Konservatismus als Bewegungsideologie
In diesem Beitrag unternehme ich einen Deutungsversuch des neuen russischen Konservatismus, der bei seinen Grundthemen ansetzt, die sich aus Zeitdiagnosen, Reformvorschlägen und deren historisch-philosophischer Einbettung ablesen lassen. Diese Grundthemen liegen quer zu den von Protagonisten selbst vorgeschlagenen Sortierungsschemata wie »links-rechts«, »rot-weiß«, liberal-, sozial- oder nationalkonservativ. Sie tragen auch zur Erklärung der auf den ersten Blick erstaunlichen Koalitionen und sich wandelnden Gruppierungen unter den Konservativen bei, wenngleich von klar konturierten Strömungen keine Rede sein kann.
Mit meiner Deutung schließe ich an Michael Freeden an, der insbesondere Karl Mannheim in einer Weise neu akzentuiert, die ich in zweierlei Hinsicht für den russischen Kontext für produktiv halte. Erstens betont Freeden mit Mannheim die Dynamik des modernen Konservatismus, dem es nicht um den Erhalt eines Status quo oder um die Rückkehr zu einem früheren Zustand geht. Konservatismus hat daher nichts mit einem einfachem Traditionalismus, einem Festhalten an »traditionellen« Werten oder Lebensweisen, zu tun. Der moderne Konservatismus stellt vielmehr eine situative Bewegungsideologie dar, die nach Freeden einen besonderen Typ von Bewegung präferiert, nämlich einen geordneten, kontinuierlichen und in diesem Sinne natürlichen Wandel. Beide Überlegungen erscheinen mir als geeignete Ausgangspunkte, um die Grundthemen des neuen russischen Konservatismus in seiner Kontextgebundenheit zu identifizieren.
Der neue russische Konservatismus lässt sich nicht mit einem wie auch immer definierten »Putinismus« gleichsetzen, auch wenn die Etablierung einer konservativen Staatsideologie für deren Protagonisten ein wichtiges Ziel darstellt, dem sie über die letzte Dekade näher gekommen zu sein scheinen. Sein konstitutives Thema als zeitgenössische intellektuelle Gegenbewegung ist – so meine These – die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik, welches in unterschiedlicher Prägnanz formuliert und mit anderen Themen kombiniert wird. Erst durch diesen Zugang lässt sich das Neue am neuen russischen Konservatismus erkennen. In ihm lediglich eine Neuauflage der 1833 von Bildungsminister Uwarow unter Nikolai I. geprägten Formel »Autokratie – Orthodoxie – Nation« zu sehen, wie etwa von der britischen Historikerin und Journalistin Lesley Chamberlain pointiert, verkennt die Zeitgebundenheit dieser Gegenbewegung, die sich zwar in Interaktion mit dem politischen Zentrum formiert, teilweise darin inkorporiert und von dort gelenkt wird, gleichwohl aber in einem latenten Spannungsfeld zum politischen System unter Putin steht.
Im ersten Schritt wird der Aufschwung des neuen russischen Konservatismus in der Interaktion mit der politischen Macht skizziert, der nach einer längeren Inkubationszeit ab 2003 in Fahrt kommt und ungefähr bis 2007 reicht. Das ist die Zeit des Suchens, Experimentierens, der Gruppierung und Re-Gruppierung seiner Protagonisten. Im Fokus stehen Intellektuelle, die explizit an der Programmatik einer neuen konservativen Ideologie arbeiten und sich selbst als Konservative bezeichnen. Anhand einflussreicher »Manifeste« dieser »Ideologieproduzenten« werden im zweiten Schritt dann die Grundthemen des neuen russischen Konservatismus aufgezeigt, die in dieser Zeit formuliert werden.
Der Beginn von Wladimir Putins dritter Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation kann als Neugruppierung im konservativen Diskurs gewertet werden, die in einem dritten Schritt dargestellt wird. Zwei neue Initiativen stehen hier im Mittelpunkt: der seit September 2012 bestehende »Isborsker Klub«, der mit dem 2009 gegründeten Institut des dynamischen Konservatismus fusionierte – der Klub ist eine der treibenden intellektuellen Kräfte des neuen russischen Konservatismus. Zum anderen beziehe ich mich auf die 2013 gegründete Stiftung »Institut für sozio-ökonomische und politische Forschung« (Stiftung ISEPI), die seit 2014 die »Hefte über Konservatismus« herausgibt. Der »Isborsker Klub« ist die bisher größte Plattform der russischen Konservativen. Trotz der Nähe einiger seiner Mitglieder zum Machtzentrum steht gerade dieser Klub für das latente Spannungsfeld zwischen dem neuen russischen Konservatismus und der politischen Macht. Diese Spannung tritt zwar – spätestens seit der Annexion der Krim – in kanalisierter Form auf, das heißt als Kampagne gegen die liberale »fünfte Kolonne« des »Westens« in der Opposition, aber vor allem in der Partei »Einiges Russland« und in der Regierung. Sie ist aber keineswegs verschwunden. Demgegenüber repräsentiert die Stiftung ISEPI mit ihren Heften fast in Reinform den Typus einer Gründung »von oben«, einer »Government-Organized Non-Governmental Organization« (GONGO). Die »Hefte über Konservatismus« haben sich primär der Traditions- und Identitätskonstruktion verschrieben und versuchen sich offenbar als intellektuelles Gegengewicht zu den »Isborskern« zu etablieren. Im Resümee dieses Beitrages wird es um die Frage gehen, was neu ist am neuen russischen Konservatismus.
Initiativen und Manifeste von 2003 bis 2007 in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs
Eine zeitliche Datierung des beginnenden Aufschwungs des neuen russischen Konservatismus auf das Jahr 2003 bedeutet nicht, dass Konservatismus vorher kein Thema war. Bereits 1993 gründete der Wirtschaftsminister und Initiator der »Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft in 500 Tagen«, Jegor Gajdar, ein Zentrum liberalkonservativer Politik, dem übrigens auch der 2015 ermordete Boris Nemzow angehörte. Anfangs wurde Putin in einem einflussreichen Aufsatz von Leonid Poljakow, heute Mitglied des Isborsker Klubs, ebenfalls als »liberaler Konservativer« bezeichnet, weil er eine neoliberale Wirtschaftspolitik (Flatrate in der Steuerpolitik, Deregulierung und Öffnung für ausländische Direktinvestitionen) mit einer Rezentralisierung und Konsolidierung der Staatsmacht verband. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums standen »patriotische Kräfte« wie die Kommunisten und die Vertreter eines neuen Eurasianismus, vor allem Alexandr Panarin (1930–2003), Wadim Zymburskij (1957–2009) und Alexandr Dugin (geb. 1962), deren Themen und Motive in den neuen russischen Konservatismus einflossen. Für diese Autoren bildete aber Konservatismus nicht das übergreifende Etikett.
Ab 2003 mehrten sich jedoch die Initiativen und Manifeste, die den Konservatismus als neue Leitideologie zu etablieren suchten. Der Zeitpunkt ist aus mehreren Gründen interessant. 2003 wurde Russland gegenüber dem IWF schuldenfrei, der Ölpreis stieg (was eine Steigerung des Massenkonsums ermöglichte), Goldman Sachs publizierte seinen berühmten »BRIC Report«, in dem prognostiziert wurde, dass Russland in Bälde zur fünften Wirtschaftsmacht in der Welt aufsteigt. Während die Oligarchen eben erst ihre Massenmedien an den Staat abtreten mussten, schickte sich Putin an, den Machtkampf mit dem Jukos-Chef Michail Chodorkowskij zu gewinnen. Vor allem aber standen die Parlamentswahlen bevor, in der die Kommunisten – bisher ein wichtiges Zentrum der Patrioten – ihre Position als stärkste Partei an die neue Partei »Einiges Russland« verlor, die als »Partei der Macht« aus einer Fusion zweier bisher konkurrierender Gruppen der politischen Elite und der Administration hervorgegangen war.
Mit den neuen Spielräumen wurde die Frage »Wie weiter?« zu einem Dreh- und Angelpunkt des russischen politischen Diskurses, der teils im Richtungsstreit innerhalb der neuen Partei, teils außerhalb beziehungsweise an deren Rand geführt wurde. Dieser Kampf um Ideen war kein offener Wettbewerb, sondern ein Wettbewerb mit zunehmend eingeschränkten nichtstaatlichen, dezentralen Ressourcen. Der Aufschwung der konservativen Ideologie steht im engen Kontext mit dem Übergang von der »gelenkten« zur »souveränen« Demokratie, die der neue junge Chefideologe und frühere PR-Mann Chodorkowskijs, Wladislaw Surkow, konzipierte. Surkow verlieh auch der Partei Einiges Russland das Etikett einer »konservativen« Partei. Die die zunehmend an Bedeutung gewinnende Förderung einer »loyalen« Zivilgesellschaft spielt für Entstehen und Vergehen von Initiativen, Instituten und Plattformen eine erhebliche Rolle.
Zu den ersten Initiativen, die den Aufschwung des Konservatismus in Russland ab 2003 markieren, gehört die Gründung des Seraphim-Klubs (»Serafimowskij klub«) im Umkreis der Zeitschrift »Experte« und dessen »Memorandum: Von der Politik der Angst zur Politik des Wachstums«, das am 15. Januar 2003 in Wedomosti, der wichtigsten liberalen Wirtschaftszeitung Russlands, erschien. Gründer und Autoren des insgesamt als »liberalkonservativ« eingeschätzten Klubs waren der damalige Chefredakteur von »Experte«, Walerij Fadejew, und Alexandr Priwalow, der heute als Generaldirektor des Journals fungiert. Mit von der Partie war auch der bekannte Fernsehjournalist Michail Leontj‘ew.
Ungefähr zur gleichen Zeit gründen Journalisten um Jegor Cholmogorow und den Politologen Michail Remisow den »Konservativen Presseklub« (KPK). Beide gehören, wie das Gros der neuen Konservativen, der spätsowjetischen Generation an, die zu der Zeit, als die Sowjetunion zerfiel, junge Erwachsene bis Anfang 30 Jahre waren. Deren neue Zeitschrift »Der Konservative« musste aber mangels Finanzierung bald wieder eingestellt werden. Langlebiger erwies sich die Gründung der Plattform »pravaya.ru« im Jahre 2004, die rasch zum zentralen Medium des »Orthodoxen Neokonservatismus« wurde.
Im Frühjahr 2006 verfasste Cholmogorow zusammen mit weiteren Politologen und Publizisten die »Imperative der nationalen Wiedergeburt«, die in sieben Punkten zur Bildung einer Nationalkonservativen Union aufrief. Der Text wurde auf der Plattform pravaya.ru veröffentlicht. Zentraler politischer Spieler hinter diesem Aufruf war Sergej Baburin, der die Gründung einer neuen, unabhängigen Partei rechts neben den bestehenden Parteien vorbereitete, darin aber vom Kreml gestoppt wurde. Der Aufruf wird deshalb mitunter auch als »Manifest der Nationalkonservativen Union« bezeichnet. Im gleichen Jahr entstand auch das Manifest des »Russischen politischen Konservatismus«, an dem wieder Remisow maßgeblich beteiligt war und das auf APN veröffentlich wurde.
Während die beiden Manifeste – »Imperative der nationalen Wiedergeburt« und »Russischer politischer Konservatismus« von 2006 – eher in Konkurrenz oder am Rande der Partei Einiges Russland formuliert wurden und vermutlich keine Rolle für die innerparteiliche Debatte spielten, standen zwei weitere Manifeste aus den Jahren 2005 und 2007 als programmatische Grundlage der Partei zumindest kurzfristig in der Diskussion. Dabei handelt es sich zum einen um das »Russische Manifest« (»Russkij manifest«) oder »Russische Projekt« des »Zentrums für sozialkonservative Politik«, eines zwei Jahre zuvor unter Leitung des Politikers Boris Gryzlow gegründeter Think Tanks der Partei Einiges Russland. Das »Russische Manifest« wurde im Februar 2007 publiziert und bildet die Grundlage für eine 2011 im Rahmen der Partei gegründeten »Sozialkonservativen Union«.
Der umfangreichste Entwurf, der den Rahmen eines Manifests gänzlich sprengt, stammt aus der Feder des 2005 gegründeten Zentrums und späteren »Instituts des dynamischen Konservatismus«. Zwischen 2005 und 2007 erarbeitete und diskutierte ein breiter Kreis von Autoren das rund 800 Seiten starke Buch »Russische Doktrin – eine Waffe des Bewusstseins«. Auf der Webseite des Instituts wird es bis heute als Schlüsseldokument für die Bildung einer »neuen Generation von Konservativen« präsentiert. Zu den Hauptautoren gehören die beiden Gründer des Zentrums, der der Orthodoxie nahestehende Philosoph Witalij Awerjanow und der Ökonom Andrej Kobjakow, sowie der Publizist Wladimir Kutscherenko, der unter dem Pseudonym Maxim Kalaschnikow in hoher Frequenz populistische Streitschriften verfasst. An der Doktrin haben zudem wieder Cholmogorow, Remisow und Leontjew mitgeschrieben. Ebenso wirkte einer der bekanntesten russischen Ökonomen, Michail Chasin, mit, der bereits 2003 zusammen mit dem Zentrumsgründer Kobjakow und einem weiteren Autor ein in Russland einflussreiches Buch verfasste, das die Weltwirtschaftskrise von 2007/08 vorhersah und das Ende der »Pax Americana« prognostizierte.
Die »Russische Doktrin« bildet einen gewissen Endpunkt der Experimentierphase, weil sie versucht, eine Synthese des neuen russischen Konservatismus zu liefern, ohne für sich zu beanspruchen, eine in sich geschlossene Theorie zu sein. Dieser Syntheseversuch reicht von der Formulierung philosophisch-theologischer Grundlagen bis zu detaillierten Reformvorschlägen in fast allen zentralen Bereichen des russischen Staates. Die »Doktrin« gewann im Übrigen auch deshalb an Gewicht, weil sie eine Weile das wohlwollende Interesse des späteren Patriarchen Kirill fand, der sich an den Diskussionen beteiligte.
Modernisierung und Geopolitik im Neuen Konservatismus
In der westlichen Öffentlichkeit wird der neue russische Konservatismus vor allem mit Putins Auftritten zu Beginn seiner dritten Amtszeit ab 2012 assoziiert, bei denen der alte-neue Präsident der Welt einen Katalog universeller konservativer »Werte« wie (heterosexuelle) Familienwerte, traditionelle Religion, Patriotismus und staatliche Souveränität präsentierte. Dieser vorgebliche Rückzug auf dauerhafte, »traditionelle« Werte verdeckt indes eher seinen Charakter als situative Gegenbewegung zu den »progressiven« Ideologien, vor allem zum Liberalismus beziehungsweise Neoliberalismus. In den genannten Manifesten spielen diese »Werte« eine auffällig nachgeordnete Rolle. Das, was die neuen Konservativen primär umtrieb, war nicht die Dekadenz des Westens, sondern die Frage nach einem eigenständigen politischen Kurs Russlands. Vor allem in den drei weiter unten ausgeführten Manifesten bildet die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik das Grundthema.
Im »Memorandum: Von der Politik der Angst zur Politik des Wachstums«, das am 15. Januar 2003 in Wedomosti erschien, ist das Grundthema »Modernisierung und Geopolitik« noch wenig ideologisch aufgeladen. Dem »Russischen Manifest« der Sozialkonservativen in der Partei Einiges Russland von 2007 sieht man seinen politisch-instrumentellen Zweck an. In kräftigen Worten werden die Zerstörung der »ideologischen Basis« des Staates, von Verwaltung, Wissenschaft und Bildung und der Verfall der sozialen Infrastruktur des Landes beklagt, die zu einer »Systemkrise im Inneren« unter Bedingungen »äußerer Bedrohung« (hier noch allgemein als Bedrohung durch eine globale Krise) geführt hätten. Trotz der drastischen Worte kommt Elitekritik jedoch nur als Kritik an den Liberalen vor, die trotz der Katastrophe der 1990er Jahre das »soziale Experiment« des Wirtschaftsliberalismus fortsetzen wollten.
Die Verknüpfung von Modernisierung und Geopolitik ist in der »Russischen Doktrin« sehr präsent. Mit der Wahl des Begriffs »dynamischer Konservatismus« zielen die Autoren bewusst auf die Ausformulierung einer auf Tradition aufbauenden Bewegungsideologie im Sinne Freedens. Rückbezug auf Tradition dient nicht der Wiederherstellung eines vergangenen Zustands (weder der traditionellen Autokratie noch der Sowjetunion). Man gibt sich betont anti-revolutionär (das heißt, Revolution als radikaler Bruch mit der Tradition wird als zentrales Übel in der russischen Geschichte abgelehnt) und restaurativ (Wiederherstellung der angestammten Rolle Russlands in der Welt). In seinen Gesellschafts- und Weltentwürfen und in seiner Elitekritik ist die Doktrin aber zugleich radikal. Wie Modernisierung und Geopolitik im neuen russischen Konservatismus zu einer Gegenbewegung verknüpft werden, sieht man hier besonders deutlich: Eine geopolitische Neupositionierung Russlands gilt als erforderlich, um die äußeren Modernisierungsblockaden durch die neoliberale Globalisierung unter US-amerikanischer Hegemonie und das aufoktroyierte liberale Wirtschaftsmodell zu beseitigen.
Die »Russische Doktrin« folgt der Idee von Russland als einer eigenständigen Zivilisation, die auf der Orthodoxie basiert. Während die »konservative Inanspruchnahme der Religion« kein exklusiv russisches Phänomen ist, ziehen die Autoren der Doktrin daraus einige spezifische Konsequenzen: Erstens wird die orthodoxe Wirtschaftsethik für die neue Phase »postindustrieller« Entwicklung und für einen sozialen Konservatismus als hervorragend geeignet angesehen. Zweitens wird mit der Orthodoxie als autochthoner »Kraft« der russischen Zivilisation deren Konzeption des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat übernommen: Die »Symphonia« des Geistigen und Politischen (auch als Definition des »dynamischen Konservatismus« eingeführt) wird unter das Primat der Politik gestellt. Gleichzeitig wird das westliche Konzept der Trennung von Staat und Nation abgelehnt. Drittens wird auch die prätendierte geopolitische Mission Russlands mit der Orthodoxie verknüpft. Die Orthodoxe Kirche sei als einzige russische Institution im ganzen postsowjetischen Raum präsent und somit in der Lage, dort den Einfluss Russlands neu festigen zu helfen. Dabei verstehen die Autoren Rechtgläubigkeit nicht bloß als eine Konfession (das sei zu äußerlich) oder Kirche, sondern als eine »soziale und nationale Existenzweise«, was auch eine »rechtgläubige Säkularisierung« einschließt – eine Säkularisierung, die anders als in der europäischen Aufklärung nicht als Bruch mit der Religion auftritt, sondern deren moralischen und kulturellen Kern tradiert.
Politische Konstellationen ab 2012
Laut Andrei Yakovlev, einem profunden Analytiker der russischen Wirtschaft und politischen Elite, veränderten zwei Einschnitte die politische Konstellation, noch bevor sich 2014 der Konflikt mit den USA und der EU um die Ukraine zuspitzte (s. auch Yakovlevs Beitrag in dieser Ausgabe, S. ##). Den ersten Einschnitt stellt die globale Finanzkrise dar, die die Schwächen des sich seit 2003 entwickelnden Modells von Staatskapitalismus, basierend auf großen Staatskonzernen und der föderalen Bürokratie, aufzeigte. Der zweite geht vom »Arabischen Frühling« und den Protesten im Inland gegen den Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen 2011 aus. Diese Ereignisse stärkten die Position des Sicherheits- und Militärapparates innerhalb der Machtelite weiter und führten offenbar Putin zu der Einschätzung, dass der Kurs einer »konservativen Modernisierung« für den Machterhalt und als Wirtschaftsprogramm unzureichend ist.
Die Neuaufstellung der Kreise und Zirkel des russischen Konservatismus ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Der Isborsker Klub und die Stiftung ISEPI mit ihren »Heften über Konservatismus« bilden zwei neue Zentren, deren Personal sich nur wenig überschneidet. Beide Initiativen sind mit anfänglicher Unterstützung der Administration des Präsidenten entstanden. Beträchtliche Mittel flossen in die Webseiten und Medienpräsenz. Die politischen Gewichte wie das konservative Profil unterscheiden sich indes klar. Während der Isborsker Klub eine Bündelung wirkmächtiger Propagandisten politisch-gesellschaftlicher Veränderungen ist und im Spannungsfeld zur politischen Macht steht, versuchen die Herausgeber der Hefte einen auf den ersten Blick, moderateren russischen Konservatismus philosophiegeschichtlich zu begründen und gleichzeitig international bündnisfähig zu machen. Damit tritt ein vermeintlicher Wertkonservatismus gegenüber den politischen Forderungen in den Vordergrund.
Der neue Konservatismus im Spannungsverhältnis zur Politischen Macht
Externe Beobachter deuten den neuen russischen Konservatismus mitunter als erneute Etablierung einer Staatsideologie, die die alte kommunistische Staatsideologie ersetzt und Bestrebungen nach einer Restauration der Sowjetunion mit vorsowjetischen Traditionsbeständen verknüpft. Konservatismus und Putinismus erscheinen als ein und dasselbe. Andere betonen vor allem den »rein instrumentellen Charakter« der konservativen Ideologie für Putin, die vornehmlich als innen- und außenpolitisches Legitimationsmittel dient (einschließlich der Disziplinierung der eigenen Eliten). Ein neues »Potemkin’sches Dorf« werde gebaut, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den sozialpolitischen und ökonomischen Problemen des Landes abzulenken. Die zunehmende Ideologisierung der russischen Gesellschaft von oben und der dabei auf unterschiedlichen Ebenen freigesetzte Eifer ließen sich als Belege für beide Argumente lesen.
Die instrumentelle Beziehung der politischen Macht zur Ideologie sollte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass der neue russische Konservatismus tatsächlich eine Gegenbewegung zu Sozialismus und Liberalismus im Sinn Mannheims und Freedens darstellt. Deren intellektuelle Protagonisten gehören zu den späten Kohorten der »sowjetischen Generation«, die zwischen 1960 und Ende 1970 geboren wurden und damit ihre primäre Bildungssozialisation noch in der Sowjetunion erlebt haben, aber den Hauptteil ihres beruflichen Lebens nach 1989 verbringen und Erfahrungen dieser Zeit verarbeiten. Diese »Ideologieproduzenten« wurden zwar teil- und vielleicht auch nur zeitweise in die Elite kooptiert, sind aber keineswegs bloße Erfüllungsgehilfen des politischen Establishments.
Der neue russische Konservatismus ist weder ein in sich geschlossenes Denkgebäude, noch lassen sich distinkte Strömungen klar abgrenzen. Stattdessen überwiegen einige Grundthemen, die unterschiedlich rekombiniert und akzentuiert werden. Die Abstoßungsbewegung vom Liberalismus in seiner zeitgenössischen Form – vom neoliberalen Wirtschaftsmodell und von der liberalen Wettbewerbsdemokratie – steht im Zentrum des neuen russischen Konservatismus. Beides wird als Weg zu einem »abhängigen (liberalen) Kapitalismus« (wie er sich in Ostmitteleuropa herausgebildet hat) und in die geopolitische Bedeutungslosigkeit abgelehnt. Es geht um ein anderes Modell politischer Ökonomie, national wie international, um effizientere Staatlichkeit und (zumindest in der Anfangsphase) gerechtere Verteilung, ohne die Marktwirtschaft aufheben zu wollen. Das macht aus meiner Sicht einen wesentlichen Teil seiner Attraktivität aus. Ziel ist also weder eine Rückkehr der Sowjetunion noch einfach die Restauration eines traditionellen Imperiums. Die Vehemenz des Modernisierungsproblems unterscheidet die neuen russischen Konservativen von den philosophisch-kulturologischen Neo-Eurasianern der 1990er Jahre. Erst mit weiterer Radikalisierung rückt die geopolitische Komponente im neuen konservativen Denken in den Vordergrund, und die Auseinandersetzung mit der inneren Situation tritt zurück.
In der Forschungsliteratur werden die neuen russischen Konservativen häufig als »Nationalkonservative« oder Nationalisten bezeichnet. Dies entspricht ja zum Teil auch der Selbstbezeichnung, verdeckt aber das traditionelle Spannungsfeld von Nation und Imperium im russischen Denken, das eben deshalb einen ethnisch oder rassisch geprägten Nationalismus ablehnt. Viele der neuen Konservativen wenden sich mit diesem Argument gegen ein klassisches europäisches Nationalstaatskonzept und bleiben dem Zivilisationskonzept verhaftet, das eine widersprüchliche Spannung zum sich universell gebenden Wertekonservatismus schafft, der ab 2012 an Bedeutung gewinnt.
Mit den US-amerikanischen »Neocons«, die mit Bush Jr. an die Macht kamen und in der Experimentierphase eine wichtige Reflexionsfolie für die neuen russischen Konservativen bildeten, teilen sie zwar ein Denken in geopolitischen Kategorien. Die US-amerikanischen »Neocons« haben aber weder das Problem nachholender Modernisierung, noch ist das amerikanische Staatsverständnis mit der russischen Idee vom »Staatsvolk« vereinbar. Letztlich lehnen die neuen russischen Konservativen die spezifische Kombination von Konservatismus, Neoliberalismus und libertärem Denken der »Neocons« ab.
Die kritische Grundhaltung gegenüber der westlich dominierten Globalisierung und der Rückzug auf die »Nation« als Wirtschafts- und Schutzraum teilen die russischen Konservativen mit europäischen Globalisierungs- und EU-Kritikern. Dabei verweigern sie sich bewusst einer Links-Rechts-Zuordnung, die die Fremdzuschreibung als »rechtsextrem« schwierig macht. Erst durch die zunehmende Aufladung mit »universellen« konservativen Werten bewegt sich der neue russische Konservatismus im europäischen Richtungsspektrum klar nach rechts. Die kulturellen Unvereinbarkeiten der europäischen Linken und Rechten im Hinblick auf die angebotenen klassisch »modernen« oder »europäischen Werte« scheinen die neuen russischen Konservativen in der Suche nach Bündnispartnern jedoch nicht weiter zu beeindrucken. Ob und inwieweit für die europäischen Rechten dieses Angebot attraktiv ist, hängt indes wieder stark von ihrer geopolitischen Positionierung ab. So mag sich Marine Le Pen von Putin finanziell unterstützen lassen und dabei dessen geopolitische Ambitionen billigend in Kauf nehmen. Für die polnischen National- und Sozialkonservativen um Jarosław Kaczyński werden jedoch ideologische Gemeinsamkeiten mit den neuen russischen Konservativen kaum ausreichen, um ein Bündnis zu schmieden.
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