georgien-Krieges 2008 zutage getragen war, gebannt ist.
Aus innenpolitischer Sicht ist entscheidend, dass das Regime die innerrussische Wahrnehmung des Militäreinsatzes sehr geschickt gehandhabt hat. Durch die gekonnte Anwendung von offizieller Berichterstattung und Propaganda scheint es im Innern nur wenig negative Rückwirkungen gegeben zu haben. Dem steht international eine Welle der Verurteilung entgegen, von Beschuldigungen wegen extrem hoher Zahlen an zivilen Opfern, die der Einsatz verursacht hat (Schätzungen belaufen sich auf viele Tausende; wobei die genauen Opferzahlen seit dem Beginn des russischen Einsatzes 2015 je nach Quelle erheblich variieren), und wegen offenkundiger Angriffe auf lebenswichtige Infrastruktureinrichtungen und »weiche Ziele« (z. B. Krankenhäuser), die als Kriegsverbrechen eingestuft werden können. Gleichwohl hat Russland, wie Sergej Dawidis zurecht hervorhebt, im Innern wenig bis überhaupt keine Proteste gegen den Syrien-Einsatz erfahren. In der Tat scheint sich die Mehrheit der Bevölkerung gern dem offiziellen Standpunkt anzuschließen oder aber einem Militäreinsatz, der sehr weit von den eigenen Landesgrenzen stattfindet, nur mit Desinteresse zu begegnen. Es dürfte allerdings trotz Russlands aktiver militärischer Rolle in Syrien sehr unwahrscheinlich bleiben, dass das Land auf globaler Ebene als neue Sicherheitsmacht auftritt, selbst angesichts der zunehmenden Zurückhaltung westlicher Staaten selbst eine solche Rolle zu übernehmen. Anders gesagt: Es bleibt, wenn es um entferntere Regionen geht, unwahrscheinlich, dass Russlands Einsatz in Syrien in den kommenden Jahren als Blaupause für Russlands Sicherheitspolitik im Äußeren fungieren wird.
Osteuropa: Pattsituation im »vergessenen Krieg« und wachsende Spannungen
Die Spannungen anlässlich der Ukraine, insbesondere hinsichtlich der anhaltenden Kampfhandlungen entlang der Kontaktlinie im Donbass, haben sich fortgesetzt. Es gibt weiterhin Brennpunkte des Konflikts, an denen es regelmäßig zu Opfern kommt, und die viele Analytiker nun von Europas »vergessenem Krieg« sprechen lassen. Während der Friedensprozess insgesamt stockt, hält der verhärtete diplomatische Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen über fehlende Fortschritte bei der Umsetzung der jeweiligen Verpflichtungen aus den Minsk 2-Protokollen an. Im November 2016 stellte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) fest, dass das Vorgehen Russlands in der Ukraine einen »internationalen bewaffneten Konflikt« zwischen Russland und der Ukraine und keine innere Angelegenheit darstellt. Am Ende des Jahres waren die Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Russland immer noch in Kraft und auch der Kreml hat seine Gegensanktionen in das Jahr 2017 verlängert. Gleichzeitig haben sich Befürchtungen verstärkt, dass Russland in Osteuropa »hybride« Taktiken einsetzt. Russlands Luftwaffe dringt weiterhin oft in den Luftraum der NATO ein, die russische Ostseeflotte und deren Stützpunkt im Gebiet Kaliningrad sind mit atomwaffenfähigen Raketen ausgestattet worden und es wurden mehrere Militärübungen in der Nähe von NATO-Mitgliedsstaaten abgehalten, was die Spannungen weiter verstärkte. Die NATO hat, ihren Erklärungen vom Warschauer Gipfeltreffen im Juli folgend, in gleicher Weise reagiert: mit Plänen, die Unterstützung für Osteuropa zu verstärken und mit vier neuen Bataillonen, die in dieser Region stationiert werden. Darüber hinaus werden einzelne NATO-Mitglieder in höherem Maße eine aktive militärische Unterstützung für ihre osteuropäischen Verbündeten gewähren. So entsenden etwa die USA mehr militärische Verstärkung nach Polen; Großbritannien plant die Entsendung von Kampfjets nach Rumänien sowie von 800 Soldaten nach Estland; Italien leistet verstärkt Hilfe für Lettland und es sollen zusätzliche deutsche Truppen in Litauen stationiert werden. Trotz der ad hoc-Treffen der beiden Seiten im Rahmen des NATO-Russland-Rates bleibt die übergeordnete Dynamik von Misstrauen, häufigem Säbelrasseln und militärischem Ausbau in Osteuropa bestehen.
Russland, der Aufschwung des Populismus und der Westen: Feinde im Innern?
Neben den anhaltenden militärischen Reibereien in Ost- und Nordeuropa haben auch Russlands offenkundige Versuche, sich in die Angelegenheiten des Westens einzumischen, zunehmende Besorgnis ausgelöst. Das gilt vor allem für den Einsatz versteckter politischer, wirtschaftlicher und sozialer Verbindungen des Putin-Regimes zu unterschiedlichen »gegen das Establishment« gerichteten, oft rechtsradikalen politischen Gruppen in Europa, um die geschlossene Haltung der westlichen Bündnisse zu unterminieren. In der Tat scheint die Welle des Populismus, von der Europa offenkundig erfasst wird – zu erkennen am Brexit-Votum im Juni und der offensichtlich zunehmenden Unterstützung für populistische Kräfte in Frankreich (Front National) und in Deutschland (AfD) – Russlands gegenwärtige Position gegenüber Europa zu stärken. Im Gefolge der viel diskutierten und kontroversen Rolle Russlands bei den US-Präsidentschaftswahlen sind Befürchtungen laut geworden, dass Russland möglicherweise Einfluss auf die anstehenden Wahlen in Frankreich im April und in Deutschland im September nehmen könnte. Diskutiert werden auch die Implikationen eines möglichen Sieges prorussischer Präsidentschaftskandidaten in Frankreich (sei es nun Marine LePen oder François Fillon) auf die europäische Position gegenüber Russland. Viele meinen jedoch, dass das für Russland günstigste Ereignis des Jahres die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA war. Angesichts der Art und Weise, in der sich der Präsidentschaftswahlkampf abspielte, dürfte in den USA das Schreckgespenst Russland noch für einige Zeit nachhallen, vor allem wegen angeblich von Russland unternommener Hackerangriffe auf die Sicherheitssysteme des »Democratic National Committee« und die Veröffentlichung der gehackten E-Mails durch »WikiLeaks«. Thomas Rid (Department of War Studies des King’s College London) meint, dass dies ein Einsatz von kompromat (»kompromittierender Materialien«) gegen Hilary Clinton gewesen sei. Während die Geheimdienste, insbesondere die CIA und das FBI, weiterhin die genaue Natur und den Ursprung des Angriffs auf die Cybersicherheit diskutieren und Analytiker darüber streiten, inwieweit diese Angriffe eher pro Trump oder eher contra Clinton waren, lassen sich die Wahlen 2016 als jener Moment festhalten, in dem der »Russland-Faktor« in den USA an die Spitze der Tagesordnung zurückkehrte, selbst wenn dies auch nicht jahrelang anhalten sollte. Falls die Verstrickung des Kreml in den Cyber-Angriff zweifelsfrei bewiesen werden sollte, würde diese Aktion nicht ein besonders waghalsiges Vorgehen durch das Putin Regime bedeuten, sondern es würde auch sehr stark die Angst vor einer Bedrohung der Cyber-Sicherheit ausländischer politischer Institutionen durch Russland befeuern. Die Ausweisung von 35 russischen Diplomaten im Dezember wurde als Antwort auf eine angeblich von Russland organisierte Cyber-Attacke bezeichnet.
Auch die Wahl von Donald Trump könnte potentiell einen Wandel in der US-Politik gegenüber Russland signalisieren, wenn man sich die ernannten Berater Trumps vor Augen führt. Die Entscheidung für General Michael Flynn als Sicherheitsberater und für Rex Tillerson, den ehemaligen Präsidenten von »ExxonMobil« mit bekanntermaßen guten Verbindungen nach Russland, als Außenminister scheinen auf eine stärker prorussische Haltung als bei der Obama-Administration hinzuweisen. Während Putin in den USA viele Unterstützer unter den Konservativen und in der Alt-Right-Bewegung zu haben scheint, ist es in dieser Phase noch schwer zu sagen, ob die unerwartete, vielleicht aber aus russischer Sicht eher als Glücksfall zu betrachtende Wahl Trumps zu einem Aufblühen neuer Beziehungen zwischen Moskau und Washington führen wird. Allerdings ist hier Zurückhaltung mit einem Urteil angebracht, weil auch frühere Präsidenten ihre Amtszeit mit einem Versprechen von erneuerten Beziehungen zu Russland begonnen haben und diese Neustarts und vorübergehenden Aufschwünge bald wieder einbrachen.
Die Wahl Trumps, das Brexit-Votum und der Aufschwung populistischer Parteien und Bewegungen in verschiedenen Ländern Europas haben bewirkt, dass sich die Diskussion in Politiker- und Expertenkreisen am markantesten um den Aufschwung des Populismus im Westen bewegt. Einige haben in diesem Zusammenhang die Idee diskutiert, dass das Putin-Regime mit seiner Konzentration auf populistische und patriotische Politik auch in der globalen Machtpolitik eher eine neue Norm repräsentieren könnte als eine Ausnahme. Tatsächlich scheint es jetzt einen Schatten über dem Westen zu geben, nämlich die Sorge, dass wohletablierte Vorstellungen wie Globalisierung, Liberalismus und die gegenwärtige Konfiguration der Weltordnung von vielen Bürgern nicht mehr in dem früher angenommenen Maße unterstützt werden. Allerdings ist bei einem Vergleich des Populismus im Westen und dem in Russland Vorsicht angebracht.
Zum einen sind im Westen Populismus, Nationalismus und antiglobalistischer Eifer wohl eher ein Phänomen, das sich »von unten« her entwickelt und das Establishment überrascht hat. Eine solche Dynamik ist in Russland offensichtlich nicht gegeben. In Russland haben wir es mit einer gefährlichen Mischung aus Patriotismus, Revanchismus und antiwestlichen Haltungen zu tun, die sich aus einem von oben angestoßenen und vom Regime gesteuerten Prozess speist, der bei der Bevölkerung wohl auch auf Resonanz gestoßen ist, wenn man die hohen Zustimmungswerte für Putin zu Rate zieht.
Zum zweiten stehen den gegen das Establishment gerichteten Stimmungen des westlichen Populismus in Russland die antiwestlichen Haltungen im offiziellen Diskurs gegenüber. Wenn auch im Diskurs des Kreml diese antiwestlichen Haltungen in den letzten Jahren eine markante Rolle spielten, so bilden sie dennoch ein instabiles und – zumindest in ihren extremsten Strängen – potentiell vorübergehendes Narrativ, da das Regime weiterhin der Ansicht ist, dass die Beziehungen zum Westen geregelt werden könnten, falls und wenn der Westen beginnt, Russland ernst zu nehmen und es wieder als gleichberechtigten Partner zu behandeln. Hierbei weist die antiwestliche Haltung des Putin-Regimes nicht das gleiche Niveau einer Negierung des »Anderen« (z. B. des Establishments) auf, wie das bei populistischen Bewegungen im Westen zu Tage tritt. Drittens ist die Position des Putin-Regimes – trotz allen Geredes von Gegensanktionen, Importsubstitution und einer Erneuerung der russischen Wirtschaft – weder in ihrer Substanz eine antiglobalistische, noch vertritt sie im gleichen Maße einen Wirtschaftsnationalismus, wie das einige populistische Hardliner in Europa oder den USA tun. Während also das Regime in Russland, wie erwähnt, offensichtlich an Beziehungen zu populisitischen Gruppen im Westen interessiert ist, bedeutet das nicht, dass die politischen Programme vollständig auf einer Linie liegen. Für Russland geht es bei diesen Verbindungen eher darum, kooperative Partner zu finden, um das zu unterminieren, was als das antirussische Establishment im Westen wahrgenommen wird, und weniger darum, die Ausbreitung eines bestimmten Populismus russischer Prägung zu betreiben. Ähnlichkeiten zwischen dem Populismus im Westen und dem des Putin-Regimes bestehen vielmehr darin, dass beide ein hausgemachtes Phänomen sind, das sich aus lokalen Umständen ergeben hat. Hier unterscheiden sich – bei allen sonstigen Ähnlichkeiten, die da bestehen mögen – die Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die die innere Entwicklung bestimmen ganz substantiell von einander. Es ist somit unwahrscheinlich, dass eine gemeinsame populistische Koalition entstehen könnte, zu der sowohl Russland als auch westliche populistische Kräfte gehörten.
Fortgesetzte Wendung nach Osten
Als Gegenstück zu den Spannungen mit dem Westen hat sich 2016 eine andere Entwicklung in der Außenpolitik Russlands fortgesetzt, nämlich der Ausbau von internationalen Partnerschaften, insbesondere hinsichtlich der sogenannten »Wendung nach Osten«. Über das Jahr hinweg sind die Beziehungen zu China weiter verstärkt und vertieft worden, ungeachtet des negativen und anhaltenden Nachhalls der russischen Intervention in der Ukraine und Russlands aktiver Einmischung in Syrien. China bleibt für Russland ein sehr wichtiger Verbündeter, auch wenn das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen den beiden Ländern immer deutlicher hervortritt. Russland ist hier zunehmend Juniorpartner in Beziehungen, die sich mehr und mehr um Russlands Energielieferungen nach China drehen.
Darüber hinaus haben die Verwicklungen und Wendungen in den russisch-türkischen Beziehungen wieder Schlagzeilen bestimmt. Die Feindseligkeit nach dem Abschuss einer russischen SU-24 durch die türkische Luftwaffe im November 2015 ist innerhalb eines Jahres dahingeschmolzen. Der Durchbruch für verbesserte Beziehungen erfolgte im Juli nach dem Putschversuch in der Türkei, in dessen Folge Putin sich für eine Unterstützung Erdoğans stark machte. Wenn auch beide Seiten anscheinend entschlossen sind, ihre Beziehungen wieder auf den richtigen Weg zu bringen, bleiben sie empfindlich gegenüber Erschütterungen, nicht nur strukturell, weil die beiden Länder im Syrien-Konflikt unterschiedliche Seiten unterstützen, sondern auch durch Einzelereignisse wie die tödlichen Schüssen auf Andrej Karlow, den Botschafter Russlands in der Türkei. Allerdings hat dieser Anschlag Russland und die Türkei nicht davon abgehalten, zum Ende Dezember eine Waffenstillstandsvereinbarung für Syrien auszuhandeln.
Die außenpolitische Konzeption Russlands von 2016
Gegen Ende des Jahres (am 30. November 2016) wurde eine neue »Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation« von Präsident Putin gebilligt. Andere Beobachter haben bereits darauf verwiesen, dass dieses Dokument gegenüber den Vorgängern von 2008 und 2013 keine radikale Änderung darstellt, obgleich bei der Formulierung einiger Themen Unterschiede bestehen. Ein zentrales Thema, das die Konzeption durchdringt, ist die Stärkung von Russlands Position als ein Einflusszentrum in der heutigen Welt, mit besonderer Betonung der historischen Rolle des Landes. Das Dokument stellt die Unterschiede zwischen Europa und Eurasien heraus, betont daher weniger, dass Russland Teil einer weitergefassten europäischen Zivilisation sei, und stellt das Land vielmehr als einen unabhängigen Pol innerhalb des Systems internationaler Beziehungen dar. Die Schuld an globaler Instabilität wird den Regierungen im Westen zugewiesen, die andere einzudämmen suchten und dem internationalen System ihre Ansichten aufdrängen würden. Bemerkenswert ist auch, dass die neue Konzeption die Rolle und den Einsatz militärischer Stärke in internationalen Angelegenheiten unterstreicht. Gleichzeitig wird die Besorgnis angesichts globaler terroristischer Bedrohung, Massenvernichtungswaffen sowie hinsichtlich der Internet- und Informationssicherheit bekräftigt. Eine gewohnte Betonung wird auch auf die Rolle der Vereinten Nationen und das Völkerrecht gelegt, wobei Befürchtungen geäußert werden, dass die Prinzipien der Menschenrechte und der Schutzverantwortung eingesetzt würden, um »politischen Druck [auszuüben] und zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten […], u. a. zum Zweck deren Destabilisierung und des Sturzes legitimer Regierungen« (Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation Genehmigt vom Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin am 30. November 2016 <http://www.mid.ru/en/foreign_policy/official_documents/-/asset_publisher/CptICkB6BZ29/content/id/2542248?p_p_id=101_INSTANCE_CptICkB6BZ29&_101_INSTANCE_CptICkB6BZ29_languageId=de_DE> [inoffizielle Übersetzung]). In der Tat scheint die sich wandelnde Weltlage, folgt man der Konzeption, die Politiker in Russland weiterhin sehr zu beschäftigen, wobei die Folgen der Globalisierung, die ungleiche Entwicklung, die Kluft zwischen Arm und Reich neben Auseinandersetzungen zwischen Kulturen als die wichtigsten Probleme ausgemacht werden, die globale Spannungen verursachen.
Auf regionaler Ebene wird den Beziehungen zu Belarus eine besondere Stellung eingeräumt, während die Ukraine nur zwei Mal erwähnt wird. Selbst dort spricht die Konzeption von einem »innerukrainischen Konflikt« oder von Russlands Interesse »an der Entwicklung vielfältiger politischer, wirtschaftlicher, kultureller und geistiger Bindungen zur Ukraine auf Basis des gegenseitigen Respekts und der Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen unter Wahrung ihrer [der Russischen Föderation; d. Red.] nationalen Interessen« (s. »Konzeption …«, Abs. 56). Darüber hinaus wird der Eurasischen Wirtschaftsunion und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) die gewohnte Bedeutung als zentrale institutionelle Instrumente für die Region zugeschrieben, in geringerem Maße gilt das für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).
Bei den Beziehungen zum Westen wird diesem die Schuld an der anhaltenden Krise im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen zugewiesen, während Russland keineswegs Trennlinien in Europa schaffen wolle. Während die Sanktionen kaum erwähnt werden, wird die EU weiterhin als wichtiger wirtschaftlicher und außenpolitischer Partner für Russland beschrieben. Besondere Betonung komme den bilateralen Beziehungen zu Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien zu. Die Beziehungen zu den USA werden weniger benannt, da das Dokument vor Donald Trumps Wahl zum Präsidenten ausgearbeitet worden war, zu einem Zeitpunkt, als Clintons Wahlsieg am wahrscheinlichsten schien und daher in den Beziehungen eine Fortsetzung der bisherigen Tendenzen zu erwarten war. Gleichwohl wird festgehalten, dass Russland »an gegenseitig vorteilhaften Beziehungen mit den Vereinigten Staaten von Amerika interessiert« sei (s. »Konzeption…«, Abs. 72), allerdings nur, wenn diese ihren hemmenden Kurs aufgeben. Viel Betonung wird auf Russlands Wendung nach Osten gelegt, und zwar sowohl im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), des Ostasien-Gipfels (EAS), des ASEAN-Regionalforums (ARF) und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum, als auch in den sehr wichtigen Beziehungen zu China. Die Zusammenarbeit mit China wird als eine bezeichnet, die eine Vielzahl von Themenbereichen abdeckt, wobei Russland »die Übereinstimmung grundsätzlicher Herangehensweisen beider Staaten zur Lösung von Grundfragen der Weltpolitik […] als einen der grundlegenden Aspekte der regionalen und globalen Stabilität« betrachtet (s. »Konzeption…«, Abs. 84). In Bezug auf Syrien betont das Dokument Russlands anhaltende Unterstützung des Status quo, indem es festhält, dass Russland die »Einheit, Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Arabischen Republik Syrien als säkularen, demokratischen und pluralistischen Staat [unterstützt, in dem] die Vertreter aller ethnischen und konfessionellen Gruppen in Frieden und Sicherheit leben und gleiche Rechte und Möglichkeiten genießen […]« (s. »Konzeption…«, Abs. 93).
Insgesamt markiert die außenpolitische Konzeption 2016 keinen radikalen Wandel für die Außenpolitik des Landes. Angesichts der zunehmenden Regelmäßigkeit, mit der in den vergangenen Jahren neue Konzeptionen vorgelegt wurden, und angesichts der Veränderungen in Russlands Beziehungen zu den USA und deren europäischen Partnern, zu denen es in näherer Zukunft potentiell kommen könnte, dürfte die Konzeption von 2016 schnell obsolet werden.
Ausblick
2016 ist insgesamt für die Außenpolitik Russlands ein bemerkenswertes Jahr gewesen. Einige der Risiken, die sie eingegangen ist, könnten sich, wie es aussieht, auszahlen. Allerdings wird erst die Zeit zeigen, ob dem wirklich so ist. Derzeit ist unklar, ob die Wahl Donald Trumps zu einem tatsächlichen Tauwetter in den Beziehungen zu den USA führen wird. Ebenso ist noch nicht erkennbar, ob eine politische Neukonfigurierung in Europa erstens voranschreiten wird, und ob zweitens Europa sich dadurch in eine stärker prorussische Richtung bewegt, oder ob dies drittens wenigstens ein Ende oder eine Lockerung des anhaltenden Sanktionsregimes bedeutet. Mit anderen Worten: Es bleibt abzuwarten, ob Russland in näherer Zukunft wieder aus der Kälte zurückkehren und eingebunden werden kann.
Andererseits hat es den Anschein, als ob die populistische und patriotische Rhetorik des Putin-Regimes nicht mehr so sehr im Widerspruch zur allgemeineren Entwicklung im Westen steht. 2016 war auch ein Jahr, in dem sich die Aufmerksamkeit des Westens zunehmend nach innen wandte, in dem die EU weiterhin versuchte, mit den Folgen des Brexit, dem Aufschwung des Populismus und einer potentiellen, wenn auch unwahrscheinlichen Entgleisung des europäischen Projektes fertig zu werden. Das Establishment in den USA versucht derweilen, die Bedeutung von Trumps Wahlsieg zu begreifen. Unter diesen Umständen ist eine der zentralen Fragen, ob der Westen die Zeit, die Energie und den Raum hat, sich neben all der allgemein neuen politischen Kräfte und innenpolitischen Konstellationen mit der Russland-Frage auseinanderzusetzen. In gleichem Maße sind auch für Russland die zentralen Fragen innenpolitischer Natur, nämlich die stockende Wirtschaft, die 2018 anstehenden Präsidentschaftswahlen sowie die Sicherheit und das weitere Überleben des Putin-Regimes.
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder