Soziale Gegensätze und autoritäre Führung
Die Grundlinien des politischen und sozialen Systems Russlands sind hinlänglich bekannt und oft genug beschrieben worden. Die Gesellschaft ist gespalten in Arm und Reich. Eine kleine Minderheit von Politikern, Beamten und Großunternehmern verfügt über die Macht- und Kapitalressourcen des Landes, eine schwache Mittelschicht hat sich einigermaßen komfortabel einrichten können, während die Mehrheit der Bevölkerung ein Leben knapp oberhalb der Armutsgrenze führt. Die sozialen Gegensätze sind groß und den meisten Russen nur allzu bewusst. Ein Präsidialsystem, das die Herrschaft in den Händen der Exekutive konzentriert, hat seit den neunziger Jahren garantiert, dass die ungleiche Verteilung von Macht und Vermögen nicht in Frage gestellt wird.
Es muss als eine der großen politischen Leistungen der Putin-Administration gewürdigt werden, dass sie es erreicht hat, die Masse der Bevölkerung von der politischen Teilhabe auszuschließen, ohne dass es zu sozialen Unruhen gekommen ist. Durch die Garantie einer sozialen Grundabsicherung, eine Kontrolle der wichtigsten Medien und patriotische Mobilisierung ist es gelungen, einen gesellschaftlichen Konsens zu erzeugen, der dem politischen System Legitimität verleiht. Der repressive Apparat steht bereit, ist bisher aber nur in Einzelfällen eingesetzt worden. Herrschaft basiert in Russland in erster Linie auf Akzeptanz, nicht auf Repression. Die Person Putin ist ein Schlüsselelement dieses politischen Arrangements. Sie wird von der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit als glaubwürdig akzeptiert. Auch die politischen und ökonomischen Eliten erkennen die Autorität des Präsidenten an und sehen ihn als vertrauenswürdigen Mediator bei internen Interessenkonflikten.
Ein Erstarken demokratischer Kräfte in der Gesellschaft, ihre Selbstorganisation, das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit, die sich der Kontrolle durch die Obrigkeit entzieht, stellt für das politische Arrangement, das den status quo garantiert, eine Gefahr dar. Die »farbigen Revolutionen« im postsowjetischen Raum, insbesondere die »orangene Revolution« in der Ukraine werden von der russischen Führungsschicht folgerichtig als Bedrohung empfunden. Die politische Krise des Winters 2011/12, als es in Moskau zu Massendemonstrationen kam, hat die Sorge vor einem Umsturz verstärkt. Daher geht die Putin-Administration seit Mai 2012 mit Härte gegen Oppositionelle und politisch relevante Nichtregierungsorganisationen vor, die sie als Bedrohung versteht. Indes verschafften der neue Nationalismus und die Aneignung der Krim dem Regime einen starken Rückhalt in der Gesellschaft. Die innenpolitische Lage ist damit vorläufig stabilisiert.
Doch die Wirtschafts- und Finanzkrise, die im wesentlichen dem Einbruch der Ölpreise im Herbst 2014 geschuldet war, wirkt sich negativ auf die Einkommen und die Versorgungssituation der Durchschnittsbevölkerung aus, sie reduzierte auch die Ressourcen, auf die die konkurrierenden Elitengruppen zugreifen konnten und führte dort zu verschärftem Wettbewerb. Allein die Person Putin garantiert in dieser Situation den Fortbestand des politischen Arrangements. Putins Amtszeit läuft allerdings im März 2018 aus. Der Präsident hat sich noch nicht erklärt, ob er abermals antritt. In jedem Fall braucht er (oder sein potentieller Nachfolger) aber einen effizienten Apparat, der der Administration in Moskau ergeben ist und vor Ort die Wähler für den richtigen Kandidaten mobilisieren kann. Die Dumawahlen im September 2016 haben gezeigt, dass der Apparat zwar die Wahlergebnisse kontrollieren kann, dass aber die Mobilisierung besonders in den Großstädten nicht funktioniert.
Aus diesem Grund, und weil die Putin-Administration die Ziele, die in den Mai-Erlassen von 2012 formuliert worden waren, nicht erreicht hat, konzentriert sich die Putin-Administration nun darauf, das gesellschaftliche Management zu verbessern und die Zusammenarbeit der politischen Institutionen im Zentrum und in den Regionen neu zu ordnen. Ziel ist es offenbar, den politischen Apparat für die Präsidentenwahlen im März 2018 und die neue Amtszeit des Präsidenten stabil und leistungsfähig zu machen. Mittelfristig führen die personellen Umstellungen möglicherweise allerdings auch zu Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Führungszirkel und in der Konsequenz auch zu einer Veränderung des politischen Arrangements.
All the President’s Men
Im Laufe der Jahre 2016 und 2017 traf der Präsident eine Reihe von Personalentscheidungen, sowohl in der Zentrale wie in den Regionen (vgl. Tabelle 2 auf S. 14–17). Bis zur Sommerpause 2016 ging es dabei vor allem darum, in einer Reihe von Föderationssubjekten rechtzeitig vor dem »allgemeinen Wahltag« am 16. September die Gouverneure bzw. die regionalen Oberhäupter zu bestätigen bzw. auszutauschen. So traten in Tula, in der Transbaikalregion und im Gebiet Twer die Führungspersonen zurück. An ihrer Stelle ernannte der Präsident kommissarisch Personen, die sich im September mit Amtsbonus zur Wahl stellen konnten. So traten in Tschetschenien, Uljanowsk und Tuwa die Amtsinhaber zurück, um gleich wieder vom Präsidenten mit der Wahrnehmung der Leitungsfunktionen betraut zu werden und im September dann zur Wahl anzutreten. All das ist nichts Besonderes, sondern entspricht einer lange geübten Praxis bei der Führung der Föderationssubjekte durch die Präsidialadministration.
Ein gravierender Einschnitt war hingegen die Reorganisation der Sicherheitsorgane im April 2016. Zwei Agenturen – die Föderale Drogenkontrollbehörde und der Föderale Migrationsdienst wurden in das Innenministerium (MWD) überführt. Die »Inneren Truppen«, die bisher dem MWD unterstanden, wurden nun als »Nationalgarde« direkt dem Präsidenten unterstellt. Wenig später wurde Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka in seinem Amt bestätigt und der Direktor des Föderalen Dienstes für Bewachung (der für den Schutz des Präsidenten zuständig ist) ausgetauscht. Der ohnehin starke Einfluss des Präsidenten auf den Justiz- und Sicherheitsbereich wurde damit weiter gestärkt.
Eine gewisse Aufmerksamkeit verdient der Umstand, dass im Rahmen dieses Revirements Viktor Iwanow, ein Geheimdienstler und alter Petersburger Weggefährte Putins, seine Position verlor. Er wurde auch nicht mit einer anderen angemessenen Funktion abgefunden. Stellt man das in den Zusammenhang der Ablösung Wladimir Jakunins als Präsident der Russischen Eisenbahnen, der ebenfalls als ›alter Petersburger‹ galt und im August 2015 sein Amt einbüßte, ohne – wie er anstrebte – mit einem Posten im Föderationsrat belohnt zu werden, dann könnte man spekulieren, dass nun die Generation, die in den 90er Jahren mit Putin aufgestiegen ist, ausgedient hat und »aufs Altenteil« geschickt wird.
Im Sommer und Herbst 2016 drehte sich das Kaderkarussell weiter. Zwischen Ende Juli und Anfang November kam es zu weiteren Umsetzungen in den Regionen, aber auch zur Neubesetzung zentraler Positionen in der Präsidialadministration, in den Parlamenten und in der Regierung. Ein Moment bei der Personalreform war sicher die Beseitigung von »Schwachstellen«, die Absetzung von Gouverneuren, die politisch unliebsam waren wie Nikolaj Belych in Kirow, oder eines Ministers wie Liwanow, der seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Aber in dem Revirement wurden auch andere Ideen erkennbar. Die Beratungsagentur »Mintschenko konsalting« hat drei Trends identifiziert:
Die Ablösung der »alten Garde«. Wichtigstes Ereignis war in diesem Kontext der Rückzug Sergej Iwanows, des langjährigen Freundes und Vertrauten Putins, vom Posten des Leiters der Präsidialadministration. Mintschenko merkt an, dass innerhalb des Apparats die Erwartung groß war, dass dieser Prozess fortgesetzt würde. Diese Erwartung wurden wenigstens teilweise erfüllt. Der Erste Stellvertretende Leiter der Präsidialadministration, Wjatscheslaw Wolodin, wechselte zum Vorsitz der Duma und nahm eine Reihe seiner Mitarbeiter mit. Sein Nachfolger, Sergej Kirijenko, brachte eigenes Personal mit, so dass es in der Präsidialadministration und im Apparat der Duma zu umfassenden Personalveränderungen kam.Die Verstärkung der Korruptionsbekämpfung, die auch in Elitenkonflikten genutzt wurde. In diesen Kontext stellt Mintschenko insbesondere die Personalveränderungen in den Machtapparaten. Doch auch die Korruptionsvorwürfe gegen Wirtschaftsminister Uljukajew, der am 15. November 2016 abgesetzt und angeklagt wurde, passen in diesen Zusammenhang.Deutliche Veränderungen in der Zusammensetzung der Duma. Das hatte sich bereits während der Kandidatenaufstellung in den »prajmeris« (den Vorwahlen, nach dem Englischen »primaries«) abgezeichnet, als in den einzelnen Regionen die vorhandenen Interessengruppen miteinander um die Dumamandate konkurrierten.
In der zweiten Hälfte 2016 wurde also die politische Führungsstruktur tiefgreifend umgestaltet. Die ›alte‹ Führungsriege wurde teilweise abgelöst (Sergej Iwanow, Viktor Iwanow), die Schlüsselpositionen der Apparate wurden nun von jüngeren Funktionären übernommen, die erst nach dem Ende der Sowjetunion aufgestiegen waren und sich eher als Technokraten und Manager denn als Ideologen verstanden. Allerdings verblieben genug Angehörige einer älteren Generation von Geheimdienstlern in wichtigen Positionen. Der frühere Direktor des Inlandsgeheimdienstes, Nikolaj Patruschew, behielt seinen Posten als Sekretär des Sicherheitsrates und beförderte mit Interviews über die Hinterhältigkeit und die Allmacht Washingtons das Feindbilddenken in der russischen Öffentlichkeit. Igor Setschin, der viele Jahre lang unmittelbar mit Putin zusammengearbeitet hatte, war jetzt Vorstandsvorsitzender des staatlichen Energiekonzerns Rosneft‘ und damit einer der wichtigsten Akteure in der russischen Wirtschaft. Die politische Elite des Jahres 2017, die Putin in die Präsidentenwahlen im März 2018 begleitet, wurde verjüngt und professionalisiert, sie stand aber in der Kontinuität des Putinschen Apparats.
Nachdem dieser Wechsel vollzogen war und die Führungsspitze sich gefestigt hatte, gab es ab Februar 2017 eine Fortsetzung des Personalrevirements in den Regionen und in den Sicherheitsapparaten. Diese setzten im Grunde die ›Säuberung‹ der Gouverneursebene und die Neuordnung der Sicherheitsstrukturen fort, die bereits in der ersten Hälfte 2016 zu beobachten war. Offenbar ging es darum, die relevanten Apparate für die Durchführung der Präsidentenwahlen und die effiziente Führung in der nächsten Amtszeit aufzustellen.
Entscheidungsfindung – Entscheidungsprozesse
Die Personalpolitik des letzten Jahres wirkt konsequent und wohldurchdacht. Das wird auch von russischen Beobachtern so wahrgenommen. Es stellt sich die Frage, ob bei diesem Revirement neben dem Ziel, effizientes politisches Management aufzubauen, noch andere Überlegungen eine Rolle spielten.
Der Politikberater Gleb Pawlowskij, der lange Jahre für Jelzin und Putin gearbeitet hat, beschreibt die Entscheidungsfindung der Putin-Administration in den Jahren nach 2012 folgendermaßen:
»Putin hat oberhalb des Regimes eine unerreichbare Etage errichtet, die er allein bewohnt. Einst primus inter pares, ist er über seine Umgebung hinaus aufgestiegen. Und obgleich er wie früher mit ihnen Kontakt hält, will er nicht die Verantwortung für die Entscheidungen tragen. Der Präsident spielt die Rolle der Person, »die über die Hauptentscheidungen auf dem Laufenden ist«. Daher tragen alle Entscheidungen der Kremlmannschaft bedingten Charakter. […] Der Präsident ist »auf dem Laufenden«, verhält sich aber so, dass er immer sagen kann: Das habe ich nicht gewusst und so etwas habe ich nicht versprochen.«
Entscheidungen wurden innerhalb des Apparats und oft genug im Wettbewerb gefällt. Dem Präsidenten blieb das letzte Wort, doch oft genug ließ er sich von seiner Umgebung treiben. Im Apparat vermisste man einen klaren Kurs. Der »Stil der indirekten Deutung« verunsicherte das System, so Pawlowskij. Der Mord an Boris Nemzow am 27. Februar 2015 führte zu einer Krise im Führungsteam, weil Putin klar wurde, dass er nicht Herr im eigenen Hinterhof war. Folgt man Pawlowskij, so ist das Personalrevirement 2016 möglicherweise eine Reaktion auf diese Situation. Auch Nikolaj Petrow geht davon aus, dass viele Personalentscheidungen Ergebnis eines bürokratischen Infights sind, das letzte Wort aber beim Präsidenten liegt. Petrow weist auch darauf hin, dass die Liste der Posten, die durch eine Entscheidung des Präsidenten besetzt werden, deutlich länger geworden ist. Er erinnert aber auch daran, dass jede Personalentscheidung im Führungsbereich immer eine ganze Reihe von Versetzungen in den nachgeordneten Verwaltungen nach sich zieht, weil jeder ›Natschalnik‹, jeder ›Chef‹, sein eigenes Team, seine Seilschaften mitbringt. Insgesamt sieht Petrow die umfassenden Personalveränderungen der Jahre 2016 und 2017 als Vorbereitung für eine strategische Wende:
»Die Schwächung der Institutionen, der formellen wie der informellen, wie auch die Schwächung der der Personen, die Schlüsselstellungen einnehmen, indem sie durch direkte Untergebene des Präsidenten ersetzt werden – das ist weniger der Aufbau eines neuen Systems, als vielmehr eine Flurbereinigung für ein ausgreifendes Manöver, das nicht der Auffassung der Mehrheit der Eliten entspricht, die stets für den status quo eintreten.«
Das würde bedeuten, dass die Putin-Administration auf eine grundlegende Veränderung des politischen Arrangements hinarbeitet, die das Verhältnis der konkurrierenden Elitengruppen neu ordnet und zugleich die Position des Präsidenten stärkt. Das würde die Stabilität des Systems wenigstens zwischenzeitlich gefährden. Andererseits ließen sich nur so die Reformenanstoßen, die notwendig sind, um die Wirtschaft in Gang zu bringen, Konsum und Lebensstandard zu verbessern und die Akzeptanz des Regimes durch die Bevölkerung zu gewährleisten.
Mintschenko hat in seinem Papier auf die Faktoren hingewiesen, die zu einer Verschärfung der Konkurrenz der Elitengruppen führen müssen, die wiederum nur durch eine Stärkung der Rolle des Präsidenten und die Neuordnung der Einflussgruppen eingehegt werden kann:
Die Verknappung der zur Verteilung anstehenden Ressourcen (Sinken des Ölpreises);Die schwierige außenpolitische Lage, Russlands Isolierung in der G7 sowie die Belastungen durch das militärische Engagement in der Ukraine und in Syrien;Die Präsidentenwahlen im März 2018, denen notwendigerweise eine »Umverteilung der Beute« folgen wird, also der Positionen in der Regierung und der großen Unternehmen;Der Wunsch Putins, nicht ›Geisel‹ seiner Umgebung zu sein, sondern sein Wahlkampfteam und die Machtkonfiguration nach der Wahl selbst zu bestimmen.
In der Tat erfordern die Wirtschaftslage und die prekäre soziale Situation im Lande Veränderungen, die z. T. nur gegen einen Teil der Eliten durchgesetzt werden können. Eine Ablösung der ›alten‹ Elite hat 2016 begonnen. Diese Umschichtung der ›Macht‹ ist zweifelsohne ein riskantes Spiel. Derzeit ist noch unklar, ob der Elitenwechsel weitergehen wird – und es ist auch unklar, ob er zu einer politischen Wende führen wird. Petrow spricht davon, dass Russland wieder an einer Wegscheide steht: Er hält sowohl eine autoritäre Modernisierung wie auch ein Repressionsregime für möglich.
Nawalnyj und Medwedew: Meinungsmacht vor den Präsidentenwahlen
Gewiss gefährdet die Umschichtung innerhalb der Eliten den Konsens des Führungszirkels, doch ginge für die Stabilität des politischen Systems von der Auflösung der Bindung zwischen Eliten und Bevölkerungsmehrheit eine noch größere Bedrohung aus. Bis 2017 ist es – trotz der sozialen Ungleichheit und des verbreiteten Misstrauens gegenüber »Oligarchen« und »Tschinowniki« (in etwa: Bürokraten) – gelungen, die positive Haltung der Gesellschaft gegenüber der Putin-Administration zu erhalten. Die patriotische Welle nach der Einverleibung der Krim hat dazu beigetragen, die aggressive Propagierung eines Feindbilds (die »faschistische Ukraine«, das »Politbüro in Washington«, das die Verschwörung steuert, die Unterwanderung durch »den Westen«) tun das ihre dazu. Allerdings hat sich die materielle Lage der Bevölkerung in den Jahren 2015 und 2016 nicht verbessert. Proteste einzelner Gruppen wie der südrussischer Bauern oder der Fernfahrer signalisieren, dass der Unmut steigt.
Effizientes Management heißt daher auch, die Bevölkerung bei der Stange zu halten. Grundlage muss eine Gesundung der Wirtschaftslage und die Besserung der sozialen Situation sein. Hier zeichnet sich 2017 ein Umschwung ab – die ökonomischen Kennziffern bessern sich. Dennoch besteht in der Gesellschaft ein latentes Misstrauen gegenüber »der Macht« fort. Das hat sich ganz deutlich im Fall Medwedew gezeigt. Die »Stiftung zum Kampf gegen die Korruption« (FBK), in der der Blogger und Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj eine große Rolle spielt, hatte am 2. März ein 49 Minuten langes Video über den Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew ins Netz gestellt, das seinen privilegierten Lebensstil – seine »Paläste, Jachten und Weinberge« – thematisiert und unterstellt, dass Medwedew dies nicht auf ehrlichem Wege erworben haben kann. Das Fernsehen und die regierungsnahe Presse gingen zunächst nicht darauf ein. Doch das Video verbreitete sich »viral«. Es wurde auf mehreren Webseiten »gespiegelt« und immer wieder angeklickt. Allein auf YouTube verzeichnete man bis zum 10. Mai 2017 zwanzig Millionen Aufrufe. Die Administration war offensichtlich von der Reichweite des Videos überrascht. Anscheinend hatte sie angenommen, dass sie über Fernsehen und regierungsnaher Presse und durch die offensive Besetzung des Internet, die sie seit 2012 betrieben hatte, in der Lage sei, die öffentliche Meinung zu kontrollieren. Im März und April 2017 erwies es sich, dass ein Film, der verbreitete Auffassungen (»wir werden von Dieben und Gaunern regiert«) aufnimmt, den Schutzschild der Regierungspropaganda leicht durchschlagen kann, auch wenn er nur im Netz in Umlauf gebracht wird. Als die virtuelle Kritik am 26. März dann ganz konkret zu Demonstrationen in vielen russischen Städten führte, wurde der Führung klar, dass sie ein Problem hatte: Die Kontrolle über die traditionellen Medien reicht nicht aus, um das Wählerverhalten zu lenken und Protestaktionen zu unterbinden.
Die Putin-Administration muss nun zum einen überlegen, wie sie die Bevölkerung besser erreichen kann, sie muss aber auch in ihrer Personalpolitik reagieren. Es wäre eine Überlegung wert, ob sie an Dmitrij Medwedew festhalten sollte oder ob sie einen anderen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten ins Auge fassen soll.
Allerdings hat die Medwedew-Affäre noch eine andere Dimension. Wenn man fragt, woher Nawalnyjs Stiftung die umfassenden Informationen bezogen hat, so könnte dieses »leak« auch Folge einer verschärften Elitenkonkurrenz sein. In mehreren Fällen – z. B. beim Sturz des Moskauer Bürgermeisters Jurij Lushkow und bei der Absetzung des Eisenbahnpräsidenten Wladimir Jakunin – war im Vorfeld der dann erfolgten Ablösung ähnliches Material in die Öffentlichkeit gelangt. Ja, Putin selbst war davon betroffen, als der Politikberater Stanislaw Belkowskij Ende 2007 im Vorfeld des Wechsels von Putin zu Medwedew, in einer Phase verschärfter Elitenkonkurrenz, verbreitete, Putin habe ein Vermögen von 40 Mio. US-Dollar angehäuft. Wenn Nawalnyjs Angriff auf Medwedew in Wirklichkeit von Interessengruppen nahe dem Machtzentrum instrumentiert worden ist, mit dem Ziel, Medwedew aus dem Rennen zu werfen, dann hat der Elitenkonflikt schon begonnen. Allerdings würden die Hintermänner dieser Intrige mit dem Feuer spielen. Denn sie untergraben die mühsam aufrechterhaltene Glaubwürdigkeit des Regimes – und sägen damit an dem Ast, auf dem sie selber sitzen.