Ich bin Atheist. Muss ich nun dafür vor Gericht?
Wladimir Posner, Journalist (Moskau)
»Ich halte es für notwendig, Sie vorzuwarnen, dass man mich womöglich vor Gericht zerren und zu einer Haftstrafe verurteilen könnte. Für mich ist das genauso unerwartet wie für Sie, deswegen möchte ich kurz darauf eingehen.
Am letzten Donnerstag hat das Gericht des Werch-Isetskij-Bezirks von Jekaterinburg den Blogger Ruslan Sokolowskij zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung verurteilt. Er wurde u. a. der Beleidigung der Gefühle von Gläubigen für schuldig befunden. Der Richterin Jekaterina Schaponjak zufolge erfolgte die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen durch, ich zitiere: »Eine Leugnung der Existenz Gottes, eine Leugnung der Existenz der Begründer des Christentums und des Islams, Jesus Christus und Mohammed«.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass als das Gesetz über die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen vor etwas mehr als drei Jahren verabschiedet wurde, viele davor warnten, dass es zur Verfolgung von Gegnern der Kirche genutzt werden wird. Jetzt ist es passiert. Jemand leugnet die Existenz des Gottes, er ist also Atheist. Einst wurde man für die Leugnung der Existenz Gottes, also für Atheismus, mit Verbrennung auf dem Scheiterhaufen bestraft, womit sich insbesondere die »Heilige Inquisition« befasste. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es auch heuer noch Menschen gibt, die es bedauern, dass diese Methode im Kampf gegen Häresie nicht mehr angewandt wird. Ich werde keine Namen nennen, weil ich sonst aufgrund Paragraph 282 des Strafgesetzbuches belangt werden könnte, wegen des Schürens von Hass; ich komme aber nicht umhin, an die Worte des stellvertretenden Vorsitzenden der Abteilung für Missionstätigkeit des Moskauer Patriarchats, Hegumen Serapion, zu erinnern, der kommentierte, ich zitiere: »Was für ein mildes Urteil«, und der die Hoffnung äußerte, dass Sokolowskij es als Zeichen dafür wahrnimmt, »dass es in dieser Welt Barmherzigkeit gibt und es die Quelle dieser Barmherzigkeit gibt, nämlich Gott«. Wo war Gott, als Menschen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden… ist ja eine Frage.
Ich bin bekanntlich Atheist. Ich denke also, dass es keinen Gott gibt. Es ist nicht so, dass ich rumlaufe und von morgens bis abends schreie ‚es gibt ihn nicht, es gibt ihn nicht‘, aber ich verhehle meine Überzeugung auch nicht. Ich möchte aber eine erschöpfende Erklärung erhalten: Wenn man diese Ansichten predigt, verstößt man gegen das Strafgesetzbuch Russlands? Vielleicht könnte Patriarch Kirill sagen, ob ich seine religiösen Gefühle beleidige, wenn ich behaupte, dass es keinen Gott gibt? Vielleicht sagt mir der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, ob ich das Recht habe, das zu denken, was ich denke, und das auszusprechen, was ich ausspreche? Vielleicht könnte das Staatsoberhaupt hier Klarheit schaffen, ob mich ein Gerichtsverfahren erwartet und, so Gott will (das Wortspiel sei mir verziehen), ein mildes Urteil? […]«
Wladimir Posner am 15. Mai 2017 bei Pozneronline; <http://pozneronline.ru/2017/05/18894/>.
Man kann Atheist sein, muss aber auf aufpassen, wie man sich äußert
Wsewolod Tschaplin, Erzpriester der Orthodoxen Kirche (Moskau)
»Ich weiß nicht, ob ihm jemand im Namen des Heiligen Patriarchen antworten wird. In letzter Zeit scheuen kirchliche Institutionen direkte Gespräche, was ich für falsch halte. Die Antwort ist eigentlich ganz einfach: ja, Menschen dürfen ihre atheistischen Ansichten äußern; eine andere Sache ist, dass es antireligiösen Extremismus gibt und Menschen, die Gläubige beleidigen und die von ihnen verehrten Symbole entwürdigen. Genau das hat Sokolowskij getan. […] Er stand nicht wegen Atheismus vor Gericht. Die Formulierungen des Gerichts sind vielleicht nicht ganz glücklich gewählt. Atheist kann man sein; es gibt bei uns viele, und sie äußern ihre Meinungen. Wenn sie sich ruhig und korrekt äußern, kann es einen Dialog mit ihnen geben, und er wird geführt.«
Wsewolod Tschaplin am 15. Mai 2017 bei NSN; <http://nsn.fm/society/chaplin-posporil-s-poznerom-o-srokakh-za-ateizm-v-rossii.html>.
Atheisten loben ihren Sumpf, wie Faschisten den Faschismus loben
Dmitrij Smirnow, Priester der Orthodoxen Kirche (Moskau)
»Jeder Krämer preist die eigene Ware. Wer sich im Sumpf des Atheismus befindet, wird diesen loben, wie Faschisten den Faschismus loben. Wenn sich Wladimir Wladimirowitsch [Posner] zum Atheismus bekennt – bitte schön, so viel er möchte. Bei uns hat ein Teil der Akademie der Wissenschaften ihre Gottlosigkeit verkündet. Die Gläubigen haben einfach keine atheistischen Einrichtungen in die Luft gesprengt; aber die Atheisten haben allein in Moskau 350 altehrwürdige Kirchen abgerissen. Durch religiöse Menschen ist unserer Heimat kein Schaden entstanden, durch Atheisten aber jede Menge.«
Dmitrij Smirnow am 16. Mai 2017 im Interview für »nsn.fm«; <http://nsn.fm/society/protoierey-smirnov-sravnil-poznera-s-fashistom-iz-za-zashhity-ateizma.html>.
Das Urteil gegen Sokolowskij ist die effektivste antiorthodoxe Aktion seit Jahren
Stanislaw Dmitrijewskij, Bürgerrechtler, Nishnij Nowgorod
»Ich glaube, das Urteil gegen Sokolowskij ist die effektivste antichristliche und antiorthodoxe öffentliche Aktion in Russland seit Jahren. Durchaus vernünftig scheinende Freunde von mir fangen schon langsam an, den Kommissaren Sympathie entgegen zu bringen, die in den zwanziger Jahren Priester töteten und Denkmäler der Kirchenkultur zerstörten.«
Stanislaw Dmitrijewskij am 11. 2017 Mai auf Facebook; <https://www.facebook.com/stanislav.dmitrievskiy/posts/1332274270222808>.
Das sind keine Atheisten, sondern »besessene Eiferer«
Dmitrij Steschin, Journalist (Moskau)
»[…] Zum einen wollte und will niemand Atheisten ins Gefängnis werfen. Selbst besessene Eiferer wandern nicht hinter Gitter. Ins Gefängnis kommt man nicht wegen Atheismus, sondern wegen Verhöhnung. Wie die »Pussys«, die an allen möglichen Orten gespielt haben – im Gericht, auf dem Roten Platz, in der U-Bahn, auf dem Dach eines Trolleybusses, bevor sie in die Kirche zogen und sich zwei Jährchen einhandelten.
Wir sollten die Begriffe klären. Ein Atheist ist eine Person, die die Existenz eines bestimmten göttlichen Ursprungs und einer Höheren Kraft rundweg leugnen. Das heißt, ihm sind sakrale Konzeptionen gleichgültig, weswegen er sie per definitionem nicht hassen kann. Sie rufen bei Atheisten keine Wut hervor oder stoßen ihn ab. Wie kann etwas verärgern, was es nicht gibt auf der Welt? […]
In letzter Zeit aber ändern sich die Tendenzen. Neben den Atheisten gibt es nicht wenige »besessene Eiferer« in der Welt, die sich gern als »Atheisten« bezeichnen. Erstaunlicherweise sehen nur wenige den Unterschied. Besessen Eiferer sind Leute, die nicht in der Lage sind, prinzipiell die Existenz eines fremden Glaubens ruhig zur Kenntnis zu nehmen; die Konfession spielt dabei kaum eine Rolle. Ein fremder Glaube ruft bei diesen Menschen irgendeine chthonische Reaktion hervor – eine durch nichts zu rechtfertigende Wut. Eine Wut von solcher Heftigkeit, dass man sie nur mit irgendwelchen finsteren Kräften erklären kann. Die sich eines Menschen bemächtigen, über seine Vernunft und Moral die Oberhand gewinnen. Ohne »Reinigungsritual« oder stationäre Behandlung ist es unmöglich, so etwas im Kopf zu tragen – es muss herausgespült werden, sonst platzt der Kopf. Der Prozess des Wegspülens von Gehirnexkrementen und Parasiten heißt im Volksmund »Verhöhnung«, im Strafgesetzbuch aber »Tat«. Genau wegen einer solchen »Verhöhnung/Tat« wurde der Blogger Sokolowskij verurteilt; und ich bitte Sie, hier keinen Atheismus und keine Heilige Inquisition unterzumischen. Der »Bengel Sokolowskij« hat mit seinen 22 Jahren absolut bewusst gehandelt, eigennützig und mit dem Ziel, werbewirksam seinen kommerzialisierten Blog zu pushen. Er hat »Besessenheit« zu Geld gemacht! Was auch immer Herr Posner schreiben mag: Es gibt bei uns keine Heilige Inquisition. Es gibt auch keine Strafpsychiatrie – es gab keinen Anhaltspunkt, um den infantilen aber sozial zurechnungsfähigen Blogger in eine Anstalt zu sperren. Eine Verhöhnung des Glaubens straffrei zu lassen, geht auch nicht, per Gesetz – es ist nicht im Interesse der Gesamtgesellschaft. Darüber hinaus wollte Sokolowskij nicht bei den Pokemons in der Kirche haltmachen, wovon er selbst gesprochen hat. […]«
Dmitrij Steschin am 16. Mai 2017 bei der »Komsomolskaja Prawda«; <https://www.kp.ru/daily/26679/3701952/>.
Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin
(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)