Einführung
Die jüngste Nachricht, dass Russland die von den Strukturen der Separatisten in der Ostukraine ausgestellten Pässe anerkennt, hat weltweit in den Medien Beachtung gefunden. Die Anerkennung von Ausweisen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sind der »Washington Post« vom 18. Februar 2017 zufolge »ein umstrittener Schritt, der Moskau einer de facto-Anerkennung der abtrünnigen Republiken näher bringt«. In Russland wird das als eine »technische Frage« betrachtet, die in Russland der Angleichung der Rechte von Migranten aus diesem Teil der Ukraine dienen soll. »Etwas irgendwie Politisches kann ich hier nicht erkennen, von einer Anerkennung kann hier keine Rede sein«, kommentierte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Föderationsrates, Wladimir Dshabarow, den Erlass des Präsidenten (TASS, 18. 02. 2017).
Der Erlass war zweifellos nicht »technischer«, sondern politischer Natur. Allerdings lohnt sich ein Blick aus einer anderen Richtung auf die politische Komponente des Erlasses, indem wir nämlich die Frage betrachten, wie es um die Lage der Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland bestellt ist, und was für eine Zukunft vor ihnen liegen könnte.
Die soziale und rechtliche Situation der Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland
Der bewaffnete Konflikt zwischen der international nicht anerkannten »Volksrepublik Donezk« (DNR) und der »Volksrepublik Luhansk« (LNR) einerseits sowie der Zentralregierung der Ukraine andererseits hat den südöstlichen Teil der Ukraine an den Rand einer humanitären Katastrophe gebracht. Seit dem April 2014 sind über 9.700 Menschen umgekommen und eine Vielzahl von Schulen und Infrastrukturobjekten zerstört worden (UN OCHA: Humanitarian needs overview Ukraine, 2017; <https://www.humanitarianresponse.info/system/files/documents/files/ukraine_humanitarian_needs_overview_2017_eng.pdf>). Über 1,3 Millionen Menschen sind zu Flüchtlingen geworden, von denen ein großer Teil in Russland (1,09 Millionen) und Belarus (130.000) Zuflucht suchte (nach Angaben des UNHCR von 2016). Rund 1,7 Millionen Menschen mussten in andere Teile der Ukraine fliehen. Dem »Internal Displacement Monitoring Centre« zufolge weist die Ukraine heute die weltweit achtgrößte Gruppe von Binnenflüchtlingen (internally displaced persons, IDP) auf.
Von Beginn des bewaffneten Konfliktes an trafen Tausende Flüchtlinge in Russland ein, organisiert – in das Gebiet Rostow, wo sie in Übergangslagern untergebracht wurden –, wie auch eigenständig. Aus dem Gebiet Rostow wurden die Flüchtlinge nach einem Quotensystem in verschieden Regionen Russlands gebracht. Moskau und St. Petersburg waren sehr bald für eine Registrierung als zeitweiliger Flüchtling versperrt. Unter den Personen, die als vorläufige Flüchtlinge anerkannt wurden, sind zu ungefähr gleich großen Teilen Männer und Frauen sowie zu 70 Prozent Personen im erwerbsfähigen Alter und 23 Prozent Kinder unter 15 Jahren (Stand vom 01. 01. 2016, laut der Statistikbehörde »Rosstat«)
Einer Erklärung der Leiterin der Hauptverwaltung für Migrationsfragen des russischen Innenministeriums, Olga Kirillowa, zufolge halten sich derzeit rund 2,5 Millionen Bürger der Ukraine in Russland auf, von denen rund eine Million aus dem Südosten der Ukraine stammen. Von diesen wiederum haben 442.000 um »zeitweilige Zuflucht« (wremennoje ubeshischtsche) nachgesucht; 411.000 haben eine vorübergehende Niederlassungserlaubnis beantragt, über 230.000 wollten in das »Staatlichen Programm zur Förderung der freiwilligen Umsiedlung von im Ausland lebenden Landsleuten in die Russische Föderation« aufgenommen werden und 175.000 haben ihre Unterlagen zum Erhalt der russischen Staatsangehörigkeit eingereicht (4. Januar 2017, Pressekonferenz des Innenministeriums). Unter den Personen, die im Jahr 2015 die russische Staatsangehörigkeit erlangten, waren zu einem Drittel ehemalige Bürger der Ukraine.
Auch wenn Russland diese große Anzahl Flüchtlinge aufgenommen hat, wird deren Status meist entweder als »Personen, die zeitweilige Zuflucht erhalten haben« eingestuft, oder aber in seltenen Fällen als »Vertriebene« (wynushdjonnyje pereselenzy). Den Status eines »Flüchtlings« (beshenez) haben zwischen 2014 und 2016 lediglich 688 Personen aus der Ukraine erhalten (Angaben von »Rosstat«).
Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine gibt es in Russland tatsächlich? Diese Frage ist mit Hilfe der offiziellen Statistiken nicht zu beantworten. Nach dem Zerfall der UdSSR ist Russland aufgrund der Visafreiheit, der stark entwickelten sozialen Bindungen und fehlender Sprachbarrieren eines der häufigsten Ziele für Arbeitsmigranten aus der Ukraine gewesen. Daher ist die Entscheidung für Russland als Zufluchtsland auch dadurch diktiert worden, dass die Menschen beim Beginn der Kampfhandlungen entweder sich bereits zur Arbeit in Russland befanden oder aber wussten, wohin sie fahren können.
Da die Dokumente für eine »zeitweilige Zuflucht« ständig verlängert werden müssen, schreckten viele Flüchtlinge vor dieser Ungewissheit zurück und wollten nicht nach Hause zurückkehren, selbst wenn ihre Stadt wieder unter die Kategorie »ungefährlich« fällt. Unsere Studie hat ergeben, dass viele dieser Personen lieber um eine Arbeitserlaubnis nachsuchen oder aber inoffiziell zu arbeiten begannen und für längere Zeit im Lande blieben.
Seit Beginn des Konflikts hat die Ukraine die Ausstellung von Dokumenten für Bewohner der »Volksrepubliken« in der Ostukraine eingestellt. Die meisten dieser Bewohner trafen in Russland mit Dokumenten der DNR oder der LNR ein. Dieser Umstand hat die Feststellung ihres rechtlichen Status komplizierter gemacht, weil sie dadurch unter die Kategorie der Migranten ohne Papiere fallen, was nicht selten zu einer Abschiebung führt. In anderen Fällen hatten die Flüchtlinge zwar einen ukrainischen Pass, aber Bildungsnachweise, die von den Stellen der Aufständischen ausgestellt waren. Dann hatten sie Probleme eingestellt zu werden oder sich an einer Hochschule oder einem College zu immatrikulieren.
Im Mai 2016 wurde ein Gesetz verabschiedet, das für Flüchtlinge und Personen, die in Russland zeitweilige Zuflucht erhalten hatten, den Erhalt einer Niederlassungserlaubnis erleichtert (Föderales Gesetz Nr. 129-FZ vom 1. Mai 2016). Nun können diese Personenkategorien, wie auch Teilnehmer am »Staatlichen Programm zur Förderung der freiwilligen Umsiedlung von im Ausland lebenden Landsleuten in die Russische Föderation«, eine Niederlassungserlaubnis erhalten, ohne vorher eine Aufenthaltserlaubnis ausgestellt bekommen zu haben. Die Niederlassungserlaubnis bedeutet unter anderem ein Recht auf Altersversorgung, das Recht, den Wohnort zu wechseln, Wahlrechte, das Recht auf Einstellung ohne Vorlegen einer Arbeitserlaubnis und das Recht auf Hypothekendarlehen.
Als weitere Bevorzugung von Flüchtlingen aus den Konfliktgebieten in der Ukraine hinsichtlich ihres rechtlichen Status ist zu nennen, dass ihnen der Status »zeitweilige Zuflucht« für ein ganzes Jahr gewährt wird, während ukrainische Staatsangehörige aus anderen Regionen der Ukraine sich seit November 2015 nur 90 Tage innerhalb eines halben Jahres ohne entsprechende Genehmigung in Russland aufhalten dürfen. Bei der Ausstellung der Ausweise für Personen, die zeitweilige Zuflucht erhielten, wird der ukrainische Pass einbehalten. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge nicht nach Hause fahren können, um noch Unterlagen zu holen, Verwandte zu besuchen oder nachzuschauen, ob ihr zurückgelassenes Hab und Gut unversehrt ist.
Unsere Studie hat ergeben, dass Flüchtlinge aus der Ukraine trotz dieser günstigen Vorschriften oft den gleichen Problemen begegnen, wie die anderen Migranten: Bürokratie, Unklarheit und Ambivalenz des Quotensystems und der Arbeitsbeschaffung.
Warum Russland?
Unserer Studie hat festgestellt, dass bei der Entscheidung für Russland als Zufluchtsland folgende Gründe eine Rolle spielten: 1) jemand hat Verwandte oder Freunde in Russland; 2) Notevakuation mit Hilfe russischer humanitärer Stellen aus dem Gebiet der Kampfhandlungen; 3) wirtschaftliche Motive (Hoffnung, eine Arbeit zu finden); 4) Sorge um die persönliche Sicherheit (Furcht vor Gerichtsverfahren in der Ukraine; Furcht vor Diskriminierung); 5) russische Staatsangehörigkeit bei einem der Familienmitglieder.
Die Haltung gegenüber Leuten aus den Aufstandsgebieten in der Ukraine ist oft ambivalent. Studien, die in der Ukraine durchgeführt wurden, haben in der Bevölkerung ein Misstrauen festgestellt, dass Leute aus dem Donbass die Separatisten unterstützen könnten. Von Spaltungen sind auch Familien betroffen. So verweigerten ukrainische Verwandte einer der Interviewten ihre Hilfe: »Was denn, hat man dort noch nicht alle von euch umgebracht? Haben euch die Separatisten noch nicht beschossen?« (Frau, 24 J.). Die Frau fuhr letztendlich zu entfernten Verwandten nach Kasan (Tatarstan). Eine ähnliche Geschichte hat ein anderer Gesprächspartner erlebt: »Hier [in Russland] haben wir Verwandte in Tatarstan. Sie haben darauf bestanden, dass wir kommen, weil sie sehr große Angst um unser Leben hatten, ganz anders, als jene Verwandten, die in der Ukraine lebten. Die standen wohl unter dem Eindruck der Informationen und der Medien; und die Separatisten, Terroristen und das alles… Das hat verhindert, dass sie unsere tatsächliche Lage richtig wahrnehmen« (Mann, 48 J.).
Eine der Interviewten, eine Angehörige der Separatistenmilizen, bekennt: »Als ich wegmusste, war es für mich keine Frage, ob ich in die Ukraine gehe oder nach Russland – ganz klar nach Russland. Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, auf die ukrainische Seite zu gehen […] Ich bin mit meinen Kindern und den nächsten Verwandten gekommen, weil, wenn man daran denkt, dass in der Ukraine nach mir gefahndet wird, dann hätten die vielleicht Verhöre über sich ergehen lassen müssen, und das ist sehr unangenehm« (Frau, 25 J.). Interessant ist, dass diese Frau in der Region, in der sie längere Zeit bei Bekannten lebt, keine zeitweilige Zuflucht erhielt und informell arbeitet, da sie für eine offizielle Arbeitserlaubnis nicht genügend Geld hat.
Neben den Verwandten als Motiv waren wirtschaftliche Gründe am häufigsten: »Ich habe natürlich vorgeschlagen, nach Dnipropetrowsk [in der Ukraine] zu gehen, weil er da immerhin Verwandte hat und es doch dichter an Donezk liegt; in Donezk sind auch noch Verwandte geblieben […]. Aber wir haben dann doch gedacht, dass sich die Lage nicht bessern wird. Und wir haben geschaut, wie viele Schulden die Ukraine hat, […] die Ukraine selbst begann zu zerfallen, und wird das auch weiterhin« (Frau, 25 J.
Die Interviews mit den Flüchtlingen haben gezeigt, dass sie in ihrer Mehrheit beabsichtigen, in Russland zu bleiben. Einer neueren Umfrage zufolge, die vom Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) durchgeführt wurde, haben 80 Prozent der befragten Flüchtlinge aus der Ukraine nicht vor, zurückzukehren.
»Brudervolk«
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, hat jüngst erklärt, dass er bei der Aufnahme vom Flüchtlingen, unter anderem aus Syrien, sehr auf die Hilfe Russlands hofft: »Wir schätzen die Arbeit äußerst, die Russland in Bezug auf Hunderttausende ukrainischer Flüchtlinge geleistet hat. Es wäre zu wünschen, dass auch die Bitten Zufluchtsuchender anderer Nationalität, etwa von Syrern […] auf positive Weise bearbeitet würden« (TASS, 22. Februar 2017). Die Flüchtlingspolitik erscheint höchst selektiv: So haben etwa mit Stand vom 1. Januar dieses Jahres zwei Syrer den Status eines »Flüchtlings« erhalten; 1317 weitere erhielten »zeitweilige Zuflucht«. Die Zahl der Personen aus anderen Krisengebieten, die in Russland Zuflucht fanden, ist noch geringer (Angaben von Rosstat).
Diese Selektivität entspringt geopolitischen Interessen, und darüber hinaus Vorstellungen von einer gemeinsamen Kultur und Sprache. Brudervolk – diese Wortbildung spielte in der offiziellen Rhetorik zur Hilfe für Flüchtlinge aus der Ukraine eine Schlüsselrolle. So sagte Sergej Iwanow im Jahr 2014 als Leiter der Präsidialadministration: »Was dort geschieht – ich möchte hier keine großen Worte bemühen – ist ein Bürgerkrieg, der sich zielstrebig zu einem Genozid am eigenen Volk entwickelt. Es ist klar, dass wir es mit einer humanitären Katastrophe zu tun haben. Wir aber, die regionalen und föderalen Behörden, werden natürlich reagieren und auf jede erdenkliche Art helfen. Ich wiederhole: Das sind völlig unschuldige Menschen, das ist ein Brudervolk« (Fernsehsender »Perwyj kanal, 19. Juni 2014). Auch Wladimir Putin sprach mehrfach vom »Brudervolk«.
An der Flüchtlingshilfe beteiligte sich auch die Russische Orthodoxe Kirche. Die Synodalabteilung für Wohlfahrtsfragen hat insgesamt 131 Millionen Rubel Hilfsgelder für Flüchtlinge aus der Ukraine gesammelt (Agentur für religiöse Information »Blagowest info«, 12. Januar 2016).
Es ist höchst interessant, dass während von offiziellen Stellen und der Kirche eine Rhetorik vom »Brudervolk« zu hören war, die Flüchtlingshilfe von Seiten einer Reihe von Wohlfahrtsorganisationen im Ton eines »Wir helfen Neurussland« präsentiert wurde. So wird das Kuratorium einer der größten privaten wohltätigen Stiftungen, die Flüchtlingen aus der Ukraine hilft – der Stiftung des Heiligen Wladimir des Großen – von dem Geschäftsmann Konstantin Malofejew geleitet, gegen den Sanktionen der Europäischen Union und Kanadas bestehen, und gegen den in der Ukraine ein Strafverfahren wegen Unterstützung für Terroristen eröffnet wurde (s. die Recherche von »RBC.ru«, 08. 09. 2014).
Durch die Ankunft einer riesigen Anzahl von Flüchtlingen gab es in Russland 2014 eine Welle der humanitären Hilfe und Freiwilligenarbeit. Die lokalen Behörden und die Zivilgesellschaft handelten gemeinsam und schafften es, rechtzeitig materielle und medizinische Hilfe bereitzustellen, die Kinder der Flüchtlinge in Schulen unterzubringen und in Sanatorien und Ferienlagern eine bequeme Unterkunft einzurichten. Der Staat zahlte diesen Einrichtungen 800 Rubel pro Tag und Person für Unterkunft und Verpflegung. Es wurde eine unglaubliche Arbeit geleistet; die Menschen wurden nicht der Straße überlassen.
Die Schlussfolgerung, dass allein die offizielle Rhetorik und der politische Wille zu dem Aufschwung des Freiwilligenengagements und des Mitgefühls für die Flüchtlinge geführt haben, wäre nicht zutreffend. Viele Befragte berichteten von der Großzügigkeit ihnen unbekannter Menschen, die ihnen mitunter sogar ihre Wohnung zur Verfügung stellten. Und das schlichte Mitgefühl war sehr wichtig: »2014, als wir herkamen, zeigten die Behörden stets, sagen wir mal, wie in jedem Land, eine gewisse Trägheit auf lokaler Ebene. Was aber die Haltung der Menschen angeht, da waren wir einfach von der tiefgreifenden Güte der Leute vor Ort, der Kasaner, sehr bewegt. Wenn die Leute einen kleinen Akzent hörten und fragten: ›Sie sind wohl nicht von hier… Woher kommen Sie denn…?‹ Und wenn wir dann sagten: aus der Ukraine, da unterhielten sich einige, und sie hatten Tränen in den Augen wegen der Ereignisse« (Mann, 48 J.).
Im Alltag allerdings erfuhren die Zugezogenen nicht nur einen herzlichen Empfang, sondern auch Fremdenfeindlichkeit: »Irgendwie heißt es, dass alle chochly [pejorativer Spitzname für Personen aus der Ukraine; I.K.], nun ich habe es mehr als einmal erlebt, und in den sozialen Netzwerken, und einige äußern sich nicht sehr nett über Ukrainer. Na, dass [wir] Ukrainer von der Versorgung des Staates leben, dass wir Stütze kriegen, nur rumsitzen und nichts tun (Frau, 25 J.). Der typische Diskurs der Empfängergesellschaft über Migranten, die angeblich auf Staatskosten leben und der einheimischen Bevölkerung die Arbeitsplätze wegnehmen, hat in vielen Fällen auch Menschen aus der Ukraine getroffen.
Bleiben oder zurückkehren?
Eine Nachricht ist kürzlich von den Medien praktisch unbeachtet geblieben: Am 1. Februar 2017 haben die Auffanglager und -wohnheime für Personen aus der Ukraine, die in Russland Zuflucht suchen, ihre Arbeit eingestellt. Das geschah trotz Awdijiwka und der anhaltenden Kämpfe. Das Problem der Flüchtlinge aus der Ukraine verschwand bereits 2015 ganz allmählich aus den Schlagzeilen der landesweiten Medien. Die nichtkommerziellen Organisationen räumen ein, dass es jetzt schwieriger geworden ist, humanitäre Hilfe zu mobilisieren. Die Anerkennung der Ausweise der DNR und der LNR sowie das erleichterte Verfahren für Menschen aus der südöstlichen Ukraine zur Erlangung der russischen Staatsangehörigkeit oder einer Aufenthaltsgenehmigung erleichtern nicht automatisch das Problem der sozialen Eingliederung oder schlichtweg des Überlebens. Der Bürokratiedschungel bei der Erlangung eines rechtlichen Status, das Fehlen eines »Airbags« in Form von Sozialleistungen oder die Bedingungen der provisorischen Unterkunft bringen Hunderttausende in eine qualvolle Lage.
Darüber hinaus ist anzunehmen, dass es hier um eine Fahrt ohne Rückfahrkarte geht; die Menschen haben einfach Angst zurückzukehren, selbst wenn sich die Lage stabilisiert. Die Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft hat praktisch dazu geführt, dass die Flüchtlinge hinsichtlich ihrer Staatsangehörigkeit und Zugehörigkeit widersprüchliche Gefühle hegen. Wenn sie sich für ein Leben in Russland entscheiden, wurden sie davon geleitet, dass sie nichts zu verlieren haben. Das ist sehr beunruhigend: Wer wird die Gebiete Donezk und Luhansk wieder aufbauen? Wer wird zur zivilen Stütze eines Friedensprozesses, wie wird die Integration jener geschehen, die dennoch in die Ukraine zurückkehren? – Diese Fragen verlangen größte Aufmerksamkeit.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder
Dieser Beitrag wurde im Rahmen eines Projektes verfasst, das mit Mitteln der British Academy gefördert wird. Die Studie der Autorin beinhaltete Interviews mit Flüchtlingen aus der Ukraine, Vertretern der Zivilgesellschaft und der Behörden in Kasan und Moskau.